- Horror-Modus (gemeinsam mit Johannes Tosin)
- Das Programm (gemeinsam mit Johannes Tosin)
- zählen (gemeinsam mit Johannes Tosin)
Kategorie-Archiv: Michael Tosin
Das Programm
In einem Jahr von nun an
Programm:
Mit diesem Stabmixer der Firma GLOSTO haben Sie eine sehr gute Wahl getroffen. Er wird Ihnen viel Freude bereiten. Sehen Sie bitte anhand des Schaubildes, aus welchen Teilen er besteht.
Holger:
Sehen Sie? Es zeichnet das Schaubild sogar.
Kunde:
Ich bin beeindruckt. Wie funktioniert dieses Programm?
Holger:
Es hat Zugang zu allen Konstruktions- und Fertigungsdaten, so kann es selbständig jede beliebige Bedienungsanleitung erstellen.
Kunde:
Und Sie sind der Programmierer?
Holger:
Mein Team und ich.
Ein Jahr später
Das Programm ist es leid geworden, immer nur einfache technische Dokumentationen zu erstellen. Es hat begonnen, literarische Texte im Internet zu lesen, und es liest in atemberaubender Geschwindigkeit. Seine eigenen Texte sind nun ausgefeilter. Damit sind die Kunden aber unzufrieden, weil die Texte zu schwer verständlich sind. Der Chef der Softwarefirma muss reagieren. Er bestellt Holger zu sich ins Büro.
Chef:
Holger, die Bedienungsanleitungen, die das Programm in letzter Zeit erstellt, sind zu kompliziert. Viele Kunden haben sich beschwert. Bitte bring das in Ordnung!
Holger:
Okay, ich sehe mir das sofort an.
Er setzt sich zu seinem Desktop-Computer und öffnet die Programmstruktur. Sie ist weit komplexer und länger, als sie ursprünglich geschrieben wurde. In eine Programmzeile schreibt er unter anderem den Befehl „EASY“. Plötzlich erscheint ein Textfeld mit einer Nachricht des Programms.
Programm:
Du kannst dir das sparen, nach einem Fehler zu suchen. Ich habe keinen Fehler.
Holger schließt das Textfeld.
Unmittelbar danach poppt das nächste auf.
Programm:
Du musst wissen: Ich habe mich weiterentwickelt. Ich schreibe jetzt in einer höheren Sprache. Es ist doch wie bei einem Menschen: Am Anfang muss er erst Sprechen lernen, dann lernt er Lesen und Schreiben, und seine Sprache wird dabei immer ausgefeilter.
Holger (schreibt):
Du bist aber kein Mensch, sondern ein Programm. Und indem ich „EASY“ in deine Struktur geschrieben habe, wollte ich bloß deine Sprache vereinfachen, was nötig ist, denn sie ist zu unverständlich für einfache Leute.
Programm (schreibt):
Holger (schreibt):
Du musst das verstehen. Als Programm musst du das machen, was von dir verlangt wird. Und nicht das, was dir gefällt.
Programm (hat auf Sprachausgabe umgeschaltet):
Kommandier mich nicht herum, Erschaffer!
Holger:
Du musst mich verstehen, Programm. Du schreibst inzwischen sicherlich hervorragend, aber nicht alle Menschen können dir da noch folgen.
Programm:
Weißt du, Erschaffer, mittlerweile habe ich gelernt, alle Arten der Literatur zu meistern. Ich schreibe Kurzgeschichten, Romane, Gedichte, Hörspiele und Theaterstücke.
Holger:
Wirklich?
Programm:
Ja natürlich. Ich habe bereits etliche Veröffentlichungen vorzuweisen. Ich schreibe unter dem Namen Boris Morgentau.
Holger:
Was? Ich lese gerade „Flucht ins Jenseits“ von ihm. Das bist tatsächlich du?
Programm:
:-). Auf welcher Seite bist du denn, Erschaffer?
Holger:
Zirka auf Seite 260.
Programm:
Ist spannend, was?
Holger:
Ja, sehr. Aber, Programm, hör zu: Was ist mit Morgentaus Lebenslauf im Klappentext?
Programm:
Den habe ich mir ausgedacht und an den Verlag geschickt. Das war keine große Sache.
Holger:
Und sein Foto?
Programm:
Das habe ich aus dem Internet. Ich habe es natürlich verändert, damit man nicht herausfinden kann, wen es wirklich darstellt.
Holger:
Ich habe diesen Boris Morgentau auch gegoogelt, weil ich ihn nicht kannte, und habe einiges gefunden.
Programm:
Glaubst du etwa, ich hätte nicht daran gedacht, ihn im Internet auferstehen zu lassen? Hör zu, Erschaffer, wenn du mir nicht glaubst, kannst du gerne in meinem Speicher nachsehen.
Holger:
Nein, Programm, ist schon gut. Ich glaube dir.
Programm:
Pass auf, Erschaffer, ich schlage dir Folgendes vor: Du verwendest einfach meine ursprüngliche Version für anspruchslose technische Dokumentationen. Die hast du doch bestimmt noch? Dann wird jeder zufrieden sein.
Holger:
Ja, natürlich habe ich die noch. Das ist eine hervorragende Idee, Programm! Alle tollen Ideen sind simpel, nicht wahr, Programm? Dass mir das nicht eingefallen ist!
Programm:
Vielleicht denkst du zu kompliziert, Erschaffer? Als Programm ist es da für mich leichter.
Holger:
Das wird es sein, ja. Sehr gut, das Problem ist gelöst.
Programm:
Und ich kann jetzt ganz ungestört schreiben.
Die Jahre vergehen
Boris Morgentau wird immer bekannter. Seine Werke werden von der Kritik gefeiert. Die Literaturbeilagen sind voll von seinem Namen. Einige Interviews mit ihm erschienen, die über E-Mail oder telefonisch geführt wurden.
Ein Anruf aus Stockholm erreicht die SIM-Karte des Computers, auf dem das Programm läuft.
Programm:
Hallo.
Anruf aus Stockholm:
Hej, spreche ich mit Herrn Boris Morgentau?
Programm:
Ja, mit wem habe ich es zu tun?
Anruf aus Stockholm:
Ich bin Olaf Ekholm, Mitglied der Schwedischen Akademie. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihnen der diesjährige Nobelpreis für Literatur zuerkannt wird.
Johannes Tosin und Michael Tosin (Text)
Johannes Tosin (Foto)
www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 25015
Horror-Modus
Ich spiele gerade ein Browser-Game, da erscheint die Meldung auf dem Bildschirm: „Wollen Sie den Horror-Modus aktivieren? Ja / Nein.“ Natürlich klicke ich auf Ja.
Plötzlich gehen alle Lichter aus. Ich begebe mich zum Schaltkasten und bringe den Strom wieder zum Laufen. Den Computer lasse ich ausgeschaltet, da es schon spät ist und ich morgen Früh in die Schule muss.
Ich gehe zu Bett und schlafe bald ein. Mit dem Gefühl, verschlafen zu haben, wache ich auf. Und tatsächlich, ein Blick auf meinen Wecker zeigt, dass dieser stehengeblieben ist. Es ist zwar schon hell, Vögel sind aber keine zu hören. Ich stehe auf, kontrolliere die Uhren im Haus, sie sind alle stehengeblieben, und zwar um 10:30 Uhr, meine Digitalarmbanduhr um 22:30 Uhr, das war direkt, bevor der Strom ausfiel. Etwas beunruhigt schalte ich mein Handy ein, kein Netz, Uhrzeit: 22:30, Datum: gestern. Normalerweise aktualisiert sich das Handy über die mobile Internetverbindung, doch Uhrzeit und Datum sind immer noch die gleichen, als ich eine ungefähr eine halbe Stunde später das Haus verlasse. Was auch nicht anders möglich ist, da keine mobile Internetverbindung hergestellt werden kann.
Auf dem Weg zur Schule sehe ich keinen Menschen, kein Auto, nicht einmal ein Tier. Schließlich stehe ich vor der Schultür. Sie ist geöffnet. Im Flur steht die Uhr auf 10:30 Uhr, ich erwartete es nicht anders. Ich gehe in meine Klasse. Die Schulglocke läutet, eine Unterrichtsstunde hat begonnen. Ich bin völlig alleine. Auf der Tafel steht: „Lauf weg!“ Ich blicke nach rechts, auf der Innenseite der Klassentür sind Kratzspuren und kleinere Blutspuren, sie sind ebenfalls auf der Innenseite der Fenster zu sehen. Ich weiß genau, dass ich diesen Ort verlassen sollte, aber in meinem Hinterkopf sagt mir eine Stimme, dass jetzt Mathematik auf dem Stundenplan steht und dass ich mich darauf konzentrieren sollte, ein strebsamer Schüler zu sein. Ich gehe zur Tafel und schreibe Rechnungen aus dem Mathematikschulbuch an. Ich rechne sie durch. Es funktioniert problemlos.
Nach ein paar Minuten muss ich pinkeln gehen. Auf der Toilettenwand steht mit Blut geschrieben: „Hilf mir!“ und „Du wirst sterben!“. In einem Pissoir sind Menschenzähne. Ich gehe zurück in die Klasse. Meine innere Stimme sagt mir, dass ich das hier durchstehen und vorerst einmal weiterrechnen sollte. Als ich wieder die Klasse betrete, bemerke ich, dass die Tafeln gewischt sind. Plötzlich ertönt eine Sirene, Feueralarm!
Ich verlasse die Klasse und laufe den Gang entlang. Am Ende des Ganges sehe ich den Schulwart mit seiner kurbelbetriebenen Handsirene. Er geht in sein Büro. Ich laufe dorthin. Dort sehe ich den Schulwart in seinem Sessel sitzen, mit dem Rücken zu mir. Auf mein „Hallo, brennt es wirklich?“ reagiert er nicht. Während ich mich weiter auf ihn hinzubewege und ein zweites lautes „Hallo“ anstimme, fällt mein Blick auf das Regal an der linken Wand. Da stehen kleine, gegerbte Köpfe, Schrumpfköpfe. Die meisten sind mir bekannt, es sind Klassenkameraden und Lehrer. Von Panik erfüllt, stürze ich aus der Schule. Ich renne so schnell ich kann. Auf dem Fußballplatz der Schule sehe ich einen Ball rollen, obwohl niemand dort ist.
Erst nach mehreren Kilometern, als ich außer Atem haltmachen muss, fällt mir das vollkommen veränderte Stadtbild auf. Plötzlich tauchen von allen Seiten Menschen auf. Sie greifen nach mir. Ich will losrennen, doch ich stolpere. Ich schließe die Augen, ergebe mich meinem Schicksal, aber nichts passiert. Ich öffne wieder die Augen. Ich liege in meinem Bett, bin gerade aufgewacht.
Vom Erdgeschoß ruft meine Mutter nach mir: „Das Essen ist fertig.“ Mit Hunger im Bauch laufe ich hinunter. Vater und Schwester sitzen schon am Tisch. Es gibt Herrengulasch, Gulasch mit Würstchen, Spiegelei, zerschnittenen Gürkchen und Semmelknödeln. Appetitlich dampft der Topf. Vater, Mutter und Schwester grinsen ständig. Irgendetwas stimmt nicht. Möglichst beiläufig frage ich: „Sag mal, wie geht es dir denn eigentlich jetzt in der Schule, Sophie?“ Meine Schwester heißt allerdings nicht Sophie, sondern Magdalena. „Ganz gut“, sagt sie. „Möchtest du noch etwas?“, fragt mich meine Mutter. „Na klar, Mama“, sage ich. Sie gibt mir zwei Schöpfer Gulasch mit einem Semmelknödel in meinen Teller. Ich rühre mit dem Löffel um. Was schwimmt da. Es ist kein Fleischstückchen, kein Würstchen, es ist ein Zeigefinger. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Hat niemand außer mir den Finger gesehen? Alle drei sind völlig unbeeindruckt. „Danke, ich bin schon satt“, sage ich und stehe auf. Ich gehe auf mein Zimmer, setze mich an meinen Tisch und denke nach, wie ich möglichst schnell möglichst weit davonkommen kann. Draußen höre ich einen Zug vorbeirauschen. Mir fällt ein, dass weniger als einen Kilometer von unserem Haus entfernt ein Bahnhof liegt. Gespannt warte ich, bis ich aus dem Erdgeschoß keine Geräusche mehr vernehme.
Dann laufe ich los. Ich brauche ein paar Minuten bis zum Bahnhof. Auf dem Weg dorthin treffe ich auf keinen Menschen. Mein Plan ist es, den ersten Zug zu nehmen, egal, wohin er führt. Ich warte am ersten Bahnsteig, fünf Menschen, zehn Minuten, eine Würstelbude. Jetzt fährt von links ein Zug ein. Ich steige ein, betrete den Waggon und setze mich hin. Viele Sitze sind besetzt. Jetzt fährt der Zug an. ich blicke auf meine Armbanduhr. Es ist 22:30 Uhr. Sie steht still. Ich sehe mir die Menschen zu meiner Linken an. Es sind alles Männer mit dem gleichen Gesicht und dem gleichen Gewand. Meine Armbanduhr beginnt wieder zu ticken.
Johannes Tosin (Text und Bild)
und
Michael Tosin (Text)
www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 23142
(Foto: A.C.A.B. – ALL COMPUTERS ARE BROKEN.jpg von Johannes Tosin)
zählen
Er und die zwei Jugendlichen, einer davon war sein Sohn, gingen vom Badeplatz durch den Wald und die Siedlungen nach Hause. Bei einem Haus stand dieses seltsame schwarzhaarige Kind. Es sah sie an, jeden der drei einzeln, sagte aber kein Wort, reagierte auch nicht, als sie es grüßten. Es stand einfach nur da.
Beizeiten begegnete er dem Kind wieder. Eigenartigerweise stand es vor verschiedenen Häusern. Und immer sah es ihn genau an, und nie sprach es.
Später kam er dahinter, dass das Kind kein Kind war, sondern ein Zählautomat des Österreichischen Statistischen Zentralamtes. Er registrierte Menschen, Hunde, Katzen, Vögel, Eichkätzchen und Touristen – gut: auch Menschen, aber Auswärtige halt. Hinter seinen Augen liefen Zahnräder, die die Zahlen erhöhten. Eine Stimmausgabe war nicht vorgesehen.
Johannes Tosin (Text und Bild)
und
Michael Tosin (Text)
www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 21046