Kategorie-Archiv: Claudia Lüer

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Auszeit

Ihre Begegnung war flüchtig, nahezu beiläufig. Schlicht, unspektakulär, und doch auf einer Seelenebene, die eine ganz besondere Tiefe erspüren lässt. Wie selbstverständlich trafen sie sich, als hätten sie sich verabredet. Um sich noch ein einziges Mal in die Augen zu sehen. Vielleicht ein letztes Mal. Nichts deutete auf eine belanglose Zufälligkeit hin. Vielmehr schien es lange geplant und doch unerwartet, vertraut und doch fremd, verbindend und doch trennend zu sein.

Für einen Moment stand die Zeit still. Als hätte jemand die Zeiger ihrer Armbanduhren festgehalten, um Schicksal zu spielen, während sich ihre Herzen einmal von innen nach außen kehrten und in sonst verborgene Tiefen blicken ließen.

Im Vorbeigehen treffen sich ihre Blicke, die eine Geschichte erzählen, Gelebtes und Ungelebtes preisgeben. Ein Lächeln, noch zurückhaltend. Erstmal abwarten. Prüfen, ob es sich in Vertrautes vortasten, Wärme verbreiten kann. Bewegungen in Zeitlupe. Innehalten. Den Moment einfangen und für immer festhalten. Vertrauten Duft einatmen. Erinnerungen wachrufen. Die vollen Lippen, leicht vorgeschoben, nicht zu viel, gerade richtig. Sinnlichkeit wecken. Der linke Mundwinkel ein kleines Stück höher als der rechte. Sein Gesicht, auch mit den Spuren des Alters, immer noch schön. Falten, die von dem Leben erzählen, das vergangen ist, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen haben. Von zwanzig langen Jahren. Fragen schießen wie Blitze durch ihren Kopf. Träumst du immer noch die gleichen Träume? Welcher Mensch steht dir so nah, dass er dich verletzen darf? Wie sehen deine Kinder aus? Was bewegt dich? Denkst du manchmal noch an uns?

Dann fliegen ihre Gedanken in diese längst vergangene Zeit, die – in ein schwarzweißes Gewand gehüllt – vor ihr steht, unverfroren anklopft, um ihr noch einmal einen kurzen Besuch abzustatten. Sie möchte eindringlich daran erinnern, dass es noch etwas gibt, das erst zur Ruhe kommt, wenn es noch einmal Beachtung findet, um mit Haut und Haar durchdrungen zu werden. Bis es sich kompromisslos einfügt, aufhört zu strampeln, in Freiheit losgelassen und ein akzeptierter Teil ihrer ganz persönlichen Geschichte werden kann.

Schlagartig wurde ihr die Dringlichkeit, den Finger in ihre tiefste Wunde legen zu müssen, bewusst. Den Schmerz noch einmal auszuhalten, ihm direkt in die Augen zu sehen, um ihn zu besänftigen. Damit sie die Zügel in der Hand halten konnte, nicht er, und endlich ihren Frieden finden würde.

Es war eine besondere Liebe, die sie damals verband. Sie kam nicht urplötzlich aus dem Nichts, um mit Macht einzuschlagen und dann monatelang den Verstand zu rauben. Vielmehr loderte ihr Feuer auf kleiner Flamme, dafür beständig, verlässlich und in einem kräftigen Rotorange, das ein solides Fundament formte und bis in die Wurzeln wärmte.

Sie kannten sich aus Kindheitstagen, und ihre Liebe war von Anfang an ganz selbstverständlich da. Stark und unanfechtbar hüllte sie ein, schützte, versicherte und schweißte nah und vertraut zusammen. Sie war Gesetz. Man musste nicht viele Worte davon machen. Sie verströmte ihren ureigenen Duft, der sie auf mystische Weise heiligsprach und unverwundbar machte. Ein Geschenk des Lebens.

Vielleicht hatten sie diese Kostbarkeit verkannt, waren zu gleichgültig und unachtsam mit ihrem wertvollen Schatz umgegangen. Hatten der Selbstverständlichkeit, die nach und nach den Glanz raubte, immer den Vortritt gelassen. Vielleicht waren sie zu jung, zu ausgehungert für eine Liebe in dieser Schlichtheit und Eleganz. Denn es kam der Tag, an dem sich das Band zwischen ihnen lockerte, weil es eine andere Beschaffenheit annahm. Jeder hatte eigene Pläne und spürte auf eine selbstbezogene, kompromisslose Art die Lust auf das Leben. Sie breitete sich aus, im Bauch, im Herzen, strömte unaufhaltsam in jede Faser und ließ unbändige Kräfte wachsen, bis das Band zwischen ihnen dünn und porös wurde, weil jeder mit Macht in eine andere Richtung zog.

So trennten sich ein erstes Mal ihre Wege. Auch wenn es schmerzte, war es notwendig. Es war wie ein innerer Ruf, dem ungefragt Folge zu leisten war und der kein Zögern zuließ. Vielleicht war ihre Liebe zu alltäglich für diesen Schritt in die Mitte des Farbkreises, auf der Suche nach sich selbst und nach seinen eigenen Grenzen. Bereit, Kostbarkeiten leichtfertig aufzugeben für einen Sprung in ein Blütenmeer, um mit allen Sinnen zu entdecken und aufzusaugen, was Leben ist. Abenteuerlich hochschießende Flammen wurden interessanter als kleinere, in Beständigkeit flackernde.

Sie hatten sich nichts vorzuwerfen. Denn nur wer sich von der Fülle betören lässt, hat wieder ein Auge für das Gänseblümchen am Wegesrand, das gerade durch seine Schlichtheit berührt und mit seiner Blüte auch für längere Zeit Freude schenkt. Was ist daran falsch, der eigenen Stimme zu folgen? Zu experimentieren, zu kosten, zu genießen und nach drei Schritten voran auch mal wieder vier Schritte zurückzugehen? Das ist Leben! Und wie tragisch wäre es doch, am Ende dazustehen und sich eingestehen zu müssen, dass die Suppe zu fad schmeckt, weil nicht die gesamte Palette des Gewürzspektrums zum Einsatz kam.

Nun, sie hatten beides. Jeder ging seinen eigenen Weg, der ihnen eine Gewürzvielfalt bot, und suchte gleichzeitig die urvertraute Nähe, die in dem jeweils anderen zu finden war. Sicherheit und Altbewährtes wirkten ausgleichend zum unvorhersehbar unruhigen Wellengang.

Es war wie ein unaufhaltsamer Sog, der sie immer wieder zusammenführte. Anfangs in Form von Briefen. Unverfängliche, formelle Geburtstagsgrüße oder Urlaubskarten, die zeigten, dass man immer noch an den anderen dachte. Kurz, aber regelmäßig bemühten sie sich damit um das Wahren einer Freundschaft, die durch die Entfernung wieder mehr Wertschätzung und Qualität erfuhr. Die Frequenz dieser schriftlichen Kontakte wurde mit der Zeit dichter, der Inhalt immer intimer. Sie begannen, sich ihre Sorgen und Nöte mitzuteilen, sodass ihre Briefe schon bald zu einem verlässlichen Rettungsanker heranreiften, den man herbeisehnte, brauchte, wie die Luft zum Atmen, und ohne den man eines Tages nicht mehr sein wollte. Sie behüteten ihn, wie einen kostbaren Schatz, pflegten und schätzten ihn. Und die Distanz wickelte ihn in ein Papier von besonderem Glanz, das auf eine unerschütterliche Weise seine Unfehlbarkeit unterstrich.

Die Treffen, die den Briefen folgten, waren eine selbstverständliche Weiterführung ihrer Beziehung, eine unscheinbare Steigerung an Intensität, die es nicht zu hinterfragen galt. Sie waren der nächste Schritt in eine richtige Richtung, die natürlicherweise Sinn ergab. Im Nachhinein betrachtet, lief es sogar von Anfang an darauf hinaus, und es schien, als dienten all die zaghaft formulierten Zeilen einzig und allein dazu, eine neue Ebene der Berührung und des Gesprächs von Angesicht zu Angesicht Realität werden zu lassen.

Von nun an trafen sie sich in jedem Sommer. Es war wie ein regelmäßig wiederkehrender Urlaub am gleichen Ort, den man in- und auswendig kannte und gewohnheitsgemäß jedes Jahr wieder aufsuchte, weil man sich auf genau das freute, was einen dort erwartete. Den Salat Nizza in der Pizzeria am Kirchplatz mit genau dem Dressing, das man lieben gelernt hatte und wonach sich die sensibilisierten Geschmackszellen seit Wochen so sehr sehnten. Alle Details hatten sich in die Sinne gebrannt und wollten wieder belebt werden. Die stumpfe Gewohnheit schien in ihnen eine ungeahnte Quelle an Lebendigkeit zum Sprudeln zu bringen, die einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in ein aufgeregtes Flattern versetzen konnte, was ein unbändiges Glücksgefühl verströmte.

Jedes Jahr zur gleichen Zeit lebten sie eine Auszeit von ihrem Leben, das sie bis zum Anschlag überreizte, forderte und jegliches Fühlen in ihnen lahmlegte. Sie ließen die Zeit stillstehen, genossen Momente der Ruhe und Muße, während sie in einer schillernd bunten Seifenblase innig beisammen waren, redeten, schwiegen, liebten und lebten. Körper und Seele wurden reingewaschen von allen Belastungen, die Zellen erneuert und Grenzen im Denken und Fühlen aufgehoben. Es war wie ein Paradies, in dem das Gänseblümchen durch eine Vielzahl anderer Blütenschönheiten seine höchste Stufe der Veredelung erfuhr.

Ein zeitlich befristetes Paradies jedoch, von dem man sich jedes Mal, wenn der Sommer sein Ende fand, wieder verabschieden musste. Doch überraschenderweise war es niemals mit Schmerz verbunden. Vielleicht mit einer kleinen Prise Wehmut, die aber durch ihre Schnelllebigkeit kaum Gewicht erhielt. Denn schon nach kurzer Zeit hatte sich in vielerlei Hinsicht ein gewisser Grad an Sättigung eingestellt. Man war ausgefüllt mit Glück, hatte genug Ruhe und Zweisamkeit getankt, den Blick wieder für das Wesentliche geschärft und war bereit für einen neuen Farbanstrich. Es erinnerte an eine reife Frucht, die dankbar darüber war, endlich gepflückt zu werden, bevor sie schonungslos vom Baum fiel, um aufzuplatzen und dann keine Beachtung mehr zu finden. Und die Schmetterlinge fielen wieder in einen Dornröschenschlaf.

Ihr Abschied voneinander verlief in den meisten Fällen wortlos und karg. Wie ein zu kurz geratener Haarschnitt. Eine schnelle Umarmung, eine flüchtige Berührung, während die Körper bereits halb abgewandt waren. In ihren Augen formten sich schon die Bilder dessen, was sie in ihrem für kurze Zeit auf Standby geschalteten Leben erwartete. Das puristische Verabschiedungsritual stand in keinem Verhältnis zu ihrem lebendig symbiotischen Beisammensein der vorausgegangenen Wochen. Fast vermittelte es den Eindruck, als wollten sie voreinander fliehen, um sich voller Freude und Lust dem Kontrastprogramm auf dem anderen Kanal zuzuwenden. Als müssten sie sich gewaltsam und möglichst unbeschadet aus ihrer gegenseitigen Anziehung befreien, sich wegreißen von dem, was vor einer Sekunde noch als eine lebenserhaltende Maßnahme definiert war. Weil es außerhalb der Seifenblase plötzlich an Bedeutung verlor. Oder aber, weil es gerade dort erst bedeutungsvoll wurde, mehr als sie es sich eingestehen wollten. Und mehr als sie in dieser Episode, die das Leben für sie schrieb, zulassen konnten, weil es alles auf links gekrempelt hätte, was so wunderbar perfekt und schnörkellos eingerichtet war.

So hätte es problemlos weitergehen können, noch viele lange Sommer. Jedes Jahr zur gleichen Zeit die Repeat-Taste drücken und immer wieder das gleiche Programm abspulen lassen. Doch ein unvorhersehbares, einschneidendes Ereignis beendete ihre traumhaften Auszeiten abrupt, noch bevor Ermüdung oder Abnutzung die Chance bekommen hatten, sich auf leisen Sohlen zur Tür hereinzuschleichen.

Das Schicksal zeigte kein Erbarmen und schlug ihnen mit geballter Faust mitten ins Gesicht. Ein ungeborenes Kind zu verlieren, zählt wohl zu den härtesten Prüfungen im Leben einer Frau. Manch eine zerbricht daran. Geburt und Tod – die entscheidenden Momente des Lebens – geschehen gleichzeitig. Das Herz zerreißt, der Körper rebelliert, schmerzt und versteht nicht, was da passiert. Jede Zelle trauert und will nicht loslassen. Die eigene, bisher unbekannte Angst vor dem Sterben erscheint zum Greifen nah.

Sie fühlte, wie ein Teil von ihr mitstarb und für immer fortging. Sie war bereit, auch den anderen Teil zu geben, für einen einzigen, kostbaren Moment mit ihrem Kind. Die unstillbare Sehnsucht danach, es in ihren Armen zu wiegen, zerfraß ihre Sinne und raubte ihr den Verstand. Die Leere in ihrem Bauch war unerträglich. Sie wollte niemandem begegnen, der über Alltägliches berichtete. Sie wollte ungestört sein mit ihren Gedanken an ihr Kind. Manchmal verhielt sie sich so, als wäre es noch in ihrem Bauch. Das Herz konnte nicht folgen und wurde vom Verstand im Stich gelassen.

Sie war allein mit ihrer Trauer, denn er hatte Aufgaben und Pflichten, musste seine Rolle spielen in dem Film fernab ihrer gemeinsamen Zeit. Sie vermisste es, von ihm gehalten zu sein. Allein eine Berührung hätte genügt, um in diesen bitteren Stunden ein wenig Trost zu spenden. Sie sehnte sich danach, gemeinsam zu trauern, dem schrecklichen Schmerz den Raum zu geben, der ihm gebührte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verletzbar und schutzlos gefühlt und so unverstanden vom Rest der Welt.

Doch sie musste akzeptieren, dass die Trauer ihre Wege trennte. So nah sie ihr Kind noch vor einiger Zeit zusammengebracht hatte, so weit entfernt fühlte sie sich jetzt. Sie war allein mit ihren unberechenbaren Gefühlsschwankungen, Ängsten und Zweifeln, die dieser riesengroße Verlust in ihr auslöste. Mit Macht überfiel sie eine unbändige Einsamkeit, und ihr trauerndes Herz schlotterte.

Viel Zeit musste ins Land gehen, bis sie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Ein weiteres Mal trennten sich ihre Wege, und sie wusste, dass es endgültig war, auch wenn ihr Herz noch damit haderte. Doch das Erlebte hatte über ihre gemeinsame Zeit einen dunklen Schatten geworfen, der sich auch in ihrer Seele spiegelte und Tag für Tag wie ein schwerer Stein auf ihr lastete. Auch wenn sie längst eine andere geworden war. Sie war einer schweren Aufgabe er-wachsen, und die Flügelschläge wurden allmählich leichter. Mehr als jemals zuvor war sie imstande, sich auf sich selbst zu besinnen, an sich zu glauben und aus sich heraus Kraft zu schöpfen. Die harte Arbeit aus der Krise heraus leitete noch weitere Umbrüche ein. Sie war im Fluss und wurde vom Leben getragen, was ihr genug Vertrauen schenkte, um wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können.

Dann prallten sie aufeinander, diese verschiedenen Leben, um endlich heil und ganz zu werden. Sie waren es müde, so zu tun, als gäbe es den anderen nicht; gehörten sie doch beide konkurrenzlos in den Fluss des Lebens.

Sie hatte die Wahl, stehen zu bleiben, um ihm stundenlang ihre Geschichten zu erzählen, die einen Band in ihrer gemeinsamen Buchreihe des Lebens gefüllt hätten. An das gemeinsame Stück Weg anzuknüpfen, eine Brücke zu bauen hin zu vertrauter Nähe, nach all der Zeit. Ausbaufähig. Doch wozu? Ihre Geschichte war abgelebt. Eine Fortsetzung gab es nicht. Es wäre ein hilfloser Versuch gewesen, die verstrichenen Jahre außer Acht zu lassen, so zu tun, als hätte es danach nichts mehr gegeben.

Tiefe Traurigkeit beschlich schlagartig ihr Herz. Weil sich die Uhr nun mal nicht zurückdrehen lässt. Selbst damals hatte sie nicht so sehr damit gehadert wie in diesem Moment. „Schau! Ich möchte dir meinen größten Lebensschatz vorstellen. Das Beste, das ich jemals vollbracht habe“, wollte sie sagen, als ihr Blick zu ihren beiden Kindern wanderte, die fünf Meter entfernt mit seinem kleinen Hund spielten. „Es könnten unsere sein“, hätte sie dann noch angefügt, in der Hoffnung, dass sie der Klang ihrer Stimmen einander näherbringen würde.

Doch die höhere Macht, die Schicksal spielte, ließ die Zeiger ihrer Armbanduhren los, und die Zeit lief unaufhaltsam weiter. Erbarmungslos. So beließen sie es dabei, nur ihre Herzen sprechen zu lassen, und bemerkten erstaunt das feine, dünne Band, das immer noch zwischen ihnen bestand. Wahrscheinlich über das Leben hinaus.

Dann ging ein jeder seines Weges, ohne sich noch einmal umzudrehen. Darüber staunend, welche Tiefen des Herzens auch eine längst zu Ende gelebte Liebe spüren lassen kann, wenn der Moment dafür gekommen ist. Doch die Weggabelung, vor der sie einst standen, lag längst hinter ihnen. Damals hatte sie sich für einen eigenen Weg entschieden. Ohne ihn. Und zum ersten Mal konnte sie sich, ohne innerlich zerrissen zu sein, eingestehen, dass es gut war.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 25079

 

Vergänglichkeit

Leben … so schwer ohne dich
Träume … so leer ohne dich
Jahre … in Licht gehüllt so dicht gefüllt mit dir
Gedanken … hängen fest an dir
verdrängen Worte hin zu dir
und der Verstand kann nicht fassen
weil Konturen verblassen
denn das Jahr legt einen Schleier über dein Gesicht
doch das Herz … der Spuren so voll
von dir, so tief in mir, das Bände spricht
weiß, du wirst mich nie verlassen

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 25070

Sehnsuchtsvoll

So oft hab ich dein Haar geküsst
die raue Wange zart gestrichen
Und dächt, wenn ich’s nicht besser wüsst
du wärst grad durchs Haus geschlichen

Leis folg ich deiner Blütenspur
betrink mich an vertrautem Duft
Lausch deinem Klang in Raum und Flur
und wieg mich sanft im Tanz der Luft
bis meine Angst gewichen

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode - nicht nur an die Freude |Inventarnummer: 25052

Weihnacht

In dieser Zeit funkelnder Besinnlichkeit,
da der Zauber der Nacht
den Himmel noch schwärzer macht,
und in der Weite dunkelnder Unendlichkeit
kaltherzig und glasklar
dir die Endlichkeit entgegenlacht,
ist die innere Einkehr elementar.
Und als Komplementär zur Fülle
die Stille eine schützende Hülle.

Hörst du das leise Knistern in der Luft,
das geheimnisumwobene Wispern?
Das surrende Schwingen sanften Flügelschlags,
das sich auch des Tags nicht verliert
und unbemerkt fein im Schein heller Kerzen
deine Sinne stimuliert?

Dann ist Weihnacht, nur dann.
Engelsgleich ihr Gesang, samtweich.
Und unendlich reich
ihr fast vergessener, ureigener Klang.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 24188

Dialektik im Trauern

Ein Herbstgedicht

Herbstlaub.
Farbenfroh und leicht, fällt
erstmals
ohne dich auf die Welt.

Nebel.
Grau in Grau und schwer, steigt
empor.
Deckt feig meine Sehnsucht.

Rascheln.
Lautstark und schrill, wenn ich
im Laub
deine Worte finden will.
(… die mir so fehlen.)

Mein Herz.
Schmerzensvoll und leer, schweigt.
Tobt still.
Nur Erinnerung bleibt.

Astwerk.
Melancholisch kahl, friert
schutzlos.
Giert nach deiner Blätterhand.

Ein Lichtstrahl.
Hell, euphorisch, warm. Bricht
tröstend
durchs Himmelsgesicht.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24181

Für mein Kind: Zurück zu den Wurzeln gemeinsam mit dir

Zeit fliegt vorbei.
Manchmal brems ich sie ein,
sehe dich an
und erschreck,
weil ich mich bis ins Detail
an dir spiegeln kann.
Ich entdeck
Spuren meiner Vergangenheit
in deinem Gesicht,
rück in dein Licht,
und wir gehen ein Stück
auf der Zeitschnur zurück.
Dann färbt dein Lachen
vergilbte Bilder in Schwarz-Weiß
leuchtend bunt,
und wir staunen leis.
Lassen darauf Glücksraketen
starten, halten die Hand
und warten gebannt
im Moment der Magie,
wenn sie den Himmel
in ein Farbenmeer tunken
und Endorphinfunken
in unsere Zukunft sprühen.
Sehen sie verglühen und fächern uns,
zufrieden lächelnd, Luft zu,
liebesgefüllt.
Nichts fehlt.
Lassen dann beseelt
die Zeit weiterziehen.

Claudia Lüer
aus dem Gedichtband "Barfuß durch  dein Herz"

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24177

Für einen letzten Moment

Was würd ich geben
für einen letzten Moment mit dir.
Der all mein Streben
und Tun lenkt, mich kostbar beschenkt
und bis zum Ende fortblüht in mir.
Der in meinem Herzen Feuer fängt
und – bis wir uns wiedersehen
und die Wunder der Liebe geschehen –
meinen Schmerz ausschwemmt.
Wie all das, was mich am Weiterleben hemmt.

Was würd ich geben
für ein allerletztes Wort von dir.
Das all mein Erleben
verdichtet, von uns berichtet
und bis zum Ende fortklingt in mir.
Das meine Seele wärmt und belichtet
und wohlig gebettet in deinen sanften Klang,
der ganz leise, auf vertraute Weise so oft für mich sang,
in mir den richtigen Ton anstimmt
und meine tiefsten Ängste nimmt.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorien: hardly secret diary | Inventarnummer: 24129

Für meinen Vater – Liebeserklärung

Es gibt Ereignisse im Leben, die so tief einschneiden, dass unsere Herzen für immer verwundet bleiben und Worte fehlen, um das zu beschreiben.

Alles, was du sagst,
klingt durch meine Räume.
Das, wonach du fragst,
bereichert meine Träume.
All das, was du denkst,
nährt meine Theorien.
Ich kann in deinem Licht
vor meinen Ängsten flieh’n.
Das, woran du hängst,
das veränder ich nicht.
Denn das, was du mir schenkst,
ist unersetzlich für mich.

Alles, was du weißt,
hast du mir beigebracht.
War mein Herz vereist,
hast du mit mir gelacht.
Hast noch an mich geglaubt,
als ich längst aufgegeben hab.
Hast auf mich gebaut
und mich gestärkt, Tag für Tag.
Hast mir so viel gegeben
und nie an dich gedacht.
Hast mein ganzes Leben
über mich gewacht.

Mit dir zusammen sah ich
meinen ersten Regenbogen.
Du bist mit mir im Traum
bis zu den Sternen geflogen.
Alles, was du fühlst,
wohnt auch in meinem Herzen.
Das Wasser, das dich kühlt,
dimmt auch meine Schmerzen.
Das, was du erinnerst,
spinnt meine Seele fort,
verpackt als Kostbarkeit
an einem sich’ren Ort.

Das, was du verschweigst,
sprech ich für dich aus.
Das, womit du haderst,
lös ich für dich auf.
Was du hast durchgestanden,
das reibt mich nicht mehr auf.
Die Schätze, die wir fanden,
heb ich für meine Kinder auf.
Ich hatte großes Glück
mit dir auf meinem Weg.
Das geb ich jetzt zurück,
denn dir verdank ich, dass ich leb.

Alles, was ich weiß,
ist, dass wir uns wiedersehen.
Doch bis ich zu dir reis,
will ich noch weitergehen.
Dann bist du die Musik,
die in meinem Herzen klingt.
Und der warme Wind,
der mir ein Nachtlied singt.
Die unsichtbare Hand,
die mich durch schwere Zeiten trägt.
Du bleibst in meinem Sinn,
bis ich nicht mehr leb.

In memoriam Gerhard Lüer
Für meinen Vater, Beschützer und liebenden Wegbegleiter – dem wunderbarsten Menschen, dem ich in diesem Leben so intensiv begegnen durfte.

 

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24083