Kategorie-Archiv: Norbert Johannes Prenner

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Mein Südtirol

Aurouggla – Teil 3

Als sich Tage danach der Stress um das Brautpaar gelegt hatte und der Alltag wieder seine ruhigen Bahnen zog, meldete ich mich bei Moidl (Mutter meines Schwagers, die Maria hieß) wieder zum Bardienst zurück, und ich muss sagen, ich war mit meiner Tätigkeit dort sehr zufrieden. Tagsüber kamen zahllose Italiener vorbei, denen ich Café Macchiato oder Limonata oder eben was anderes servierte. Ich war gefordert, mich mit ihnen zumindest irgendwie zu verständigen und im Laufe der Zeit lernte ich tatsächlich sogar etwas Italienisch. Ich konnte Bestellungen aufnehmen, kurze Fragen stellen und auch ein wenig antworten, wenn ich gefragt wurde, auch dann, wenn es sich dabei um Süditaliener handelte, was mit denen nicht immer einfach war.

Wenn ich Entspannung suchte und mir die Leute auf die Nerven gingen, lief ich einfach ums Haus, denn hinten, im Garten, saß oft ein zahmer Rabe auf einem Ast, der sogleich auf meinen Schultern landete, wenn ich ihn rief, und mir mit seinem kräftigen Schnabel liebevoll den Rücken klopfte. Vielleicht war er in seinem früheren Leben ein Specht gewesen, wer weiß. Ich fand das alles ziemlich aufregend, vor allem aber nicht so furchtbar langweilig wie bei uns zu Hause. Lag ich dann in meinem Liegestuhl, mit Pfeife und Karl May bewaffnet, setzte er sich ganz oben auf die Querleiste und tat, als läse er mit. Nur von der Pfeife hielt er Abstand, der beißende Rauch war dem sensiblen Tier offensichtlich nicht geheuer.

Gegen vier Uhr Nachmittag gab’s dann Marendn, also Jause. Oft kam Luis vorbei, ehemaliger Polizist, der von seinen Einsätzen gegen die Mafia in Süditalien erzählte und dem ich mit offenem Mund zuhörte, weil ich das alles nicht glauben konnte, was er so alles zu berichten hatte, denn solche Sachen kannte ich nur aus dem Fernsehen.
Manchmal, vor allem an Sonntagen, kam Frau Marie aus Meran herauf. Eine noch gut aussehende Sechzigerin mit einem eloquenten Mundwerk. Sie stelzte stets zuallererst an die Bar, beugte sich über diese und flüsterte mir leise zu, geh, Bua, gib ma an, zan Oischlenzgan. (Gib mir einen – zumeist Jägermeister – zum Hinunterspülen). Und ich gab ihr einen, aus dem rasch drei oder vier wurden.
Da war auch ein Buschauffeur, der alle Stunden hier Pause machte und entweder Kaffee oder ein kleines Bier bestellte. Er erzählte manchmal, wie die Partisanen italienische Bauern abgeschossen hatten, nur so zum Spaß, zum Zielschießen und so, auf den Feldern.

Eines Tages aber, es war schon gegen Abend, hörte ich ein furchtbares Pfeifen und Rauschen unten vom Tal her. Als ich, neugierig wie ich war, eilig auf die Veranda trat, da flogen plötzlich vier italienische Kampfjets von Meran aus den Hang entlang herauf und zischten über unsere Köpfe hinweg, dass uns die Luft wegblieb. Kaum dreißig Meter über dem Boden. Nie werde ich das vergessen, nie! Das war vielleicht ein Schauspiel. Die zahlreichen Touristen, die an der Seilbahn standen und warteten, kriegten die Münder nicht zu vor Staunen und es entfachte sich eine hitzige Debatte darüber, ob die Piloten das überhaupt durften, wo es doch viel zu niedrig gewesen wäre.

Manchmal waren die Brüder des Bräutigams meiner Schwester in der Bar. Sie hatten immer die neuesten Witze auf Lager, und ich mochte sie gut leiden, obwohl ich Probleme mit dem Verstehen ihres Dialektes hatte. Aber einen ihrer Witze hatte ich verstanden. Es ging um die Vespa, das beliebteste Verkehrsmittel für Alt und Jung hier in Südtirol.
Heute wäre alles nicht mehr so, wie es einmal war. Früher, sagte einer der beiden, wären die Vespen auf den Feigen gesessen, und sie meinten Wespen, aber heute sei alles anders, denn heute säßen die Feigen auf den Vespen, und sie meinten Mädchen damit. Ich weiß nicht, ob ich rot geworden war, aber ich musste furchtbar lachen.

Als der Luis, schon wieder einer, beinahe jeder hieß hier Luis oder Sepp, also der war ein Taxichauffeur, zum ersten Mal bei mir an der Bar gestanden ist, dachte er, ich sei Italiener, und ich dachte es auch von ihm, weil er italienisch bestellt hatte. So dauerte es eine ganze Weile, bis ich kapierte, was er eigentlich wollte, denn er hatte eine Pompelma bestellt, aber mit „aurouggla prego“. Das ging eine ganze Weile so hin und her, bis ich die Muata (Moidl) endlich fragte, was er eigentlich wolle und was denn um Himmels Willen „aurouggla“ bedeute? Bis ich endlich verstand. Aufschütteln. Er wollte, dass ich die Limonade aufschüttle, um das Fruchtfleisch gleichmäßig in der Flasche zu verteilen. Wir haben alle herzlich gelacht über unser Unvermögen, miteinander zu kommunizieren.

Als ich Jahre später wieder einmal hierher kam, mit meiner Frau, die im sechsten Monat schwanger war, machte ich eine Bergtour, alleine, und die wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Die vielen Jahre, in denen ich zumindest die Sommer so oft als Piccolo in der Bar Diana verbracht und Gäste bedient hatte, kamen mir vor, als wären sie erst gestern gewesen. Damals saß hin und wieder ein älterer Mann am Stammtisch, ausnahmsweise einmal der Hubert, und kein Luis oder Sepp, der sagte, oben, am Ifinger, das ist der höchste Berg auf der Meraner Nordseite, sei am Gipfelkreuz eine Blechschachtel befestigt mit dem Gipfelbuch. Und in dieses Gipfelbuch hätte ein deutscher Tourist folgende Worte geschrieben: Alpenrose, schöne Rose, schöne Rose, Alpenrose, und er hätte mit Silbernagel unterschrieben. Und darunter soll ein Einheimischer geschrieben haben: Silbernagel, dummer Nagel, dummer Nagel, Silbernagel und mit Alpenrose unterschrieben haben.

Das musste ich natürlich einmal einfach selbst sehen. Aber niemand von den Einheimischen am Stammtisch der Bar Diana war je dort oben gewesen. Als Junge wäre es mir auch nicht möglich gewesen, aber nun war ich achtundzwanzig und hatte schon einige Erfahrung im Klettern und Tourengehen gesammelt. Also ging ich los. Aber schon nach kurzer Zeit hatte ich mich verstiegen und den Steig verloren, der zum Gipfel führte. Als ich dann auch noch abkletterte, geriet ich in einen Überhang und wäre beinahe nicht mehr von alleine hochgekommen. Der Gipfel war in Sichtweite, nur eine steile Wand von etwas sechzig Metern trennte mich von ihm. In der Wand hing eine verrostete Kette. Ich nahm all meinen Mut zusammen und hantelte mich an dieser bis zum Gipfel empor, denn ohne Sicherung, nur im Fels, hätte ich es sicher nicht geschafft. Oben, am Gipfel, saß eine Gruppe Bergsteiger, und die staunten allesamt nicht schlecht, als mein Kopf plötzlich vor ihnen auftauchte, von der steilen Südwand her. Ja wo kimmsch’n du auf amol her?, fragten sie ganz außer sich. Na, von da unten, antwortete ich gelassen, obwohl mein Herz wie verrückt schlug, teils vor Anstrengung, teils vor Angst. Immerhin ging’s unter mir beinahe tausend Meter abwärts.
Ich denke heute, ich hatte eher ihr Mitleid als ihre Bewunderung. Als ich hinterher ins Tal abstieg, erreichte ich gerade noch vor Ausbruch eines Unwetters, das seinesgleichen suchte, das schützende Haus, in dem meine besorgte Gattin bereits seit Stunden wartete. Es hagelte und schneite mitten im August und am nächsten Tag erfuhr man, dass mehrere Personen in dem Unwetter als vermisst galten.

Und noch etwas, als ich damals noch der junge Kellner in der Bar Diana war, ich erinnere mich genau an die Geschichte, gab es da einen bekannten Kunstmaler, Stampfl Rudl haben sie den genannt. Ich habe seine Aquarelle sehr bewundert. Er war ein Genie, wirklich, und ich denke, man könnte ihn zu den ganz großen Malern zählen, die im Genre des Naturalismus zu Hause sind. Er war mit einer deutschen Frau verheiratet. Und immer dann, wenn er schon zu lange am abendlichen Stammtisch gesessen war, kam seine Frau ganz aufgebracht in die Stube und rief: “Rudl, hasch an Dampf? Was sitsch allm bei die Affen?“, (Rudolf, bist du betrunken, warum sitzt du andauernd hier bei den Affen?) indem sie sich in ihrem besten Südtirolerisch versuchte, holte sie ihn mit diesen Worten zu sich nach Hause, zum Gaudium aller Anwesenden, die aus vollem Halse lachten.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17033

Die Hochzeit

Aurouggla – Teil 2

Nachdem meine Familie also erfolgreich im Hotel Belvedere untergebracht worden war, trat etwas Ruhe in die ganze Sache ein. Vater hatte aufgehört, nervös zu schnupfen, und Mutter genoss den ausgezeichneten Blick über Meran von der Terrasse des Hotels aus. Sie sah, zumindest für Momente, sogar etwas entspannt aus. Und ich? Nun, ich richtete mich in meinem kleinen Einzelzimmer so gut es ging ein, packte meine Lieblingsbücher aus und mein Malzeug und hängte meine Kultjeans und T-Shirts ordentlich nacheinander in den Kasten. Den grauenhaften Anzug ganz zuletzt. Den müsste ich ohnehin ja bloß nur einmal anziehen. Dann ging ich auf Entdeckungstour. Zuerst die fünf Minuten hinunter zur Bar Diana, wo ich mir ein Pompelmo (exotisch, was? Grapefruitsaft) genehmigte, welches sich die Muata nicht zahlen ließ. Wohin ich denn spazieren gehen sollte?, fragte ich artig. Dort, den steilen Waldweg hinauf zum Sulfner-See. Ist das weit? Na, geah, wann´d gmiadlich geasch, a holbe Schtund. Do hosch, a Tafele Schokolade fian Hunga. Ich wandte zaghaft ein, gegen, und lächelte, aber man verstand mich nicht.

Also ging ich los. Ein wunderschöner Wald! Hohe Fichten, unterwandert von allerlei Sträuchern. Dazwischen Farne in Überlebensgröße und eine sagenhafte Luft, die nach Harz, nach frischem Laub und Waldboden roch. Dort ein mir unbekannter Käfer, da ein Vogelgeräusch, das ich nicht kannte. Raubvogel vielleicht. Durch die hohen Wipfel blitzte warm die Nachmittagssonne und tauchte alles in ihr mildes Licht.
Ich denke, ich habe mich nie wieder so glücklich und frei gefühlt wie in diesem Augenblick. Oder vielleicht in den kommenden Spaziergängen hierher. Langsam wurde der steile Weg eben, als ich eine Art Plateau inmitten dieses Zauberwaldes erreicht hatte. Jetzt wechselte der braune Waldboden in sattes Grün. Dort vorne sah ich etwas glänzen, das musste die Wasseroberfläche des Sees sein. Und tatsächlich! Ich kam meinem Ziel rasch näher.

Ein mittelgroßer See, inmitten eines Hochwaldes. Wahnsinn! Das Wasser schien dunkel, beinahe schwarz und spiegelte auf seiner Oberfläche die es umgebenden Bäume wider. Ein gutes Drittel des Sees war mit Seerosen bedeckt. Große grüne Blätter lagen wie Matten, die zum Draufsteigen einluden, auf der ruhigen Wasseroberfläche verziert durch hunderte von Blüten, die, libellenumschwärmt ihre rosa Körbchen weit geöffnet hielten, als wollten sie damit die Sonnenstrahlen einfangen.
Ich ließ mich auf einem Baumstrunk nahe am Wasser nieder und weidete mich an der Fülle meiner Eindrücke, ich konnte diesen Anblick kaum fassen. Meine Augen glitten immer wieder rundherum, um nur ja nichts auszulassen, damit mir auch nichts entging, um dieses Idyll vollkommen zu verinnerlichen, ja um es mit nach Hause zu tragen, es in meinem Inneren abzulichten und um es eins zu eins wieder abrufbar zu machen, wenn ich seiner bedurfte.

Ich hatte von der Wiener Tante eine billige Kamera geschenkt bekommen, die stolz an meiner Knabenbrust baumelte. Ich nahm sie hoch und fotografierte beinahe den ganzen Film leer, als ich vor mir, im Wasser, eine Bewegung wahrnahm. Im seichten Wasser in Ufernähe ringelte sich grazil eine Ringelnatter (drum heißt sie ja auch so) über den See und nahm überhaupt keine Notiz von mir, dem Eindringling, der ich war. Ich knipste wie verrückt hinter ihr her. Und mit der Entwicklung dieses Filmes würde ich ganz sicher nicht warten wollen, bis ich wieder zu Hause wäre. Den wollte ich gleich morgen nach Meran tragen. Wir blieben zehn Tage hier, das ging sich locker aus. Ich weiß nicht, wie lange ich hier gesessen sein mochte, doch durch die Dämmerung aufmerksam geworden, trat ich schließlich den Rückweg an. Wer weiß, vielleicht machte man sich schon Sorgen, wo ich geblieben war?

Der nächste Tag, ein strahlender Sonntag, der nicht strahlender hätte sein können, war der von allen heiß erwartete Hochzeitstag. Mir, um ganz ehrlich zu sein, war er als solcher egal, eher lästig, denn es würde mir nicht erspart bleiben, meine geliebten ausgewaschenen engen Jeans mit dem scheußlichen Anzug zu vertauschen und meine hohen schnürbaren Rauleder-Boots, wie sie damals in Mode waren, durch schwarze spitze Halbschuhe zu ersetzen. Die kleine Schar der Hochzeitsgäste wuchs rasch an und formierte sich vor der Bar Diana zu einer unübersehbar langen Menschenkette in Festtagskleidung. Dann erschienen die Braut und der Bräutigam. Er mit dunklem Rauschebart in Schwarz, sie mit Blumenkrönchen und in Weiß. Die Sonne brannte um zehn Uhr vormittags schon herunter, als ob es Mittag wäre. Nach etlichen Gläsern Sekt, die gereicht wurden, ging es endlich in Richtung der nahegelegenen Kirche, neben den berühmten Haflinger Pferden offizielles Wahrzeichen des Dorfes, zu St. Kathrein genannt, einem aus grauem Stein erbauten Kirchlein aus dem 13. Jahrhundert, das weithin gut sichtbar war.

Der offiziell zeremonielle Teil zog sich genauso in die Länge wie sein Menschenzug, und mir wurde heiß in dem engen Sakko, welches ich am liebsten ausgezogen hätte. Die ungewohnte Krawatte würgte mich am Hals, und Schweißtropfen rannen in Bächen gesammelt über Brust und Rücken. Mutter wurde übel, wie immer, und sie musste von meinem Vater kurz hinausbegleitet werden, an die frische Luft, die gar nicht frisch, sondern sauheiß war. Aber bitte, Einbildung ist alles, und sie tat ihre Wirkung, denn beide kehrten nach einigen Minuten wieder zufrieden auf ihren Platz zurück. Endlich war diese Folter dann auch einmal vorüber, nicht nur für mich, das Brautpaar hatte sich die ewige Treue und so weiter geschworen und geküsst.

Mühsam verließ der Tross, schwerfällig vom langen Stehen und Sitzen, den kühlen Kirchenraum. Hände wurden geschüttelt, Glückwünsche und Segensworte gesprochen, Schweißperlen wurden mit riesigen Stofftaschentüchern weggetupft.
Männer und Frauen in Südtiroler Tracht hatten ordentlich an der dicken Kleidung zu leiden. Das Zeug hielt dicht, in vielen Schichten, wie eine Zwiebel. Kittel und Schürzen, in Schwarz und Blau, Wamse und Joppen, Hosen mit breiten Trägern, in Rot und Grün. Ich träumte von meinen Jeans und einem lockeren T-Shirt, die einsam im Hotelkasten hingen. Und nach Laufen war mir. So ganz leicht, mich bewegen können, und das dumme Zeug da ausziehen und niemanden sehen, mit niemandem reden müssen.

Die Leute formierten sich langsam zum Festzug, und das Ganze wälzte sich also wieder retour, vorbei an der Diana und hinauf zum Hotel Belvedere. Halb eins. Und heiß. Mutter musste mit einem Taxi geführt werden, weil ihr schon wieder übel war. Vater fuhr gleich mit. Er hatte die ganze Zeit keine Miene verzogen, nur leise geschnupft, wie er es immer tat, wenn ihm was nicht geheuer war. Schließlich handelte es sich um die erste Hochzeit eines seiner Kinder, seiner Tochter, noch dazu seiner Lieblingstochter, die, die er aus erzieherischen Gründen mit zehn Jahren in ein SOS- Kinderdorf bei Graz gesteckt hatte und die wir zu Allerheiligen, knochendürr wegen Unterernährung und Heimweh, wieder nach Hause holen mussten. Aber das ist eine andere Geschichte. Damals mussten sie „Hoch auf dem gelben Wagen“ singen, wenn sie frühmorgens zur Schule gebracht worden waren. Das hat sie mir beigebracht, mit fünf. Seit dieser Zeit denke ich immer an „Hoch auf dem gelben Wagen“, wenn ich an sie denke. So ein Schmarren!

Ich hatte noch nie so eine große Festtafel gesehen wie jene in diesem Hotel. Dreiseitig, an der vierten Seite wegen des Eingangs offen und für die Kellner bequem zugänglich. Der Vater des Bräutigams, der wortkarge Förster, und unser Vater saßen sich gegenüber. Es wurde nichts gesprochen, was keinen überraschte. Sie saßen nur da und starrten vor sich hin. Unserer schnupfte, der ihrige seufzte immerzu jajajaja. Mutter und Muata waren da schon aus anderem Holz geschnitzt. Frauen unter sich. Das funktionierte ganz gut. Ich saß zwischen den Brüdern des neuen Schwagers, die auch nicht gerade eloquent schienen. Und wenn sie mal was sagten, dann verstand ich sie nicht. Aber ich tat so, als verstünde ich und lächelte immer, wenn sie, mir zugewandt, was zu melden hatten. Südtirolerisch ist eine Wissenschaft für sich.

Erst als ich in der Bar Diana Servierdienste leistete, lernte ich diese höchst merkwürdige Sprache. Doch davon später. Egal also. Man trank und aß und fotografierte und nahm den Kaffee und dazu die Torte und trank wieder und aß wieder bis zum frühen Abend. Mir war scheußlich fad. Doch dann aber wurde die Braut entführt, und es kam Leben in die Bude. Wir Jungen sollten sie suchen. Blöde Idee, aber bitte. Und damit kam ich offiziell auf den Plan. Wir Burschen sollten sie also suchen, ich und die Brüder des Bräutigams, und wir hatten die Zeche zu zahlen, die die entführte Braut mit ihren Entführern hinterlassen hatte. Überall da, wo sie, kurz bevor wir eintrafen, bereits wieder weitergeeilt waren. Die ganze Angelegenheit hätte mir ja wurscht sein können wie nur was, wäre da nicht plötzlich eine eigene Vespa gewesen, wie bereits erwähnt, in Orange, die man mir zu Suchzwecken zur Verfügung gestellt hatte. Ich blühte auf! Das war natürlich was für so einen gut behüteten vierzehnjährigen Knilch wie mich, mit so einem Ding da die Gegend unsicher zu machen! Und ich nahm mich natürlich dementsprechend wichtig, indem ich ordentlich Gas gab, nachdem mir der ältere der beiden Brüder rasch beigebracht hatte, wie ich mit der Karre da umzugehen hätte. Und ab ging die Post, auf steilen krummen Wegen Richtung Falzeben, Meran zweitausend, wie das Hochplateau heißt, gar nicht so einfach zu bewerkstelligen auf so einem Zweirad, über Knüppelwege und sandige Stellen und in Spurrinnen, auf denen man leicht zu Sturz kommen konnte.

Uns jedoch war nichts zu blöd und nichts zu schwierig, kein Weg zu steinig und keine Jausenhütte zu abgelegen, wie sich herausstellen sollte, die wir abfuhren, um dort das entflohene Ehegefährt zu suchen. Und ja, die hatten überall eine ordentliche Zeche hinterlassen, wo sie gewesen waren, fürwahr! Und sie waren immer schon weg, wenn wir ankamen.
Oschtia, fluchten die Burschen gotteslästerlich. Ich hatte auch dieses Wort nicht verstanden, ließ es mir aber im Laufe der nächsten Tage erklären. Ganz einfach, es bedeutete Hostie. Genauso häufig fluchten sie „Madonna“. Das kapierte ich schon eher. Und die beiden Knaben blätterten die Tausender, wenn auch zwar nur Lire, nur so hin, und weiter ging die wilde Jagd.

Mich ließ man nicht bezahlen, ich sei ja bloß ein Schülerlein. Ich hätte auch gar nichts gehabt, womit ich hätte zahlen sollen. Die Brüder aber gingen schon in die Lehre und hatten Geld dabei. Also suchten wir wie verrückt. Bis man die Ausreißer, die übrigens mit einem geländegängigen Auto unterwegs waren, gegen einundzwanzig Uhr gefunden hatte. Und damit war die Jagd für uns Jungen beendet, Gott sei Dank unfallfrei. Im Konvoi ging´s dann talwärts, über Stock und Stein, wie wir gekommen waren, aber weniger stressig als bei der Suche nach der gestohlenen Braut.

Als Oberdieb outete sich übrigens der Geschäftsführer des Hotels Belvedere. Wir erreichten rasch bekanntes Gebiet. Vor der Bar Diana stellte ich mit den anderen mein Fahrzeug ab. Alle nahmen noch einen Abschiedstrunk und verabschiedeten sich recht bald und sehr herzlich, man war zusammengewachsen durch die waghalsige Tour. Es war genug für einen Tag gewesen, ganz ohne Scheiß, wie der Deutsche zu sagen pflegt, auch für uns Jungens, die wir nicht geheiratet hatten und es auch noch lange nicht vorhatten.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16111

Die Bar Diana

Aurouggla – Teil 1

Es herrschte heller Aufruhr im Hause, die Koffer waren gepackt, das Taxi stand mit laufendem Motor vor dem Haus, fehlten nur noch die Fahrgäste. Wenn zwei junge Menschen einander die Ehe versprechen, dann ist das schon ein bedeutendes Ereignis für alle Beteiligten, für die Eltern selbstverständlich, aber auch für die engeren Verwandten und ganz besonders für die Geschwister des Brautpaares. Die Schwester heiratet! Mir, als dem jüngeren Bruder mit meinen vierzehn Jahren eigentlich ziemlich wurscht, wenn nicht – wenn nicht die Hochzeit im Ausland gefeiert worden wäre. Genauer gesagt, in Italien. Obwohl – so sehr in Italien wieder auch nicht, nämlich in Südtirol, in einem kleinen Dorf oberhalb von Meran, welches Avelengo hieß und heute noch so heißt, zu Deutsch – Hafling. Dieses idyllische Dörfchen liegt auf dem Höhenzug des Tschöggelberges, den kennt doch jedes Kind, links der Etsch zwischen Meran und Bozen. Es ist ein bekanntes Schi- und Wandergebiet und, wie sich später für mich herausstellen sollte, auch ein interessantes Klettergebiet.

Westbahnhof Juli neunzehnhundertsiebzig. Der Transalpin wartet geduldig, bis wir den ganzen Plunder an Bord haben. Es gibt noch Dienstmänner mit hölzernen Leiterwagen, die das Gepäck auf den Bahnsteig transportieren, wenn ich mich jetzt daran erinnere, mit Mützen auf und Nummern dran, wie im Film „Hallo Dienstmann“, beinahe unglaublich. Bin ich wirklich schon so alt?, denke ich eben.
Na, Mutter ist hysterisch, sie hat schon lange keine Reise gemacht, noch dazu eine mit dem Nachtzug. Vater ist schweigsam. Ihm gefällt die ganze Sache schon von Anfang an nicht.
Und ich? Ich schaue mir die Gammler an, die ihren Armysack vor sich liegen haben und sich eine Zigarette drehen. So möchte ich auch einmal werden, denke ich. Einmal in die weite Welt hinaus, allein, ohne, dass einem die Alten andauernd dazwischenquatschen. Und so einen grünen Parka möchte ich auch gerne haben. Mit vielen Taschen dran, und sehr weit muss er sein, und ziemlich zerknittert. Nie darf man was! Ich arbeite dran. Immerhin habe ich schon längere Haare als die anderen Jungs in meinem Alter.

Der Zug fährt ab. Wir sitzen zu fünft im Abteil. Meine Schwester, ihr zukünftiger Mann, Vater und Mutter, ich. Um einundzwanzig Uhr verabschieden sich die Eltern, um in den Schlafwagen hinüberzugehen. Mutter macht Zicken, sie faselt was von schwindelig sein und so. Ich kann das nicht verstehen, ist doch aufregend alles, eben! Um zweiundzwanzig Uhr ist sie wieder da, die Mama, hysterisch wie zuvor, kann nicht schlafen und setzt sich zwischen uns.
So, jetzt haben wir alle auch keinen Platz im Abteil. Spinnst du, hat der Schwiegersohn in spe zu ihr gesagt, als sie mit der Decke bei uns aufgetaucht ist. Das hätte er nicht zu ihr sagen dürfen, ein Leben lang hat sie das nicht vergessen und uns immer wieder davon erzählt, obwohl wir die bedauerliche Geschichte bis zum Kotzen kannten.
Ich aber liege in meinem neuen Schlafsack unter der Sitzbank und bin glücklich. So wollte ich schon immer mal reisen. Wenn auch allein. Es geht zwar nicht nach Indien, aber immerhin, das Gefühl ist es, das es ausmacht, das Gefühl! Denn sonst – it quite doesn’t make it! Auf diesen kurzen Satz bin ich stolz, habe ich aus „Good morning, Vietnam“. Man muss eine Olive haben, für den Martini, auch dort, wo es völlig unmöglich ist, eine herzukriegen. Das ist cool!

Um sieben Uhr Früh erreichten wir Innsbruck, stiegen dort in einen Expresszug nach Rom um und erreichten nach nochmaligem Umsteigen einen der schönsten Kurorte der Welt – Meran. In diese Stadt habe ich mich sofort verliebt und denke stets mit Wehmut an ihre blühende Blumenpracht im Kurpark, an die riesigen, exotisch anmutenden Palmen an den steilabfallenden Südhängen, an die sie wie zum Schutz vor allzu neugierigen Blicken umgebenden Berge oder an die reißende Etsch, auf der wagemutige Kajakfahrer für die neugierigen Zaungäste auf den Brücken ihren kunstvollen Wellentanz vorführten.

Was für eine Stadt! Wenn ich mich umsehe, alles in allem ein fein geschliffenes Konglomerat aus knorrigen Eingeborenen in blauer Schürze mit vom Munde hängender Pfeife, das – aufgelockert durch die unverwechselbare Grazie anmutiger italienischer Mädchen in knappsten Hotpants mit wehendem Haar auf ihren knatternden Vespas – (die Vespa, beliebtestes Fortbewegungsmittel aller Altersstufen. Die Jungen fahren eine 50er, führerscheinfrei, die Alten alles ab 75 Kubikzentimeter bis 250. Die kann schon ein wenig flotter sein. Ich kriegte dort eine 50er in Orange ganz für mich allein zur Verfügung, sie gehörte dem Bruder meines neuen Schwagers. Aber davon später.) – äh, wo war ich stehengeblieben? Aja, - seine Gegensätze kaum vielfältiger und bunter hätte erscheinen lassen können. Ich konnte dieses Schauspiel kaum fassen und mich gar nicht daran sattsehen. Auch in späteren Jahren nicht.

Zwei italienische Taxis brachten uns über die Via Winkel, Winkelstraße, diese Bezeichnung hält mich bis zum heutigen Tag in ihrem sonderbaren Bann ihrer Bedeutung , zur Drahtseilbahn nach Avelengo, die, sehr zu meinem Bedauern, bereits vor mehr als zwanzig Jahren durch eine großzügig angelegte Panoramastraße ersetzt worden ist.
Unnötig zu bemerken, dass mit diesem Bau wieder einmal eine Menge Natur zerstört wurde. Der Schwager regelte das alles mit den Taxlern auf Italienisch. Ich fand das sehr mondän. Und erst das fremde Geld. Tausend Lire! Ich dachte weiß Gott, wie viel das wäre.
Damals kriegte ich hin und wieder fünf Schilling Taschengeld. Aus pädagogischen Gründen, wie der Herr Papa immer zu sagen pflegte. Schließlich musste er es wissen, er war ja schließlich einer, ein Pädagoge nämlich.

Mit dieser Seilbahn also ging es hinauf auf das dreizehnhundert Meter hoch gelegene Hafling, an deren Endstation ein niedliches Holzhäuschen stand, Wohnhaus und Gaststätte zugleich, mit großzügiger Veranda, bunten Sonnenschirmen und einer vollschlanken lachenden Wirtin darin, mit roten Bäckchen, nicht zuletzt die Besitzerin sogenannter Bar Diana und – zukünftige Schwiegermama meiner Schwester.

Da war auch gleich der Hausherr zur Stelle, Förster von Gnaden, eher wortkarg und zurückgezogen, aber mit listigem Witz ausgestattet, den er, wenn auch nur selten, dann aber treffend, auf seine Mitmenschen loszulassen verstand. Ich selbst wurde einmal Zeuge seines krausen Humors, als er deutschen Touristen eine Auskunft gab. Es war immer dieselbe Situation. In Intervallen von zehn Minuten spuckte die Bahn täglich zehn bis zwanzig deutsche Gäste aus, die, aufgekratzt wie sie nun mal sind, eine Minute später vor der Bar Diana versammelt waren und sogleich, wie auf ein geheimes lautloses Kommando, die Anweisungen auf den grünen Orientierungsschildern unisono zu lesen begannen: Wandern und Reiten auf Haflinger Pferden! Was wie folgt so klang, und bei allen immer gleich, nämlich: Wandan und Raitn auf Hafflinger Ferdn! (sic!) Nachdem, und obwohl sie auch das Schild „Wanderweg nach Falzeben – Gehzeit zwei Stunden“ gelesen hatten, fragten sie sicherheitshalber dann doch beim Oberförster einmal nach: Sie, guter Mann, wie lange läuft man denn da? Abgesehen davon, dass manche Bundesbürger Probleme mit dem Lesen hatten und anstatt „Falzeben“ „Fallersleben“ lasen, der Namen durfte ihnen offensichtlich irgendwie geläufig gewesen sein.

Seine Auskunft fiel also ungefähr so aus: Erst sah er prüfend in den Himmel, dann rückte er, um die Spannung zu erhöhen, seine Hose über dem Bauch zurecht, knöpfte den obersten Knopf seiner Weste zu und sagte schließlich, während die gehfreudigen Germanen schon langsam zappelig geworden waren, ja, wenn sie laufen wollen, und dabei machte er ein sehr ernstes Gesicht, dann sind Sie in einer halben Stunde dort. Da erhellten sich die Gesichter der Wartenden, denen man die ungeheure Spannung schon an ihren Falten ablesen konnte.
Danke, guter Mann, pflegten die Wandervögel dann überglücklich und sichtlich erleichtert zu antworten und schritten ohne Umschweife, durch die präzise fachmännische Auskunft dieses hervorragenden Kenners der Region in ihrer Absicht bestätigt, dieses Stück Land für sich vereinnahmen zu wollen, sofort tapfer drauf zu, stolz, sich mit einem Einheimischen so wunderbar verstanden zu haben. Erst als sie gegen siebzehn Uhr völlig aufgelöst und kraftlos, mühsam auf ihre Wanderstöcke gestützt, mit den praktischen Fahrradklingeln dran, zurückkamen, um gerade noch die letzte Bahn nach unten zu kriegen, beschwerten sie sich bei der Wirtin, sie wären drei Stunden gelaufen, und die Auskunft dieses Mannes da sei nicht korrekt gewesen.

Unerhört das, man verließe sich sonst auf solche Informationen, hieß es! Solche Wanderstöcke, auch Alpenstangen genannt, mit st, nicht scht, setzten die deutschen Gäste übrigens sehr gerne gegen die auf der staubigen Straße Richtung Falzeben oftmals allzu eiligen Vespa- oder Autofahrer ein, und hielten sie quer über die Fahrbahn, sodass die Fahrer jäh abbremsen mussten. Das führte immer wieder zu Ärger mit den Einheimischen, die ja nicht nur zum Vergnügen auf diesem Wege unterwegs waren. Man kann sich denken, dass sich die Touristen dadurch bei ihnen nicht gerade beliebt gemacht hatten und so kam es immer wieder zu handfesten Auseinandersetzungen, die auf der einen Seite mit „Scheißpiefke, stellt’s aus“, also weicht aus, oder „Geht’s holt oubn aufm Woldweag, eis Oaschlächa!“, (nicht übersetzbar) und auf der anderen Seite „Bloß nich’ so dolle hier, ja, jute Leutchen! Wir wolle’ hier staubfrei!“ ausfielen. Die erschöpften Touristen aber taten der Muata (Mutter), auch Moidl genannt, was so viel wie Maria bedeutete, nicht unbedingt immer leid und so lachte sie nur aus vollem Hals und wünschte ihnen eine gute Reise hinunter nach Meran.

Mein Gott, was habe ich dieses Idyll geliebt! Die Muata hatte mich sofort ins Herz geschlossen. Und mehr noch, als ich mich nicht nur bloß als unnützer Fresser, sondern obendrein noch als geschickter Maler und Erneuerer der Hausfassade erwies. Dieser traditionelle Tiroler Blockbau hatte nicht zuletzt zahlreiche kunstvoll geschnitzte Holzsäulen an den verschiedensten Ecken vorzuweisen, sondern auch unzählige Fensterläden und jede Menge anderes Holzzeug, das nach frischem Lack verlangte. Mir war ohnehin langweilig und so hatte ich eine würdige Beschäftigung gefunden, indem ich lustig den Pinsel in Grün und Weiß tauchte, um dieses höchst ehrwürdige Denkmal bodenständiger Alpen-Architektonik so gut ich es verstand zu verschönern. In diesen Dingen bin ich ziemlich geschickt. Die Muata honorierte meine Arbeit nicht allein durch Lob, sondern ließ sich auch nicht lumpen und steckte mir in nicht allzu langen Intervallen immer wieder Zwei- oder Drei- oder Fünftausend-Lire-Scheine zu, für mich damals eine unglaubliche Menge Geld, welches ich in diversen Jeansboutiquen oder Buch- und auch schon mal Tabakläden in Meran sinnvoll anzulegen verstand.

Nach getaner Arbeit am Vormittag und einem opulenten Knödel-Mahl pflegte ich mich mit meiner Lektüre und einer Lesepfeife in Huckleberry-Finn-Manier in den im schattigen Garten des Anwesens aufgestellten Liegestuhl niederzutun und Karl May zu lesen, vorwiegend jene Romane, die im Morgenland und auf dem Balkan handelten, und zu denen mein Tschibuk also besonders gut zu passen schien, auch wenn mir beim Rauchen dieses filterlosen Kokshammers höllisch die Zunge brannte und mich ein trockener Husten quälte, so als hätte ich schon Tuberkulose.
Die eben erwähnte traditionelle Knödelspeise pflegte man hierorts jeweils in zweierlei Gestalt zu nehmen, einmal zu Wasser, also in der Suppe, und andererseits zu Land, etwa mit Geselchtem oder Gemüse. Dass es sich dabei um Speckknödel handelte, muss für Kenner der Region wohl nicht extra erwähnt werden.
In diesem Liegestuhl ward das Träumen geboren. Wenn ich heute die Augen schließe und mir vorstelle, wie das denn gewesen sei, dann fühle ich vorerst einmal die Sommersonne, wie sie unbarmherzig auf mich herabbrannte. Schließlich wollte ich eine knackige Farbe mit nach Hause bringen. Wenn ich es schaffte, angestrengt durch die engen Sehschlitze meiner Augen die Helligkeit des Lichts zu durchdringen, dann sah ich unter mir die Stadt in sirrendem Dunst liegen, ihre Silhouette in diffuses Licht getaucht. Dahinter die blauen Berge Richtung Mailand.

Noch schöner und fantasieanregender im Licht der frühen Abenddämmerung. Diese Stimmung trug ganz besonders dazu bei, mein Fernweh aufs Äußerste zu strapazieren, und ich sah mich schon mit Schlafsack und Gitarre auf dem Rücken in Richtung Rom unterwegs und dann nach Marokko und eben dorthin, wohin die damaligen Hippies in diesen Jahren normalerweise zu reisen pflegten. Das hatte ungeheuren Nachahmungscharakter, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Mich brennt’s in meinem Reiseschuh, hatte ein Freund damals gesagt. Und schon wurde er per Interpol in halb Europa gesucht. Dort war er aber nicht. Schließlich wurde man seiner in Delhi fündig, und er wurde auf Intervention der Österreichischen Botschaft nach Hause zurückgebracht.
Auf diese Weise wollte ich nicht   e n d e n !   Obwohl – aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht komme ich darauf noch einmal zurück. Aber vorerst musste ich einmal hier bleiben, trotz meiner Grundausstattung für Tramper, mit der ich schon einmal probeweise angereist war, unter elterlichem Schutz und deren Obsorge, untergebracht im vornehmsten Hotel vor Ort, dem Belvedere. Im großen Saal dieses Hauses sollten dann ja auch schließlich die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfinden. Das Hotel stand direkt am Ende des Felsmassivs, welches geradewegs nach Meran hinunter abfiel. Eine Art Adlerhorst, so wie ich es empfand und genoss.

Von da an wusste ich, ich würde nur mehr an erhöhter Stelle wohnen, weil der Blick von oben immer erhabener ist als der von unten hinauf.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16081

Aufgedeckt

Mitte der Woche im Café Bräunerhof. „Junger Mann“, fragte Carl Hofbauer den Kellner, „wo ist denn der Franz heute? Dienstfrei, oder was?“ Der Kellner kam langsam näher, mit einem Geschirrtuch ein Weinglas polierend. „Ja, wissen Sie nicht?“, fragte dieser mit ernster Miene. „Was ist passiert?“, Carl richtete sich neugierig auf. Der Kellner schluckte und räusperte sich, beinahe wie ein Prüfling, dann begann er stockend: „Am vergangenen Freitag – es war schon spät, da ist er gestürzt. Dort, beim Abgang – über die Treppe. Er hat noch gelacht. Zuerst haben wir geglaubt, es ist eh nichts. Aber dann – der Hofrat Meier war noch da – wir haben ihm aufhelfen wollen, aber er hat so gejammert, dass der Meier gesagt hat, da kann man nichts machen, und ich soll die Rettung anrufen. Das hab ich auch gemacht. Die sind gleich da gewesen – Oberschenkelhalsbruch, hat der Arzt gemeint. Sie haben ihn ins AKH gebracht.“ „Aber!“, sagte Carl und schüttelte mitleidig seinen Kopf. „Gestern früh – hat seine Nichte angerufen. Der Herr Franz – ist in der Nacht auf Sonntag – verstorben. Lungenentzündung dazubekommen und ...“
„Was?“ Carl erhob sich ganz langsam von seinem Sitz. „Was sagen S’?“ Carl starrte ins Leere. „Unser - Ober - Franz?“, flüsterte er, und setzte sich ebenso langsam wieder, so, als wäre er plötzlich um Jahrzehnte gealtert. Der Kellner trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Bringen Sie mir bitte – einen Kognak, Herr Rudolf!“, bat Hofbauer sanft, und starrte vor sich hin. „Sehr wohl“, antwortete der Ober und eilte davon, sichtlich erleichtert, von seiner unangenehmen Aufgabe entbunden zu sein.

Zwei Tage später. Josefstädterstraße, Ecke Stozzigasse. „Na alsdann! Jetzt hammas!“, rief Trafikant Hofer aufgeregt, als einer seiner Kunden eben um die Ecke bog, geradewegs auf Hofer zu.
Der konnte gerade noch ausweichen. „Na hallo, hallo!“, rief dieser erschrocken, „Sie rennen mich ja glatt über den Haufen, lieber Herr! Bleiben S’ ruhig! Wie is’ Ihna denn? Regn S’ Ihna net so auf!“
„Na hören Sie, jetzt, wo vielleicht die Russen wieder kommen, soll ich mich nicht aufregen?“
„Wer sagt denn, dass die Russen gleich kommen? Sie, übertreiben S’ nicht! Nur weil sich einer von denen nach Retzbach verflogen hat“, lachte Herr Huber.
„Also Ihren Humor möcht’ ich haben! Damals, im Sechsundfuffziger, da hat’s auch so begonnen. Und schon waren wir an der Grenze. Wissen Sie, was ich meine? Mobil gemacht haben wir. Heute Morgen – die aktive Truppe ist sofort in Alarmbereitschaft gesetzt, haben S’ das nicht gelesen? In den Kasernen ist alles abmarschbereit!“
„Ja, schon – aber, schau’n Sie, wir müssen uns ja ein bisserl wichtigmachen, sonst glauben die womöglich, es ist uns eh alles gleichgültig, wir sind ja ohnehin neutral, nicht? Natürlich müssen wir ein bisserl mit dem Säbel rasseln, aber doch nur zum Schein. Was wolln S’ denn mit unsere paar Mandln? Die Rettung können S’ hin schicken. Vielleicht gibt es ein paar Verletzte oder so. Aber glauben Sie mir, Herr Hofer, bei unserem Status, international gesehen versteht sich, traut sich kein Russ ungestraft über den Zaun spucken. Darauf können S’ Gift nehmen!“

Über diese unverschämte Relativierung blieb Hofer beinahe die Luft weg vor Empörung. „Ja sind Sie noch bei Trost? Ah, Sie glauben, wir haben unser Heer nur zum Spaß, was? Da oben ein bisserl die Geräte durchlüften fahren, oder? Schauen, dass uns der Kader nicht verrostet, wie? Sie möcht ich sehen, wenn Sie alles zusammenpacken müssten, warten Sie nur! Wie damals, im Vierundvierziger! Unsere Bundesregierung weiß sehr gut, was zu tun ist, glauben Sie mir! Das war ganz richtig, dass man die Soldaten hinschickt. Und nicht nur zum Repräsentieren! Merken Sie sich das!“

Huber musste schmunzeln. Er wollte den Hofer ja nicht unnötig strapazieren, also lenkte er reuig ein: „Sie haben ja Recht. Es ist empörend, was sich die Russen da wieder geleistet haben. Die Welt hat über Nacht ihr Gesicht verändert, wirklich! Unter diesem Eindruck - dieser, dieser Invasion - kann man nur erstarren. Ein Überfall ist das!“, sagte er. „Ein Überfall, sehr richtig!“, bestätigte Hofer.
„Wer hätte das gedacht?“, fragte sich Herr Huber, „jetzt haben sie uns den Zeiger der Geschichte wieder um zwölf Jahre zurückgedreht, könnte man meinen.“
„So is’ es!“, sagte Hofer und presste resigniert seine Lippen aufeinander, wobei sein stacheliges Kinn, mit den weißen Bartstoppeln, ein wenig zitterte.

„Wieso hat denn der Breschnew jetzt auf einmal so die Panik?“, fragte der Trafikant, „ich denk, durch wen will er denn den Dubcek und den Svoboda ersetzen?“
„Weiß nicht“, sagte Herr Huber, „das alles hat so den Modergeruch einer Scheinheiligkeit, dem Einmarsch eine gewisse Legalität verleihen zu wollen. Das kennen wir ja zur Genüge aus Moskau. Wir zwei sind ja lange genug auf dieser Welt, gell, Hofer?“
„Ja, ja! Und ich hab gedacht, dass der Kommunismus in den letzten Jahren vielleicht ein bisserl menschlicher und liberaler geworden ist. Einen Schmarren, lieber Herr Huber! Denen ihre Schwäche stützt sich immer noch auf Panzer und Kalaschnikows! Stimmt’s oder hab ich Recht, Herr Huber?“ Huber wiegte nachdenklich sein Haupt und beobachtete einen Hund, der soeben auf dem Gehsteig sein Geschäft verrichtete, während sein Frauerl völlig unbekümmert in die Luft blickte.

„Und wer wird die Sauerei da wegräumen?“, schrie  Huber sie völlig unerwartet an.
Die Hundebesitzerin zuckte erst zusammen, fasste sich aber sofort und konterte: „Kümmern Sie sich gefälligst um ihre eigenen Sachen, Sie Wichtigtuer!“, und zog mit ihrem Hund ab.
„Also Leut’ gibt’s!“, empörte sich nun auch der Trafikant.

Huber war fassungslos. „Unerhört, was?“, meinte er zu Hofer, „und unsereins steigt dann hinein! Die Josefstadt – total verschissen, Hofer! Ein einziges Hundeklo! Und die Politiker schau’n nur blöd. Machen tun sie nichts dagegen. So was! Aber – ich hab gehört, in Prag und Pressburg schießt man auf Zivilisten. Jetzt kommt’s natürlich darauf an. Sie haben ganz Recht gehabt vorhin, ich seh das ja auch so. Wir müssen jetzt eine entschlossene, besonnene und auf die Bewahrung der Unabhängigkeit und Neutralität ausgerichtete Haltung einnehmen. Ganz klar! Dass die alles vorbereiten, was zur Tradition unseres neutralen Landes gehört, damit alles gewahrt bleibt, Sie verstehen, auf dem Gebiet des Asylrechtes und der Hilfsbereitschaft, ist ja in Ordnung. Das wird immer allzu leicht vergessen, wissen Sie? Und einigen ist das überhaupt egal! Gott sei Dank gibt’s noch Grenzen und Zäune, was?“

Hofer nickte. „Natürlich erwarten wir, dass unsere Leute drüben in Sicherheit sind. Oder dass man ihnen ihre Ausreise ungehindert gewährleisten muss, nicht? Und wir mischen uns dafür eben nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten. So ist das!“
„Ja“, sagte Hofer, „wir schauen nur zu.“ Huber sah ihn für kurze Zeit verständnislos an. „Na, was wollen Sie denn dagegen machen?“, fragte er. „Ja, eh!“, meinte Hofer.
Sie gingen langsam in Richtung Trafik. „Ich muss wieder. Mein Herr Sohn da drinnen wird schon nervös sein, weil ich so lange weg bin“, lachte Hofer. „ Ja? Na, hoffentlich hat der sowjetische Hubschrauberpilot wieder zurückgefunden, sonst wird er ein paar Schwierigkeiten kriegen“, meinte Herr Huber abschließend, „und es geht ihm so wie den verschleppten Reformkommunisten – ab nach Sibirien!“, lachte er, „in guter alter Kommunistenmanier! Ha ha!“

Vor dem Verteidigungsministerium am Franz-Josefs-Kai hielt eine schwarze Mercedes-Limousine. Der Chauffeur, in Heeresuniform, niedrigere Charge, kaum dreißig, war bemüht, so rasch er konnte auszusteigen, um das Fahrzeug herum zu eilen und blitzschnell die rückwärtige rechte Türe aufzureißen. Haltung angenommen, mit der Rechten zackig salutierend. Aus stieg ein graumelierter Mittfünfziger im Range eines Oberst, der lässig dankte, indem er mit zwei Fingern an den Rand seines Kappenschildes tippte und, eine schwarze Ledermappe unter den Arm geklemmt, die Treppen zum Ministerium hinaufschritt. Der Chauffeur war inzwischen längst wieder eingestiegen und um die Ecke in Richtung hauseigener Garage abgebogen.

Der Oberst bestieg den Paternoster und fuhr in den dritten Stock, die Ebene des Ministerbüros. Zwei Ordonanzen schlugen die Hacken zusammen. „Geh’n S’, melden S’ mich dem General“, nasalierte der Oberst gelangweilt einem von beiden zu. „Jawoll, Herr Oberst!“ Er machte kehrt und klopfte an die hohe Zweiflügeltür. „Herrrein!“, hörte man von drinnen. Der Gefreite trat ein. Hörbares kurzes Gemurmel. Der Gefreite kam wieder heraus auf den Flur. „Der General lässt bitten, Herr Oberst!“, schnarrte er, Nase nach oben, Blick gerade aus, Kopf in den Nacken geworfen. „Is’ scho’ recht, junger Mann“, antwortete der Oberst und trat ein.
Man hörte Absätze aneinanderknallen. Drinnen: „Servus Ferdinand! Was ist? Wo brennt’s?“, fragte der General seinen alten Freund. „Servus. Wie geht’s dir? Hast was g’hört vom Schorschi? Der Gute ist angeblich geschieden, hab ich gehört. So eine liebe Frau, die Hanni. Na, ich sag’s ja, so eine Ehe ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ „Na, das kannst laut sagen. Und du, sag einmal, wo warst du denn am Samstag? Warum bist nicht nach Baden gekommen? Die Partie war doch lange ausg’macht?“ „Weißt, Fritz, ich war ein bisserl derangiert, vom Freitag noch. Roulette mit dem Oberstleutnant Langstein, du weißt schon, der von der Sophie“, antwortete der Oberst. „Die hübsche Blonde? Die Tochter vom Konsul Müller?“
„Ja, genau die! Siehst du, das merkst du dir“, lachte der Oberst und sah sich im Zimmer ein wenig um. „Noch ist ja nicht alles verloren mit dir, ha ha! Willst mir nichts anbieten, Fritz? Ich hab so eine Migräne! Den ganzen Tag über schon.“
„Verzeih bitte meine Unaufmerksamkeit. Aber hier herinnen - da vergisst sehr schnell deine gute Kinderstube, verstehst? Was willst denn haben? Ich kann die Ordonanz um ein Sekterl in die Kantine schicken, wenn’s d‘ magst?“ „Geh, das wär lieb von dir. Bitte, ja?“

Der General klingelte. Es klopfte. „Herein!“ Der Gefreite von vorhin nahm Haltung an, Kopf nach hinten, in Erwartungshaltung. „Sind S’ lieb, und gehen S’ mir in die Kantine zur Frau Prihoda. Ich lass um einen Pommery bitten, brut, wenn sie hat. Und - lieber Freund, nehmen Sie bitte zwei Sektglasl mit, ich hab ja gar nichts da derzeit!“ Der Gefreite krächzte sein „Jawoll“ und eilte davon.

„Setz dich doch, Ferdi. Erzähl! Was ist? Wenn du schon einmal da aufkreuzt, gibt es sicher einen besonderen Anlass, stimmt’s?“, forderte ihn der General auf. „Da hast auch wieder Recht. Pass auf, es gibt da eine unangenehme Sache, mit so einem Zeitungsreporter. Hat sich mit internen wehrpolitischen Angelegenheiten befasst. Kein Mensch weiß, woher er die Informationen hat. Jetzt ist die Sache nun einmal draußen und der Minister hat Wind davon bekommen. Ich will ja nix sagen, aber wenn’s d ’ mich fragst, steckt der mitten drinnen in dem Schlamassel“, erklärte der Oberst. „Was du nicht sagst?“, tat der General erstaunt. „Und worum geht’s eigentlich? Hat er sich was zu Schulden kommen lassen?“, fragte er. „Bis jetzt noch nicht. Aber wer weiß? Rein vom Gefühl her würd’ ich sagen, es riecht nach Landesverrat.“
„Für den Minister?“
„Nein, für den Journalisten“, betonte der Oberst.

Es klopfte. Die Ordonanz brachte Sekt und Gläser auf einem silbernen Tablett. „Bitte sehr, Herr General. Und die Frau Prihoda lässt schön grüßen und schickt eine paar Sachen zum Knabbern mit!“, sagte der Gefreite und stellte Getränke, Gläser und ein Schüsselchen mit Salzgebäck artig auf einen kleinen Tisch vor der alten Ledercouch. „Jö, dös is’ aber lieb von ihr. Na, ich geh dann eh noch rüber. Zigaretten sind mir auch ausgegangen. Ich dank schön, junger Mann. Können S’ wegtreten“, sagte der General. „Jawoll, wegtreten!“, wiederholte der Soldat zackig, und war zur Tür hinaus.

„Schau, Ferdi! Is’ sie nicht lieb, die Prihoda? Die mag mich ein bisserl, das hab ich eh schon lang bemerkt. Hübsch is’ sie auch noch. Nicht mehr ganz jung, aber knackig! Was, Ferdi?“ Der General kicherte. Der Oberst zündete sich eine Zigarette an.
In der Zwischenzeit machte sich der General am Korken des Pommery zu schaffen. Es knallte. Vorsichtig füllte er beide Gläser, ein jedes nur bis zum ersten Drittel. „Prost Ferdi!“ „Prost Fritz!“ Das erste Glas tranken sie ex. Dann wurde nachgeschenkt. „Also, was is’ jetzt mit dem Journalisten?“, wollte der General weiter wissen. Der Oberst blies den Rauch lässig aus seinem Mundwinkel in die Luft. „Schau, Fritz. Im Arsenal wollen sie die alten amerikanischen Geschütze loswerden. Du weißt schon, die alten SM 43iger. Das hab ich auch schon länger gewusst.“ „Wer tritt als Verkäufer auf?“, fragte der General. „Das is’ es ja eben. Ich weiß es nicht, und das Mil-Kommando weiß auch von nix. Mir kann das ja gleich sein wie nur was. Trotzdem! Blöd is’ nur, dass irgendein Informant aus unseren Reihen die G’schichte an die Journaille weitergegeben hat. Und ich soll das untersuchen. Als ob unsereins sonst nichts zu tun hätte.“ „Also wirklich! Wozu haben wir denn den Abwehrdienst? Sollen die sich doch damit die Finger verbrennen.“

Der General sah eine kurze Zeit zum Donaukanal hinunter und beobachtete ein vorbeifahrendes Ausflugsschiff. „Dort an Deck, in der Sonne liegen, Ferdi, das wär jetzt fein, wie?“, sagte er. „Fahrt eins vorbei?“, fragte der Oberst. „Ja! Die Vindobona. Kann man halt nix machen. Prost, Ferdi! Um halb vier geh ich, dass steht fest. Was willst du jetzt machen?“ Der Oberst ließ sich den Champagner schmecken und meinte dann schließlich: „Na ja, ich werd einmal im Planungsstab fragen, wer ihrer Meinung nach eventuell infrage kommen könnte, tät ich einmal sagen.“ „Sehr richtig!“, bestärkte ihn der General, „ich glaub, das ist das G’scheiteste. Und die sollen das an das Kommando melden und der Rest, Ferdi, der wird sich schon finden, nicht wahr?“ „Hoffentlich ist das so einfach, wie du dir das vorstellst. Wenn der Minister drinnensteckt, dann möchte ich nicht in seiner Haut ...“ Der Oberst stockte. „Hört man uns da draußen?“, fragte er. „Geh! Wie kommst denn da drauf? Sind ja alte Türen. Die halten dicht!“, lachte der General.

Es konnten drei Wochen vergangen sein, auch vier. Dienstagvormittag. Sollten die Blicke zufällig auf den Parkettboden vor Hans Kleins Bett in dessen Schlafzimmer gefallen sein, ließen sich hier ganz leicht offensichtlich hastig ausgezogene, weibliche Kleidungsstücke erkennen, wie etwa eine eilig hinabgerollte Strumpfhose, in Manier einer Schlangenhäutung, mit dazugehörigem Slip samt Einlage, eingebettet in ausgewaschene Jeans, einem friedlichen Nest gleich, aus dem soeben geschlüpft worden war, wobei sich das Küken offensichtlich direkt in das geräumige Doppelbett des Herrn Klein verirrt hatte. Daneben kleinnummrige Tennisschuhe, nicht mehr so ganz blütenweiß, aus Leinen, nebst einem knallgelben T-Shirt mit Mick-Jagger-Kopf -Aufdruck, unter dem die Worte standen „Make Love, Not War!“
Über dem Bett hing ein vielversprechendes Plakat mit einer spärlich angezogenen jungen Dame darauf, auf dem gleichfalls ein Spruch stand, allerdings etwas länger als jener auf dem T-Shirt: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment! Daneben hing ein Plakat mit der Silhouette des Kopfes von Che Guevara. „Sag mir, dass du mich liebst!“, säuselte eine verschlafene Stimme neben Hans Kleins Ohr. Klein zog die Bettdecke über seinen und den Kopf des jungen Mädchens. „Jaaa! Total, echt!“, seufzte er, woraufhin seine Hände offensichtlich erfolgreich, im Schutz der Daune, nach ganz bestimmten Stellen ihres verführerischen Körpers zu suchen begonnen hatten, wie mühelos den anfangs noch hysterisch quietschenden, schon bald aber sich eher lustvoll steigernden Seufzern der jungen Dame zu entnehmen war, die sich nach und nach unter Kleins infernalisches Bariton-Geächze zu mischen begonnen hatten.

In der Folge entstand bald darauf ein Gewühl, welches in scheinbar qualvoll ansteigender, dann auch wieder abfallender Intensität Ekstase signalisierte, die wohl eine gute dreiviertel Stunde oder auch länger gedauert haben mochte, als plötzlich die Türglocke schrillte. „Wer is’n das?“, wunderte sich Klein und hielt in einer eben erst heftig ausgeführten Bewegung jäh inne. „Bitteee!“, hauchte die Stimme unter dem Bettzeug flehend, „nicht aufhören – jeeetzt!“ Hans wurde unruhig. Es läutete abermals. Diesmal länger. „Verdammt!“ Hans kroch aus dem Bett, raffte seinen Schlafrock zusammen, schlüpfte ungeschickt hinein und eilte ins Bad. Draußen läutete es wie verrückt. „Aufmachen! Herr Klein? Sind Sie zuhause? Machen Sie auf! Staatspolizei! Öffnen Sie!“
Dann wurde an die Tür gepocht. Wieder schrillte die Glocke. Hans wurde mulmig in der Magengegend. Was wollte die Staatspolizei bei ihm? Weswegen? Falschparken konnte es nicht sein. Ausgeschlossen! Hans eilte zur Tür. Die Polizisten trommelten wie verrückt. „Ja, ja! Ich komm ja schon. Sie schlagen ja die Tür ein!“, rief Hans und öffnete. „Sind Sie Johann Klein?“, fragte ein Staatspolizist in Zivil. „Ja, ja. Bitte?“ „Zieh’n Sie sich an! Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor!“ „Was?“ „Fragen S’ nicht lang, zieh’n sie sich an und kommen S’ mit!“, sagte der Beamte forsch. „Sofort, gleich“, antwortete Hans leise und lief ins Schlafzimmer. „Annemarie! Ich bin verhaftet!“, keuchte er und zog sich hastig die Hose an. „Spinnst du, oder was?“, fragte das Mädchen, wobei sie Hans ungläubig ansah. „Los! Aufstehen. Komm, komm, komm! Du musst weg!“

Hans hatte nicht bemerkt, dass die Beamten längst im Flur standen. Es klopfte an der Schlafzimmertüre. Die beiden fuhren erschrocken zusammen. „Hausdurchsuchung! Wer sind Sie denn?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Annemarie ...“„Sind Sie die Gattin?“ „Äh, nein ...“, „Aha! Dann raus, aber ein bisschen dalli, ja?“ „Ich geh ja schon“, sagte Annemarie verstört und zog sich hinter dem Kleiderschrank an. „Darf man fragen, wie alt Sie sind, Fräulein?“, fragte derselbe noch einmal. „Neunzehn“, antwortete Annemarie. „Da schau her! Haben wir einen Ausweis dabei?“ „Ja, ja, sicherlich. Studentenausweis. Hier!“ Sie reichte dem Polizisten den gelben, leicht zerknitterten Karton. Dieser warf einen Blick drauf. „Na, zum Studieren kommen Sie wohl nicht so viel, was?“, bemerkte der Beamte zynisch, und gab ihr den Ausweis zurück. Sie verabschiedete sich von Hans und schlug die Tür hinter sich zu. „Fertig, Herr Klein?“, fragte der mit der Igelfrisur. „Ja.“ „Dann setzen Sie sich einen Augenblick hier hin. Wir machen jetzt eine Hausdurchsuchung“, sagte er und zeigte Hans den schriftlichen Befehl. „Das können Sie nicht machen! Das ist ja unerhört!“, rief Hans und sprang auf. „Sitzenbleiben, sonst lernen S’ mich kennen! Wir können auch ganz anders, verstehen Sie, lieber Herr?“, drohte der Polizist.

Gleichzeitig begannen vier Beamte, Kleins Wohnung von unten nach oben zu durchwühlen. Schubladen wurden herausgezogen, Papiere durchforstet, Schränke geöffnet und untersucht. Hin und wieder landete ein Schriftstück in einem mitgebrachten Karton. „Ah, da schau her! Der Herr Redakteur liest Playboy und solche Sachen!“, lachte einer von ihnen. „Seit wann kann man denn das lesen?“, scherzte ein anderer. Hans kochte innerlich vor Wut. Aber es half nichts. Da musste er durch. Nach einer halben Stunde waren sie offensichtlich fertig. „Nichts zur Sache gefunden, Herr Major!“, meldete einer der Polizisten. „Gut. Herr Klein, wir können gehen!“

Sie versperrten die Türe, und verklebten sie mit einem Siegel. Vis-à-vis steckte die Nachbarin neugierig den Kopf zur Türe heraus. Hans schnitt ihr eine Grimasse. Dann gingen sie die Treppen hinunter zu den Fahrzeugen, die am Gehsteigrand parkten. Hans Klein wurde auf einen Rücksitz geschubst, links und rechts je ein Beamter, wie bei einem Schwerverbrecher. „Vielleicht legen Sie mir noch Handschellen an, was?“, ärgerte er sich. „Können S’ haben, wenn Sie wollen“, sagte einer von ihnen ruppig, „ich hab rein zufällig welche dabei!“ Dann fuhren sie ab.

Etwa zur selben Zeit in einer Kaserne im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Ein VW-Variant Kombi der Militärstreife näherte sich dem Wachposten. Ohne besondere Formalitäten ging der Balken hoch. Der diensthabende Wachsoldat stand stramm und salutierte. Das Fahrzeug führ in den rückwärtigen Hof der Kaserne und hielt an jenem Platz, wo zwei militärgraue Blechbaracken standen. Zwei Polizisten stiegen aus. Weiße Schirmmützen, weiße Lederriemen und Pistolentaschen, Armbinden der Militärstreife - und gingen in die zweite Baracke. Der dort sitzende Korporal vom Dienst sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. Eine Kaffeeschale auf seinem kleinen Tischchen kippte um. Der Kaffee ergoss sich auf die Standesliste und tränkte sie gelbbraun. „Melde – Wehrmann Dunst als KVT – 2. Kompanie, 1. Zug“, stotterte der junge Waldviertler, dem allein schon beim Anblick der Militärpolizisten die Luft weggeblieben war, ganz zu schweigen von den Geschichten, die sich um die Militärstreife rankten, und von denen er gehört hatte. „Alle auf ihren Dienststellen – bis auf den diensthabenden Unteroffizier!“, fügte er hinzu, kreidebleich.

Einer der beiden Polizisten grinste. „Jetzt können S’ die Listen noch einmal schreiben, was?“ Der Rekrut war verunsichert. Sollte er lächeln? Oder gar schon bequem stehen? Nein, er blieb bei seiner starren Haltung. Man konnte ja nicht wissen. „Wo ist der Spieß?“, erkundigte sich der andere. „Hinten, in der Kanzlei“, verwies ihn der Soldat, schon etwas erleichtert. Der Polizist bedankte sich. Sie gingen nach hinten. Offizierstellvertreter Weiß hatte sie kommen hören und stand schon auf dem asphaltierten Flur. Auch er grüßte sofort militärisch, etwas verunsichert vielleicht, und nicht ganz so zackig wie der Jungmann hinter seinem Tisch, aber immerhin. „Kommt’s ihr zu uns?“, fragte er auch gleich, um ihnen zuvorzukommen. „Servus, Weiß“, grüßte der eine, „ist der Oberleutnant Kosazky anwesend?“ „Ach der, nein. Soviel ich weiß, müsste er in seiner Dienststelle sein. Aber wart einmal, der hat heute OVT. Die Übergabe ist jetzt um halb. Eigentlich sollte er schon da sein. Ich schau gleich.“

Weiß lief zum letzten Zimmer der Baracke, drehte aber gleich wieder um, denn plötzlich war ihm eingefallen: „Er war ja im Ministerium heute, das weiß ich bestimmt!“, teilte er ihnen mit, völlig außer Atem. „Danke“, sagte der eine, „warten wir eben hier bei dir auf ihn. Gibt’s einen Kaffee?“ „Kaffee? In der Küche. Ordonanz!“, brüllte er auf den Gang hinaus, „Dunst, Sie Depp! Holen S’ zwei Kaffee aus der Kantine. Und ja nichts ausschütten! Verstanden?“ „Jawoll!“ Der junge Mann eilte über den Kasernenhof in Richtung Küchengebäude. „Was? Den aus der Blechkanne? Habt’s ihr keine Espressomaschine da?“, fragte der Oberwachtmeister enttäuscht. „Tut mir leid! Ist nicht bewilligt worden. Unser Chef hat eine beantragt. Aber – ist leider nicht bewilligt worden.“ „Vielleicht ist er nicht gut angeschrieben beim Wirtschaftler?“, lachte der Polizist, „euer Oberstleutnant? Wundern tät’s mich nicht, was, Eder?“ Der andere nickte verständnisvoll und grinste.

Offizierstellvertreter Weiß hob nur seine Schultern und machte eine Miene, als ob er überhaupt nicht wüsste, was die beiden meinten. In diesem Augenblick ging die Türe zur Baracke auf. Oberleutnant Kosazky eilte in Richtung Dienstzimmer den Gang entlang. Als er an der Kanzlei vorbeikam, verstellten ihm plötzlich die zwei Militärpolizisten den Weg. „Oberleutnant Kosazky?“, fragte der eine. „Ja?“ „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie ...“, der Vizeleutnant stockte, er räusperte sich, „verzeih’n Sie, Herr Oberleutnant, wir haben Befehl, Sie mitzunehmen.“ Kosazky zog die Brauen hoch. „Was sagen S’ da?“ „Wir müssen Sie – äh, in Gewahrsam nehmen und dem Generalmajor Hohenegg vorführen.“ „Und darf ich auch erfahren, worum’s geht?“, fragte der Oberleutnant, sichtlich nervös. „Tut mir Leid. Das wollen Ihnen die Herren selber sagen. Ersuche höflich, dass Sie Ihre Sachen gleich mitnehmen. Und ...“, er griff nach Kosazkys Aktentasche, „die muss ich leider beschlagnahmen. Vorschrift!“

Offizierstellvertreter Weiß stand hinter den beiden Militärstreifenpolizisten und hob und senkte in einem fort seine Schultern, so, als wollte er bedauern und zeigen, und dass er nichts dafür konnte, und dass alles so plötzlich gekommen war. Kosazky warf seinen Kopf stolz in den Nacken und wollte seinen Weg in Richtung Dienstzimmer fortsetzen. Die beiden Polizisten folgten ihm. „Sie warten hier!“, befahl er streng, „das wär ja noch schöner.“ Die beiden schreckten zurück. „Komm, Eder, wir trinken derweil den Kaffee“, sagte der Vizeleutnant gedämpft. Sie kehrten um. Soeben brachte Wehrmann Dunst zwei Tassen Kaffee. „Bitte sehr!“, sagte er und stellte sie auf den Schreibtisch. Weiß wollte protestieren, da saßen die Polizisten bereits am Tisch und bedienten sich. „Dankeschön, junger Mann!“, sagte Oberwachtmeister Eder. Der KVT kehrte zufrieden wieder an sein Tischchen zurück, und versuchte umständlich, das durchtränkte Standesführungsblatt zu trocknen. Schließlich war Kosazky zum Abmarsch bereit. „Gehen wir!“, sagte er trocken.

Die Militärstreifen-Männer hatten ausgetrunken und erhoben sich. Gemeinsam gingen sie nach draußen, wo das Fahrzeug stand. Eder schaltete das Blaulicht ein. „Drehn S’ das ab!“, befahl Kosazky, „wir sind ja hier nicht in Chicago!“
Nachdem die Wohnung Oberleutnant Kosazkys ebenso durchsucht worden war wie die des Redakteurs Hans Klein, kam es einige Wochen später im Straflandesgericht bereits zu ersten Verhandlungen. Verteidiger Wolfgang Braun ging mit den Anklägern ziemlich hart ins Gericht. Unter der Anwesenheit Kleins, Kosazkys und dessen Verteidiger, wie auch von zahlreichen Angehörigen von Militär und Presse sagte er: „Und ich meine, verehrte Anwesende, das, was hier passiert, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheit der journalistischen Berufsausübung seitens der Behörden! Faktum ist nun eines: Ein Journalist hat sich ganz offensichtlich mit wehrpolitischen Angelegenheiten beschäftigt und äh - einen brisanten Artikel verfasst. Daraufhin wurden Pressepolizei, Staatspolizei, Staatsanwaltschaft und sogar der militärische Abwehrdienst auf ihn angesetzt.

Man hat den Informanten ausfindig gemacht. Auch gut. Das hat dem Militär intern sehr geschadet. Das sehe ich auch ein. Was ich nicht einsehe, ist, dass man beiden Herren in einer Art zugesetzt hat, die, kann ich nur sagen, menschenunwürdig ist! Jawohl! Menschenunwürdig! Man hat sie aus ihren Dienststellen geholt ...“, „Ja, aus dem Bett!“, rief einer der Zeugen, ein Staatspolizist. „Ruhe!“, schnitt ihm der Richter das Wort ab. „... sie in ein Einsatzfahrzeug verfrachtet und dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Das soll doch wohl ein Witz sein?“ Der Verteidiger war noch lauter geworden. „Je sechs Mann haben die Wohnungen der beiden Angeklagten durchsucht. Auch den Landsitz des Herrn Oberleutnant! Und die Wohnung von Herrn Kleins Eltern. Peinlich, sowas, finden Sie nicht?“ Der Verteidiger schnäuzte sich.

Die Anwesenden unterhielten sich leise. „Ruhe!“, forderte sie der Richter auf, „Herr Verteidiger, fahren Sie fort!“ „Zwei Tage später hat man die beiden fünf Stunden lang verhört. Klein hat man nicht einmal gestattet, in seiner Dienststelle anzurufen, damit er sich entschuldigen konnte. Herr Oberleutnant Kosazky unterliegt in seinem Vorgehen als Informant selbstverständlich der Dienstaufsichtsbehörde, das ist mir schon klar. Ich finde es nur kurios, verehrte Anwesende, dass die wahren Urheber dieser Angelegenheit heute nicht zu unserer Verfügung stehen können. Das sind – nämlich der Herr Verteidigungsminister und noch ein paar sehr prominente Persönlichkeiten!“, donnerte der Verteidiger.

Im Saal wurde es laut. „Ruhe!“, rief der Richter abermals und griff zum Hammer. Der Verteidiger ergriff abermals das Wort. „Wir sind ein neutrales Land. Oder etwa nicht? Wie kommt es, dass sich Politiker und Militärs dieses Landes am Waffengesetz vergehen? Wo sind hier die wahren Schuldigen, die in dieser Sache zur Verantwortung gezogen werden müssten, Herr Rat?“, er blickte den Richter fragend an. „Ich teile vollkommen Ihre Ansicht“, sagte der Richter. „Nun verstehe ich auch die Übereifrigkeit des Verteidigungsministeriums“, sagte der Verteidiger etwas gemäßigter als vorhin, „ damit wollte man einer bereits geahnten Vorverurteilung wohl zuvorkommen, wie? Da hat man Herrn Klein ganz einfach der Ausspähung bezichtigt! So einfach ist das. Ihn hat man stundenlang verhört, unter erschwerten Bedingungen. Es ist an der Zeit, und ich bin längst dafür, sich in dieser Angelegenheit dringend an die Öffentlichkeit zu wenden, meine Herren von der Presse!“, sagte er zu den Reportern gewandt.
„Die Vorgangsweise der Behörden, die sich vor allem gegen das grundlegende Recht der Wahrung des Redaktionsgeheimnisses und den Schutz der journalistischen Informationsquelle gerichtet hat, ist hiermit entschieden zurückzuweisen! Handelt es sich dabei doch immerhin um die Grundsäulen der journalistischen Arbeit! Wer an ihnen rüttelt, öffnet Türen für die Farce einer Rechtsprechung, die in einer Demokratie nichts zu suchen hat! In diesem Sinne schlage ich daher vor, in erster Linie den Paragraphen über die Ausspähung als nicht geeignetes Mittel im Sinne der Pressefreiheit zu behandeln und plädiere in logischer Konsequenz seiner Unanwendbarkeit für die Entlastung meines Klienten. Ich danke Ihnen, meine Herren!“, schloss der Verteidiger und setzte sich erschöpft, Schweißperlen auf der Stirn.

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Nach einer halben Stunde war man zurück und verkündete das Urteil. Oberleutnant Kosazky und Hans Klein wurden beide freigesprochen. Die Justizbehörden stellten das Verfahren ein. Kosazky fasste seitens seiner Dienststelle ein Disziplinarverfahren wegen unerlaubter Einsichtnahme eines Aktes aus, wurde jedoch nicht degradiert. Hans Klein wechselte bald danach zu den „Nachrichten“, und entging so dem jämmerlichen Ende der „Kleinen Österreichischen“.

Norbert Johannes Prenner

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Bamboo

Was hat die Schlacht bei Mogersdorf mit Bambus zu tun, könnte man fragen. So direkt gesehen – eigentlich nichts. Und doch – ich werde versuchen, ob ich nicht doch eine gewisse Chronologie in die ganze Sache bringen kann.

Man schrieb das Jahr, nicht 1664, nein, sondern 2008, als ein lieber Freund auf Drängen seiner geliebten Gattin, der besten Ehefrau von allen (dieser Begriff dürfte von Ephraim Kishon rechtlich geschützt sein, aber mein Freund verwendete ihn trotzdem, es könnte doch durchaus sein, dass es mehrere beste Ehefrauen von allen gab) sich dazu überreden ließ, einen Tagesausflug nach St. Gotthard, genauer gesagt nach Szentgotthárd in Ungarn, einer Kleinstadt mit etwa 9000 Einwohnern, nahe dem burgenländischen Mogersdorf zu unternehmen.
Der liebe gute Freund willigte also ein, und so fuhren die beiden in diesen für sie bis dato völlig unbekannten Ort, dessen Geschichte überdies äußerst bemerkenswert ist. Warum? Nun, weil in dieser Gegend eine der berühmtesten Schlachten zwischen Orient und Okzident ausgetragen worden ist, nämlich die Schlacht bei Szentgotthárd, die nach individueller neuerer Geschichtsschreibung eigentlich stets die Schlacht bei Mogersdorf genannt wurde. Und dieses Mogersdorf liegt nun einmal im heutigen Burgenland.

Warum jedoch diese Uneinigkeit wegen einer Schlacht, könnte man nun wiederum fragen? Das kommt daher, weil 1664 offensichtlich Mogersdorf der Mittelpunkt dieses Gemetzels zwischen Muselmanen und Christen gewesen sein soll. Irgendwann hat man dann den Ort der Schlacht von ursprünglich Szentgotthárd Mogersdorf zugeschrieben, um dort ungestört eine eigene Gedenkstätte errichten zu können, so wie es bei uns ja auch nichts Besonderes ist, dass manche Bundesländer sogar ihren Schutzheiligen auswechseln, wenn sie seiner überdrüssig geworden sind.

Außerhalb Österreichs ist die Auseinandersetzung von 1664 immer noch als Schlacht von St. Gotthard bekannt, was den Eindruck verstärkt, dass der Erinnerung an sie, vor allem im Burgenland, vermehrt identitätsstiftende Wirkung zukommen sollte.
Aber darum geht’s eigentlich gar nicht in dieser Geschichte. Es geht vielmehr darum, dass mein lieber Freund und dessen Gattin nach Besichtigung des Ortes und dessen ebensoberühmter und schönster Barockkirche Ungarns, die wegen ihrer hervorragenden Akustik ein idealer Platz für Orgelkonzerte ist, unter anderem auch eine Gärtnerei entdeckt hatten.

Nachdem sie die zahlreichen Pflänzchen und Bäumchen und Sträuchlein gebührend bewundert hatten, wurden sie im hintersten Winkel des Glashauses eines Stöckchens mit: jö, ein Bambus!, genau, eines Bambus‘, in der Größenordnung eines Bonsai gewahr, aus dem drei, vier blassgrüne Hälmchen in etwas trockener Erde ihr trauriges Dasein in einem winzigen Tongeschirr fristeten.
Diesen am Fensterbrett in der Stadtwohnung zu hegen und zu pflegen durfte nicht viel Arbeit in Anspruch nehmen, überlegten die beiden und kauften das arme Ding für ein paar Forint, in der Absicht, ihm daheim ein besseres Leben als hier bieten zu wollen. So weit, so gut.

Wäre da nicht auch noch das Wochenendhaus meiner lieben Freunde gewesen, mit einem wunderschönen wilden Garten und einer ebenso wilden Terrasse, von wo aus man die ganze Wildheit seiner Natur von einem wackeligen Kaffeetischchen aus gut überblicken konnte. So weit, so gut.
Der Bonsai durfte sozusagen vom Schoß der Hausherrin aus also gleich einmal diesen Blick ausreichend genießen, sobald man hier angekommen war und den obligaten Kaffee genommen hatte. Wer von den beiden hätte gedacht, dass das der Moment einer folgenschweren Entscheidung war? Ob man das arme Ding, die Rede war vom Bonsai, nicht am oberen Ende des Gartens einfach in die Erde setzen wolle, vielleicht erholte er sich dort oben schneller, und wenn aus ihm ein richtiger Bambus geworden war, könne man ihn ja immer noch in einen größeren Topf umsetzen und dann mit in die Stadt nehmen.

Gesagt getan. Der Bonsai kriegte einen Ehrenplatz inmitten von Flieder und Pfingstrosen, zwischen Trauerweide und Apfelbaum. Was wollte er mehr? Aber er wollte mehr. Schon nach einem knappen Jahr hatte er mindestens zwanzig süße kleine grüne Triebe rund um sich verteilt geboren und mein lieber guter Freund und dessen teuerste Gattin hatten ihre große Freude an dem vermehrungsfreudigen Gesträuch. Und da er demnach in der Genesungsphase war, einer Art Pflanzenrehab, ließ man ihn in Ruhe und ihn und seinen Trieben selbständig überlassen.

Ein weiteres Jahr verging. Mein lieber Freund hatte beim wöchentlichen Rasenmähen zwar bereits bemerkt, dass er rund um den Bonsai so manch einen seiner triebhaften Auswüchse mitmähte und sich herzlich wenig darum gekümmert, wie viele neue Triebe dabei gewesen waren. Doch langsam wurde er stutzig, als er diese zu zählen begann und auf die Zahl fünfundsechzig kam. Er überlegte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
Also sagte er zur besten Ehefrau von allen, du Hasi, ich glaub, man muss unseren kleinen Bambus da oben ein wenig in die Schranken weisen, denn der glaubt, dass ihm der Garten hier allein gehört.
Mach nur, sagte die Hasi, und daraufhin begann mein lieber guter Freund, einen im Radius etwa zwei Meter großen Kreis um den Bambus zu mähen.
So, sagte er zufrieden, als er sein Werk betrachtete, und von nun an bist du hier eingezäunt und hast dich nicht über die Demarkationslinie zu bewegen. Was er aber nicht wusste, war, dass sich der Bonsai herzlich ins Wurzelchen lachte und dachte, mein lieber Guter, du kannst mich mal, denn ich wachse dorthin, wohin es mir passt, und damit Schluss!

Wieder war ein Jahr vergangen. Der störrische Bonsai hatte die gedachte und sinnvoll gemähte Linie bereits zum hundertsten Mal übertreten und mein lieber guter Freund kam gar nicht mehr nach, dessen ausufernde Triebe abzumähen und umzuschneiden.
So, aber irgendwann reicht’s, hatte er zu seiner Hasi gesagt, nämlich jetzt! Was meinst du? Der Kerl schert sich einen Dreck um die Grenzen, die ich ihm gesetzt habe. Und das bedeutet Krieg!
Naja, wenn du meinst, antwortete die beste Ehefrau von allen, tu halt was, aber tu ihm nix!

Und mein lieber Freund tat etwas. Also holte er Krampen und Spitzhacke und begann, einen dieser Triebe bis hin zum Wurzelstock auszugraben. Unglaublich, aber er legte eine sieben Meter lange und fingerdicke Wurzel frei, die sich wie ein Tentakel, gleich einer Riesenkrake, ziemlich knapp unter der Rasenoberfläche dahingeschlängelt hatte und am Ende mit ihrem borstigen Pinsel hämisch „sprießend“ aus dem Rasen ragte.
Das ist ein Rhizom, hatte ihn der Nachbar belehrt und argwöhnisch über den Zaun geblickt.
Mein lieber guter Freund hatte damals nicht verstanden, was diesen denn sein Bonsai anginge. Aber er kriegte bald heraus, warum jener so skeptisch auf das Unkraut geäugt hatte, dann nämlich, als er bemerkte, wie munter sich Bonsais Triebchen frech unter dem Zaun hindurchgegraben hatten und sich in Nachbars Garten an der warmen Frühlingssonne erfreuten.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war meinem lieben guten Freund klar geworden, man musste Schluss machen mit seinem Kommando! Schluss machen, wiederholte er, wie Captain Willard in Apokalypse Now, mit dem Kommando des im Dschungel von Vietnam verrückt gewordenen Colonels Walter E. Kurtz.
Mein lieber guter Freund fasste also den offiziellen Entschluss, den abtrünnigen Bonsai zu liquidieren. Dieser hatte sich von der guten Absicht, ihm optisch das Leben zu verschönen, völlig distanziert und ließ sich nun nicht mehr kontrollieren. Im Dschungel des im Gartenkrieg bisher neutralen Nachbarlandes hatte er sich ein eigenes „Reich“ aus desertierten Rhizomen aufgebaut, über das er nun vereinnahmend und gebieterisch herrschte.

An Ausgraben und in einem Blumentopf mit in die Stadt nehmen war von jetzt an nicht mehr zu denken. Es gab nur eine Lösung, vorerst einen Graben drumherum anlegen und die Auswüchse dort abfangen, wo sie aus dem Boden schossen. Das war Plan A. Sobald die Fangarme diesen überragen würden, konnte man sie bequem kappen, dachte mein lieber guter Freund.
Plan B sah vor, alle Triebe, die über die gegrabene Rinne wucherten, in Bodenniveau abzuschneiden, und zu warten, bis sich neue Triebe bildeten. Dann käme Agent Orange zum Einsatz, oder noch besser – Napalm! Nein, dann also irgendein Pflanzenvernichtungsmittel, ehe es noch verboten würde. Im Schuppen würde sich so etwas ja wohl finden lassen, dachte er. Auch würde er die neuen Triebe außerhalb des Grabens mit dem Spaten durchtrennen und die kleineren Wurzelstöcke zerteilen.

Aber zuvor musste man alle sternförmig ausgehenden Triebe im Boden ausgraben. Keine leichte Arbeit. Mein lieber guter Freund grub und grub und zerrte und zog und fluchte, bis ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht rann. Ich krieg dich, keuchte er dabei völlig außer Atem, und wenn du dich bis in den Nachbarort vermehrst. Ich mach dir den Garaus! Ich werde dich an den Wurzeln packen und dich ausreißen, du Aas, schrie er vor Zorn und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur noch die Augen fehlten, um sie zu einem tierischen Monster werden zu lassen, vermutete.
Da! Und da! Ich werd’s dir geben! Und nimm diesen! Und ich geb dir den Rest! Dieses Spiel trieb er so lange, bis er atemlos zusammenbrach.

Völlig erschöpft fand ihn die beste Ehefrau von allen nach Stunden auf dem Rücken liegend und nach Luft japsend im oberen Teil des Gartens. Wasser, stöhnte er, indem er den Kopf geschwächt ein wenig hob, um ihn danach wie leblos ins Gras sinken zu lassen. Die beste Ehefrau von allen wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Wasser, oder gleich die Ambulanz holen. Sie entschied sich für die Ambulanz. Zwanzig Minuten später war das Tatütata des Notarztwagens zu hören. Die Wagenbesatzung stürmte den Garten hinauf und erreichte in Sekundenschnelle das bewusstlose Opfer.
Der Sanitätsarzt kniete nieder, fühlte den Puls, legte das Blutdruckgerät an und hieß den Sanitäter, eine Kanüle in die Vene des linken Unterarms zu setzen. Flugs hing eine Infusionsflasche dran, als gleichzeitig auch schon das Knattern des Rettungshubschraubers zu hören war.

Der Helikopter kreiste zunächst unschlüssig über dem Hause und suchte nach einem geeigneten Landeplatz, wie ein großer Vogel, der nach seiner Beute Ausschau hielt. Die Beute sollte mein lieber guter Freund sein, der im Koma lag. Schließlich setzte er sich behutsam wie eine Krähe auf die benachbarte Wiese. Die Besatzung wartete auf weitere Befehle des Rettungskommandos.
Doch da erhob sich der Arzt schwerfällig aus seiner Hocke, winkte hinüber und rief dem Piloten zu, zu spät! Es ist zu spät. Da ist nichts zu machen, sagte er resignierend und entfernte die diversen Instrumente, um sie bedächtig wieder in seiner Tasche zu verstauen. Er zog die Kanüle aus dem Arm meines Freundes und reichte sie seiner Gattin, sie möge sie entsorgen und fügte ein leises „mein Beileid“ dran. Die beste Ehefrau von allen heulte und rang die Hände. Sie stürzte über ihren toten Gatten und küsste seine heißen Wangen. Die Umstehenden wichen betroffen zurück.

Nein! Also so geht das wirklich nicht. Nein nein! Zurück! Alles zurück! Noch einmal. Das Ganze von vorn. Wo kommen wir denn da hin, bei so einem Ende? Wie soll denn das weitergehen? Jetzt aber: … und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur Augen fehlten ... und so weiter. Aber da kam ihm plötzlich eine Idee. Er ließ das Werkzeug fallen und eilte zum Haus hinunter, um zu telefonieren.

Monate vergingen. Mein lieber guter Freund und dessen Gattin, die beste Ehefrau von allen, lagen, sonnenbeschienen, behaglich in ihren Luxusteakholzliegestühlen in ihrem Garten, von denen aus sie bequem all die putzigen Pandabären beobachten konnten, die sich in den Ästen der alten Apfel- und Kirschbäume vergnügten. Manch einer von ihnen kletterte gar die hohe Trauerweide hinauf, deren Äste oft schon brüchig geworden waren. Aus schlanken Gläsern schlürften meine beiden Freunde kühle Drinks über lange Strohhalme.
Ab und zu kletterte einer der Bären herunter und labte sich an den sattgrünen Blättern des üppigen Bambuswaldes, der mittlerweile mehr als die Hälfte des Grundstückes für sich vereinnahmt hatte. In Fünfminutenabständen kamen Besucher, warfen Zwei-Euro-Münzen in einen dafür vorgesehen Karton und bestaunten dieses außergewöhnliche Schauspiel, um, nach Ablauf der Betrachtungsfrist, anderen Zaungästen Platz zu machen, denn so groß war der Garten nun wiederum auch nicht. Mein lieber guter Freund und seine Gattin lächelten sich gelangweilt an, nickten sich gegenseitig wohlwollend zu und genossen ihr neues unternehmerisches Dasein in vollen Zügen, wie jeder, der die Situation beurteilen wollte, unschwer festzustellen vermochte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 16076

Kusch

Endlich ein warmer Tag! Nach einem halben Jahr Winter sehnen sich Körper und Seele nach der Sonne wie die Blumen nach dem Wasser. Da ist mein Rad. Mein italienisches Rennrad. Nicht unbedingt das neueste Modell. Muss ja nicht unbedingt sein. Den Winter über in der Garage gestanden. Von Spinnweben überzogen befreie ich es erstmal davon. Ich fahre immer wieder dieselbe Strecke. Egal. Ich werde nicht müde dabei. Im Gegenteil. Ich kenne jetzt beinahe jeden Maulwurfshügel, der den Radweg säumt. Ok, die neuen unter ihnen natürlich nicht. Aber immerhin jedes Schlagloch. Die Reifen meines Bikes sind sehr schmal. Jeder größere Stein könnte die Felge beschädigen. Man muss höllisch aufpassen, damit das nicht passiert.

Unglaublich, wie viele Grüns die Landschaft zu bieten hat. Dort vorne ist ein Rapsfeld. Das ist gelb. Und wie gelb! Der süße Geruch steigt in die Nase. Über mir fiept ein Falke. Hat wohl ein Mäuschen ausgemacht im Acker. Arme Maus. Jetzt bist du dran! Ich aber schon auch, gell. Denn da vorne ist ein Gartentor offen und auf der Rasenfläche steht ein – ein Dobermann. Nein, ein Rottweiler, dessen Hinterteil mir zugewandt ist. Ich höre kurz zu treten auf. Die Zahnräder meines Rades surren munter weiter. Ob er das hört? Was tu ich, wenn der herausrennt? Ich habe eine kurze Hose an. Die nackten Waden drängen sich förmlich auf, hineinzubeißen. Gleich bin ich vorüber. Bis jetzt hat er sich nicht umgedreht. Er bemerkt mich gar nicht, der Unhold, der nachlässige. Ich würde ihm heute das Futter verweigern. Was für eine Dienstauffassung! Uff! Vorbei. Das ist nochmal gutgegangen. Jetzt aber Gas und nichts wie weg. Unmöglich, dass er mich noch einholen könnte. Ich erwäge einen anderen Rückweg zu nehmen.

Mein Freund hatte einen Berner Sennenhund, der auf den Namen Panz   n i c h t   hörte. Ein hochsensibles Tier. Immer dann, wenn er das Mopedgeräusch des Postlers vernahm, raste er durch den Garten den Zaun entlang und setzte jedes Mal mit einem kühnen Sprung über denselben, sobald der Mann daran vorbeifuhr. Naturgemäß hatte er den armen Kerl dann an der Hose. Irgendwann hat der Briefträger das Handtuch geworfen und gekündigt, habe ich erfahren.

Nun, mit etwas Feingefühl könnten Hundebesitzer die zahlreichen Differenzen um ihr Getier vermeiden, denn schließlich haben Spaziergänger, Jogger oder Radfahrer ein Recht,  die Natur genießen zu können und auf einen gesicherten Auslauf, ohne sich gleich in die Hose machen zu müssen, wenn so ein unberechenbares Monstrum wütend bellend mit aufgerissenem Maul auf sie zu kommt. Man darf also erwarten, dass Hundebesitzer ihre Bestien an die Leine nehmen, oder zumindest für geschlossene Pforten in ihren Refugien sorgen. Was soll man denn schließlich in so einem Fall selbst tun? Man sucht in der Regel nach Hilfe. Nur woher soll die kommen? Von einem hohen Baum vielleicht? Den zu ersteigen sind manch freilaufende Naturliebhaber körperlich oft nicht mehr imstande. Und woher soll man wissen, ob das Luder gefährlich ist oder bloß neugierig oder gar nur spielen will?

Die ganz G’scheiten sagen, man muss die Warnsignale „dös Türes“ beobachten. Ob es die Nackenhaare aufstellt etwa. Ob das Biest knurrt oder die Lefzen hochzieht. Wird es steif und bewegt sich vorerst ganz langsam, dann ist normalerweise Gefahr im Verzug. Wedeln wäre gut, dann is’ es friedlich. Aber die gaaanz G’scheiten meinen, das is‘ nix, es kann wedeln wie es will und schnappt dann trotzdem zu, das Sauviech. Also was jetzt? Wie sollst du dich da richtig verhalten, frag ich mich? So tun, als ob das Untier gar nicht da wäre? Eh, versuch das mal bei einem achtzig Kilo Rüden. Der zeigt dir schon, dass er da ist, darauf kannst du Gift nehmen. Andere raten, langsam weitergehen, so ganz normal. Und bloß nicht ansprechen. Stehenbleiben schon gar nicht. Und auf keinen Fall anfassen! Also das wär ganz falsch. Davonlaufen tät ich auch nicht. Das nährt bloß den Jagdtrieb. Und den wollen wir sicher nicht wecken, wenn wir schon wie Beute aussehen.

Da vorne ist ein Bauernhof, man riecht es. Die haben dreißig Kühe im Stall und die Tür ist offen. Davor ist eine Mistlacke, so schwarz wie das Wasser in einem schottischen Hochmoor. Im Dartmoor angekommen, will sich der verzweifelte Henry erschießen. Er kann jedoch von Sherlock Holmes und John davon abgehalten werden. Holmes erklärt diesem, dass er den Hund zwar gehört, aber nicht gesehen hätte, der seinen Vater getötet hatte. Aber er hätte einen Mann gesehen. Da plötzlich ertönte ein furchtbares tiefes Bellen und eine unheimlich aussehende riesige Bestie mit tigerartigen Zähnen im weit aufgerissenen Maul kommt auf sie zu. Sherlock bemerkt, dass nicht der Zucker im Kaffee die Wahnvorstellungen ausgelöst hat, sondern der Nebel rund um sie herum. Aber Dr. Watson ist auf der Hut. Er und Kommissar Lestrade erschießen die Bestie, die in Wirklichkeit nur der Hund von Gary und Billy war, den die beiden freigelassen hatten, da sie es nicht übers Herz gebracht hätten, ihn einschläfern zu lassen. So, oder so ähnlich ging die Geschichte wohl.

Verdammt, jetzt bin ich doch auf einen größeren Stein aufgefahren, in Gedanken wie ich war, ohne auf den Weg zu achten. Meine arme Felge!, denke ich und steige kurz ab, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Aber sie ist nicht verbogen, Gott sei Dank. Dann also weiter, den Hügel dort hinauf und die Bundesstraße entlang, parallel am Radweg.

Wenn ich diesen Weg zurückfahre, ist das Tor hoffentlich geschlossen, leide ich vor mich hin. Hund an der Leine, fällt mit ein, macht den Raufer in ihm erst so richtig stark. Der ist aber nicht an der Leine. Also finde ich mich gedanklich mit geschlossenem Tor ab. Sind jedoch zwei solcher Brownies und Blackies und Waldis und wie sie alle heißen in eine Beißerei verwickelt, sollte man sich lieber nicht einmischen und dazwischengehen. Blöd würde ich sein, denke ich. Eventuell dann, vielleicht, wenn einer eindeutig der Schwächere ist. Den muss man retten. So ein Schmarren! Was gehen mich die Hunde an! Ich habe schon genug mit meinem inneren Schweinehund zu tun. Die Chance, dass man dabei gebissen wird, ist relativ gut. Wer das will, na bitte! Wenn die im Blutrausch nicht Freund vom Feind unterscheiden können, selber schuld, sage ich.

Da! Da vorne ist mein Wendeplatz. Genug für heute. Zehn Kilometer, macht zwanzig hin und retour. Reicht fürs Kreislauftraining, finde ich, bleibe kurz stehen und nehme einen Schluck aus der Wasserflasche. Strecken ist wichtig danach, ich bin schon ganz verbogen wegen des Rennlenkers. Ja, Sport ist Mord! Ich wende und trete wieder voll rein. Vor meinem geistigen Auge steht der braune Rottweiler. Rostbraun, denke ich. Wieso ist der rostbraun? Ich kenne nur schwarze. Aber noch bin ich ja nicht da. Dort drüber stehen zwei Rehe. Is’ ja süß. Jetzt bemerke ich, ein Junges ist auch dabei. Entzückend! Sie sehen zu mir rüber. Hi! Ich hebe den Arm und winke. Scheint sie nicht im Geringsten zu berühren. Ich habe nicht erwartet, dass eines von ihnen den Huf hebt. Trotzdem.

Wieder beim Kuhstall vorbei. Jetzt sind es nur noch ein paar Minuten, dann passiere ich den mysteriösen Garten mit seinem nachlässigen Wächter. Ich gehe nochmals die Regeln durch. Den Kläffer also nicht ansehen. Normal weiterfahren. Nur dann langsamer werden, wenn das Ungeheuer bellt oder sich anschickt, hinterher zu jagen. Ruhig mit ihm sprechen. Ich dachte, nicht anreden? Was jetzt? Vielleicht ein Kommando loslassen, so wie „geh Platz“ oder „aus“! Oder mit der Hand nach unten weisen und ihn kurz und streng anschauen. Ich muss lachen. Grade, wenn der mich am Wadel hat, werd’ ich „Platz“ rufen. Eh klar. Ich ziehe den Mund zu einem breiten Grinsen. Der wird sich einen Dreck um meine Kommandos scheren, so sieht’s aus, weil der mitnichten auf sein Herrl hört, wenn’s ihn juckt, das kenn ich schon. Auf gar keinen Fall mit den Armen herumfuchteln. Hände am Rücken oder in die Taschen. Schwachsinn, geht gar nicht, sonst flieg ich vom Rad.

Mit ausreichendem Abstand nicht allzu schnell vorbeifahren, überlege ich mir. Damit ich den Hund nicht erschrecke. Genau! Ich lache wieder, diesmal laut. Wer da wen erschreckt, möchte ich wissen! Eventuell klingeln. Wieso? Ich dachte, kein Geräusch verursachen? Was mir so alles einfällt in der Angst, ich muss mich doch sehr wundern. Außerdem hab ich gar keine Klingel, jedes noch so kleine Gewicht wäre zu viel für so ein schnelles Rad, habe ich beschlossen. Am besten etwas bremsen. Bloß nicht. Mit genügend Tempo kriegt er mich vielleicht nicht, oder? Der Hund ist in jedem Fall schneller, höre ich immer. Stehen bleiben und auf der anderen Seite vom Rad in Deckung gehen. Rad ist also zwischen mir und dem Bastard, wenn sich kein Besitzer zeigt. Aber der ist nicht deppert, der riecht den Braten und rennt hinten herum, schneller als ich wenden kann, und dann bin ich’s!

Als kleiner Junge war ich mit dem Vater einmal um Zement im Bauhof. Wir hatten eine Schiebtruhe mit, ich war beim Vater eingehängt, am Rockzipfel sozusagen, denn dort lief ein semmelblonder Schäferhund herum mit schwarzen Flecken, und es war bekannt, dass der Kinder nicht mochte. Warum sollte er also gerade mich mögen? Also musste es kommen, wie es kam. Wir hatten schon aufgeladen und schoben die Karre eben zum Tor hinaus, da wetzt der Köter gerade auf mich zu und beißt mich in den Oberschenkel. Ich brülle aus Leibeskräften (völlig falsche Reaktion, heute weiß ich es), bis der Besitzer gelaufen kommt und ihn an die Leine nimmt. Hätt’ er das nicht schon vorher tun können? Mein Oberschenkel wird rotblau. Ich muss zum Arzt und kriege eine Tetanusspritze. Super!

Die Luderviecher riechen seit damals schon von weitem, dass ich ordentlich Spundus hab vor ihnen und nützen das alle weidlich aus, mir Angst zu machen. Heute noch, als Erwachsenem! Schönes Trauma hab ich mir da zusammengeträumt! In einem klugen Hundebuch habe ich einmal gelesen, besser auf den Besitzer warten, wenn’s brenzlig wird, das ist witzig! Und jetzt wird’s langsam brenzlig. Hinter der nächsten Kurve liegt schon der verflixte Garten mit dem überdimensionalen Rollmops darin. Ich werde mich auf kurze Kommandos festlegen, wenn er rauskommt. „Steh!“ Oder „geh in Oasch!“, grinse ich. Nein, das sagt man nicht, würde mich meine Gattin ermahnen.
Diesmal ist mir das Lachen im Halse stecken geblieben, denn ich kann   i  h  n  bereits auf der kurz geschorenen Rasenfläche erkennen. Er steht noch genauso da wie vorhin, fällt mir auf. Seine Lieblingsstellung nehm ich mal an. Wie der wohl von vorne aussieht? Grauenhafte Visage mit rasiermesserscharfen gefletschten Zähnen. Speichel trieft aus seinem entsetzlichen Maul.

Vater hat immer gesagt, stets vorher fragen, wenn man einen Hund streicheln will. Wer will ihn streicheln, zum Geier? Wenn kein Besitzer zu sehen ist, ganz einfach nicht hingehen. Tu ich sicher nicht, das Gegenteil ist der Fall. Wenn schon, dann erst die Hand beschnüffeln lassen. Zack, hat er dich schon! Wie ich mir das so vorstelle! Und dann erst streicheln, aber nicht fest anfassen. So bled (sic!) werd ich sein! Ich gehöre zu den ängstlichen Kindern, also muss ich lernen, ruhig zu sein und darf nicht quietschen. Wie, davor oder nachdem er mich gebissen hat? Und hinter den Eltern verstecken geht gar nicht, das ist unfair, sagt der Moppel, komm sofort hinter Mamas Kittel hervor, das gilt nicht! Wie soll ich dich denn dort schnappen, nicht? Noch schlimmer ist es, wenn die zu zweit oder zu dritt sind. Dann stacheln sie sich gegenseitig an, den vermeintlichen Gegner fertigzumachen. Aber man muss es listig anstellen, den Auslöser für ihr instinktives Jagverhalten ausschalten, und das heißt: nicht laufen, nicht schreien, stehen bleiben und ganz ruhig sein. Rad fahren schon gar nicht! Das Ruhigsein müsste ich vorerst einmal üben. Vielleicht mit Hinfallen und den Hals mit angewinkelten Armen schützen.

Oh Gott! Mir wird übel. Es kann jetzt nicht mehr weit sein, bis zum offenen Gartentor. Die Superg’scheiten sagen auch, es wäre äußerst selten, dass scharfe Hunde Menschen so ganz wahllos angreifen. Wahllos? Der da wählt sicher aus, und zwar mich! Weiß meiner da vorne das auch, dass er selten beißen soll, frag ich mich? Vielleicht hat er schon lange nicht gebissen und will an mir bloß üben? Egal, denn dann habe ich ohnehin nur zwei Möglichkeiten, entweder es kommt wer, der ihn wegholt, oder ich kann abhauen. Fifty-fifty. Wegfahren in diesem Fall, versteht sich. Ich übe also schon mal Blick abwenden und Arme entspannt am Lenker liegen lassen. Sollte ihn das kalt lassen, dann eben ein „Kusch“ oder so ähnlich. Ich kann nur hoffen, dass er deutschsprachig abgerichtet wurde, und nicht serbokroatisch. Da müsste ich passen. Wenn er zupackt, dann jedenfalls „nein!“, aber überdeutlich.

Dann geht noch - möglichst Distanz schaffen. Ich trete also wie irre in die Pedale. Is’ er noch immer da, vielleicht besser ablenken. Ich könnte ja meine Trinkflasche wegwerfen und rufen, „hol das Stöckchen, blödes Vieh!“ Nein? Wenn nicht, dann eben nicht. Bleibt nur noch, Arme hochwerfen und Hals schützen. Wie bereits erwähnt, endet so etwas am Rad meist mit einem Mordsstern. Ich glaube, mich an jener Stelle an etwas Schotter auf der Fahrbahn zu erinnern. Wie auch immer. Jedoch keine Abwehrbewegungen, das reizt den Mordgesellen in ihm. Also ruhig reinbeißen lassen, bis das Blut warm die Waden hinuntersudelt. Beiß nur, lass dir’s schmecken, heut Abend gibt’s dann nichts mehr, klar? Sich wehren, ihn auf die Nase treten oder so sollte man besser sein lassen, diese Fiffis spüren im Kampf keine Schmerzen, so bei der Sache sind die.
Na, und dann sollte man auch nicht deren Kraft unterschätzen und das, was sie da vorne im Maul haben, ist nicht unbedingt eine Prothese. Eine Laufleine im Garten wäre schon eine nützliche Sache, überlege ich. Aber was soll’s, wenn er keine hat. Und der hier hat mit Sicherheit keine. Klar findet der es klasse, wenn ich da vor seinem Bewegungsmelder vorbeiwetze. Hat ja sonst nichts zu tun, die Töle, als den ganzen Tag auf die Straße starren. Fad ist das, versteh ich eh. Aber wie kommt unsereins dazu, für ihn den Pausenclown abzugeben? Soll sich ein Gummientlein aus seinem Körbchen holen, das quietscht auch, wenn er es zwickt. Aber nein, es geht ihm ja ums Hinterherrennen, klar. Das hält fit. Stehenbleiben gilt als sicherste Methode für den Nichtangriffspakt.

Dadurch mache ich mich für ihn völlig uninteressant, oder? Der will ja, dass ich abhau, wo bliebe denn sonst die Erfolgsquote? Wenn ich stehen bleib, fällt er um diese um, dann muss er sich fragen, wozu er überhaupt noch gut ist. Kriegt womöglich die Krise und muss zum Hundepsychologen. Kann ich das verantworten? Nein, was wäre ich denn für ein Ekel. Aber wenn ich stehen bleib, dann denkt er womöglich, ich will was von ihm. Und dann geht das ganze Theater von neuem los. Dann wacht der Wächter des Hauses in ihm auf. Na na na na, stehengeblieben wird nicht!, beschließe ich. Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich werde ihn ganz einfach ignorieren. Genau! Ich sehe ihn nicht an, nehme ihn nicht wahr, schaue an ihm vorbei und zähle die Schäfchenwolken am Himmel so lange, bis ich an ihm vorüber bin.

Laut Statistik sind es die Männer, die immer gebissen werden, weil sie ihr eigener Ehrgeiz plagt, diesem Hundehund zu entgegnen. Das geht meist an die Hose. Frauen seien im Übrigen viel diplomatischer, heißt es. Die gehen da einfach ruhig vorbei und haben es nicht notwendig, ihren Mut, den sie gar nicht haben, unter Beweis zu stellen. Wir Männer, wir lassen uns da viel zu sehr emotionalisieren, nehmen alles persönlich, schreien das Tier an, beschimpfen es und so. Ich kann das gut verstehen. Schließlich bin ich ja einer von ihnen.
Ich könnte natürlich auch körperliche Präsenz vor dem Tier zeigen, mich vor ihm aufbauen und wichtigmachen, wie die Eingeborenen ihren Kindern in der Kalahari beibringen, sich mit zwei Holzstücken an den Kopf gehalten, größer zu machen als sie sind, um so Hyänen zu vertreiben. Die fallen auf den Schmäh rein, gewiss. Der Rotti da lacht sich einen Ast, wenn ich das mach. Aber – bloß mit dem Körper imponieren – der Haken dabei ist, ich wiege kaum achtundsechzig Kilo und in der Landschaft bin ich ein Strich. Das wäre also keine so gute Idee. Vor so einem wie mir hat   d  e  r    da  sicher keinen Respekt.

So, jetzt aber wird es wirklich ernst, da vorne. Schon sehe ich das offene Tor. Also gut, du willst es ja nicht anders, denke ich. Gleich, gleich bin am Tor. Ja, jetzt. Dort hinterm Busch die Bestie. Steht ganz ruhig da. Der Doggy muss mich doch schon riechen können? Ich fahre ruhiger, passiere das Tor. Bin daran vorbei. Jetzt hab ich schon einen kleinen Vorsprung. Ich schiele im Augenwinkel auf sein Hinterteil. Steht immer noch so da wie vorhin. Starrt der die ganze Zeit über die Mauer an? Aber gleich, gleich wird er herausgaloppieren. Ich überlege schon mal ein Schimpfwort. Nein, besser dieses „Platz“ oder „Aus“ oder „Verschwind“!
Aber der Wauwau kommt nicht. Ein ganz Gerissener! Der will, dass ich mich in Sicherheit wiege und dann… Ich schwitze wie ein Firmling. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn, die Wangen, an der Nase vorbei direkt in den Mund. Ich schmecke Salziges. Mein Herz rast. Soll ich mich umdrehen? Merkt er das? Nimmt er das als Herausforderung für eine Attacke an? Nimmt er mir das übel? Ich wende also meinen Kopf rasch nach hinten. Dort steht das Luder. Regungslos. Wieso? Ich versteh nicht. Langsamer. Ich werde langsamer und bleibe vorsichtig stehen, Pedal nach oben, bereit sofort loszutreten. Mein „bester Freund“, mein vierbeiniger, steht dort am Rasen und rührt sich nicht. Eigenartige Farbe hat er, denke ich. Irgendwie… das ist… das gibt’s nicht! Irgendwie rostig. Ich werd verrückt!    N e i n !    Eine Attrappe! Der ist aus Metall! Der Hundsfott ist reine Deko! Ich halt’s nicht aus!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16064

Der Streik

Es war ein Tag wie der andere. Dr. Erich Perner und der Redakteur Carl Hofbauer saßen bei Kaffee und Zeitung im Bräunerhof. Beide schienen sehr vertieft in ihre Blätter. Ab und zu hob einer den Kopf, um zufrieden in die Runde zu schauen, um vertrauten Gästen einen wohlwollenden Blick zuzuwerfen oder um eben nur ein paar Worte miteinander zu plaudern. Ober Franz war seine obligate politische Ansprache längst, unmittelbar bei deren Ankunft, losgeworden. Jetzt spähte er umsichtig im Lokal umher, immer darauf bedacht, etwaigen Wünschen seiner Gäste sofort nachzukommen. Gemessenen Schrittes, versteht sich, denn nichts war ihm so zuwider wie ein hudelnder Kellner.

„Ach ja“, seufzte Erich, „denen fällt auch nichts Neues ein“, und hoffte insgeheim, dass sein Gegenüber wenigstens nachfragen würde, was gemeint sei. Carl jedoch las unbeirrt in seiner „Tagespost“ weiter. Ein Geiger hatte neben der bildhübschen Pianistin Aufstellung genommen, breitete seine Noten am Pult aus, stimmte kurz und gab den Auftakt zu einem bezaubernden, dezent intonierten Operetten-Potpourri. Ja - Alt-Wien war eben Alt-Wien. Was sollte es denn sonst sein?
Die Musik vermittelte eine Stimmung wie in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Lediglich die Kleidung der Gäste und die der Musiker wären nicht ganz zeitgemäß gewesen. Schließlich dauerte die mangelnde Gesprächsbereitschaft seines Gegenübers offensichtlich auch Carl zu lange. „Was sagst du, Erich?“, fragte er so, als hätte er Erichs Worte nicht verstanden. Erich sah von seiner Zeitung auf. „Lateinamerikanische Komödien, mein ich.“ „Versteh nicht!“ Jetzt nahm sich Erich mehr Zeit. „Ich sagte, die jährlich spielplanmäßigen Operettenrevolutionen, Carl, und ihre ständigen Revolten gegen Diktatoren und die bewaffneten Konflikte werden mittlerweile bagatellisiert, findest du nicht?“

Carl dachte kurz nach „Weiß nicht“, brummte er. „Die Amerikaner mischen sich kaum mehr ein“, stellte Erich fest, beinahe enttäuscht, „da ist doch was faul dran. Castro hat vor zwanzig Jahren versucht, die US-Zuckerbarone zu enteignen. So einen Spuk hat man damals mit dreihundert Mann Infanterie bereinigt, aber wenn sich die Amerikaner heutzutage aufmucken trauen, stehen die Russen sofort Gewehr bei Fuß und Washington zieht den Schwanz ein. Blöd werden sie sein, sich in die kubanische Innenpolitik einzumischen, oder sich gar zwischen Nicaragua oder die Dominikanische Republik zu stellen, was?“
Aber Carl hatte nur Augen für die entzückende Pianistin und schien sich für Erichs Darstellung der Weltpolitik kaum zu interessieren. „Sie hat rehbraune Augen!“, raunte er Erich zu. Dieser richtete seinen Blick nach oben, verzog seine Mundwinkel, und nach einigem Kopfschütteln meinte er: „Siehst du dich auch hin und wieder in den Spiegel, Mann? Die ist zwanzig – höchstens!“ „Ekelhaft nüchterner Mensch! Schauen wird man ja wohl noch dürfen?“, protestierte Carl.
„Seit Castros Machtübernahme herrscht in Kuba nur mehr das Chaos“, begann Erich ein zweites Mal. „Kannst du das nicht mit dem Herrn Franz besprechen“, seufzte Carl selig und himmelte die Pianistin an. „Der Geiger ist virtuos, wirklich, aber sie...“, schwärmte er, und wandte sich nun doch Erich zu, um genauer nachzufragen. „Noch einmal, bitte! Was ist da unten los?“, fragte er Erich. „Ich sagte, auf Kuba herrscht das Chaos, total! Ein Haufen Arbeitslose, verwahrloste Plantagen, radikale Straßenszenarien – die berühmten Sozialrevolutionen – alles bloß Romantik! Der Castro bereitet, ohne es zu wissen, den Boden für die Kommunisten vor, und wenn die Amis nicht aufpassen mit ihrer Lateinamerika-Politik, wird die Volksdemokratie vor ihren Toren demnächst Wirklichkeit, würd ich sagen.“ Carl hatte sein Kinn auf eine Hand gestützt. „Ja, eh“, meinte er abwesend. „diese Fingerl! Dieses G’sichterl! Einfach süß.“

Tags darauf im Pressehaus in der Bankgasse. Aufgeregt erklärte Redakteur Willi Schiedl den Kollegen, wie man strategisch vorgehen wolle, und zwar nicht um jeden Preis ein neues Presserecht zu erkämpfen, sondern eines, das auf echter Demokratisierung bestehen sollte, proklamierte er eindrucksvoll im Plenum der Journalistengewerkschafter, was ihm auch einigen Applaus einbrachte. „Was wir brauchen“, rief er, „ist eine dringende Imageänderung, verehrte Anwesende! Es kann nicht sein, dass wir Presseleute von der Politik als potenzielle Staatsfeinde behandelt werden! Immerhin stellen wir in unserer unabhängigen Meinungsbildung eine ganz wesentliche Institution der Demokratie dar, vergessen wir das nicht! Und was uns der Minister vorgeschlagen hat, ist eine gewisse Selbstkontrolleinrichtung der Presse, die wir in Form eines Presserates verwirklichen sollten. Dazu gibt es mittlerweile ja bereits eine konstruktive Verhandlungsgrundlage. Es ist ein Komitee nominiert worden, welches heute wieder einmal mit den Herausgebern verhandeln soll. Wie man uns überdies mitgeteilt hat, ist die kommunistische Fraktion ziemlich sauer darüber, dass sie keine Vertretung hat und weder im Verband, noch im Presserat eine haben wird. Dazu möchte ich eigentlich nicht mehr sagen als das, denn das Problem spricht für sich selber!

Und nun, verehrte Kollegen, darf ich Sie ersuchen, mir in den oberen Sitzungsraum zu folgen, wo in Kürze die Verhandlungen beginnen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!“ Als der Applaus geendet hatte, strömte die träge Masse der Teilnehmer langsam hinauf in den dritten Stock, wo bereits ein Buffet hergerichtet worden war. Zuerst wurden kleine Brötchen gereicht, dazu gab es diverse Säfte, aber auch leichte alkoholische Getränke. Für die Pause stand Gulaschsuppe in großen Behältern auf Warmhalteplatten bereit.

Eine elektrische Klingel ertönte, erst einmal, dann noch einmal und schließlich ein drittes Mal. Die Doppeltüren zum Saal wurden geöffnet und die Journalisten eingelassen. Als jeder einen Sitzplatz gefunden hatte, nahmen die Verleger Kommerzialrat Grünewald, Diplomingenieur Weigelt, Dr. Straubinger und Fritz Faustmann auf der linken Seite des langen Tisches vor ihnen Platz, Willi Schiedl von der „Kleinen Österreichischen“, Peter Bauer vom „Tagblatt“ und Georg Winkler von der „Tagespresse“ auf der rechten Seite.
Es wurde langsam ruhig im Saal. Manfred Weigelt verlas die Tagesordnung und ging auf die Punkte ein, die man nun gemeinsam näher besprechen wollte. Willi Schiedl sollte die Standpunkte der Journalisten darlegen und durfte als erster Redner näher auf die Wünsche der Gewerkschafter eingehen.
Der nächste Sprecher war Fritz Faustmann vom Herausgeberverband. Beide Seiten tasteten vorsichtig ihre Positionen ab. Es kristallisierte sich jedoch bald heraus, dass die Herausgeber lediglich über Standesfragen und Urheberrechte diskutieren und von den Forderungen, etwa seitens der Journalistengewerkschaft nach höheren Löhnen, offensichtlich nichts wissen wollten. Die Journalistenseite reagierte verbittert und wollte die Herausgeber zu Verhandlungen darüber zwingen.

„Wir lassen uns nicht erpressen, meine Herren!“, rief Faustmann plötzlich, „Ihre Forderungen werden langsam aber sicher unverschämter denn je!“, und Grünewald, Weigelt und Straubinger riefen: „Nicht mit uns, meine Herren! Mit uns nicht!“ „Wir haben Ihnen längst signalisiert, dass diesbezüglich von Verhandlungen nie die Rede gewesen ist, das haben Sie wohl vergessen, wie?“, schrie Kommerzialrat Grünewald in den Saal und der sichtlich nervöse Dr. Straubinger fügte ein wenig gedämpfter hinzu: „Und wir weigern uns, solche auch nur in irgendeiner Form aufzunehmen, damit wir uns gleich verstehen!“
Aber auf Gewerkschaftsseite wollte man nicht verstehen. Kurzum, die Sitzung wurde abrupt beendet. Beide Seiten verließen beleidigt den Saal. Im Parterre scharten sich die Gremien um ihre Standesvertreter und diskutierten heftig, was nun zu tun sei. „Die glauben doch nicht, dass wir uns das so gefallen lassen!“, rief Peter Bauer vom „Tagblatt“ zornig. „Das muss endlich eine Aktion zur Folge haben, die sie nicht so schnell vergessen werden, Herrschaften!“, forderte Willi und die Kollegen gaben ihm sofort Recht. „Mit keinem Wort ist über die Vordienstzeiten gesprochen worden, das war doch ausgemacht, oder?“, fragte Georg Winkler. „Ausgemacht war gar nichts. Ich habe ja gar nicht mit ihnen vorher sprechen können, weil sie sich im Präsidialzimmer verbarrikadiert haben“, antwortete Willi und machte eine abfällige Handbewegung. „Was heißt hier Vordienstzeiten? Da wäre noch einiges auf den Tisch zu bringen gewesen!“, warf ein anderer ein, „die Neuberechnung der Grundgehälter zum Beispiel, oder, was ist jetzt mit der Erhöhung der Ausgleichszulage? Das ist mit keinem Wort bis jetzt auch nur erwähnt worden!“

„Genau!“, und „So eine Schweinerei!“, riefen einige. Vor den Türen gingen Saalordner auf und ab. Hochgradig nervös reagierten sie auf jedes lautere Wort, das hier unten gesprochen wurde und insgeheim wünschten sie, alle schon längst wieder draußen zu haben. Doch die Sektionsleiter benutzten die Gelegenheit der Anwesenheit aller, hier sofort ein Streikkomitee zu gründen, dem Journalisten aller Wiener Tageszeitungen angehören sollten. Und wenn es tatsächlich zu einem Streik kommen sollte, musste er von allen unterstützt werden, das war klar. Sogar die Sektion der Grafiker hatte sich solidarisch erklärt.

Am folgenden Tag versammelten sich die Gewerkschafter neuerlich in der Bankgasse. Diesmal wurden heiklere Punkte mit den Herausgebern angesprochen und – auch teilweise verhandelt. „Na also“, flüsterte Dr. Perner Carl Hofbauer zu, beide hatten in der letzten Reihe des Sitzungssaales Platz genommen, „es geht ja langsam!“
Und auch Kommerzialrat Grünewald atmete erleichtert auf, dass man sich ein wenig nähergekommen war und man seine Positionen trotzdem nicht völlig aus den Augen verloren hatte. Es war zwar nicht alles Wonne und Heiterkeit, doch niemand dachte heute mehr an Streik. Es kam also zur Abstimmung, in welcher der Herausgeberverband den verhandelten Punkten zustimmen sollte. Da neigte Grünewald seinen hochroten Kopf Faustmann zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Im Saal wurde es unruhig, denn die Journalisten hatten den Eindruck, als wollte Grünewald die Sache absichtlich verzögern. „Was ist jetzt? Macht endlich!“, raunte Willi Peter Bauer zu und spürte, wie seine Hände unbewusst die Aktenmappe umklammert hielten. Plötzlich stand Faustmann auf und sagte: „Meine Herren! Wir Herausgeber sind uns in einigen Punkten noch nicht so ganz einig. Wir ersuchen Sie daher, in unser aller Interesse, uns noch etwas Zeit zu geben, um in diesen Punkten noch beraten zu dürfen. Wir danken Ihnen!“, nahm seine Mitschriften unter den Arm, stand auf, mit ihm auch Grünewald, Straubinger und Weigelt, woraufhin die vier ganz einfach den Saal verließen.

Zurück blieb eine vorerst schweigende Menge völlig überrumpelter Journalisten. Dann brach eine Welle der Empörung los. „Die Herrschaften halten uns wohl für komplette Idioten!“, schrie Bauer in die Menge. „Es reicht! Das ist das Zeichen für den Ausstand!“, brüllte Winkler und hob die geballte Faust in die Höhe. Es mochte eine Weile gedauert haben, bis man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte. Willi Schiedl, der dazwischen kurz den Saal verlassen hatte, war zurückgekommen und versuchte, beide Arme hocherhoben, die Ruhe wiederherzustellen, was auch gelingen sollte. „Verehrte Kollegen“, rief er außer Atem, „Man versucht, von ungenannter Seite, hier eine Verzögerung eines etwaigen Streiks zu erreichen! Ich kann euch jetzt nicht sagen, von wem ich das erfahren habe. Tatsache ist ...“ „Was soll denn das heißen? Wir sind die Gewerkschaft, zum Donnerwetter, und wir werden selber entscheiden, ob gestreikt wird oder nicht! Ich möchte wissen, wer sich da einmischen will!“, empörte sich Peter Bauer lautstark. Alle stimmten ihm zu.

Willi Schiedl geriet zunehmend in Bedrängnis. Hofbauer, Karner, Perner und Gruber von der „Kleinen Österreichischen“ bemerkten, in welch bedenkliche Situation sich ihr Willi da gebracht hatte. „Also, das war nicht sehr g’scheit von ihm“, sagte Carl besorgt zu Erich. „Warte, ich versteh nichts!“, unterbrach ihn dieser. Aber Willi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wartete ab, bis sich die Aufregung gelegt hatte. „Also gut“, sagte er schließlich, „der Faustmann hat mir im Vertrauen gesagt, nicht als Herausgebervertreter, möchte er betonen, quasi als Vermittler, unter Ehrenkodex ....“ „Die wollen uns ja nur mundtot machen, wann begreifst du das endlich?“, rief ein Vertreter der Sektion Drucker und Papier zornig. „Jetzt wart einmal, Kollege“, bat Willi ganz ruhig, „es – sie wollen darüber noch einmal intern darüber beraten, versteht ihr? Danach wird man uns informieren, wie sie sich endgültig entscheiden werden.“ „Na prima! Es bleibt also alles so, wie es war, oder täusche ich mich da?“, war zu hören und, „Wenn jetzt nicht bald was passiert, trete ich aus.“

Nun schien der Karren endgültig verfahren. Carl Hofbauer war inzwischen nach vorne gelaufen und nahm Willi an der Schulter. „Hör zu, machst du jetzt gemeinsame Sache mit dem Grünewald oder mit der Sektion? Pass auf, dass dir nicht die Felle davonschwimmen, mein Lieber! Sieh dich um, die mögen dich!“, fügte er grantig hinzu. „Aber was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Willi verzweifelt. „Streiken, du Narr! Worauf warten wir denn noch? Beschissen haben sie uns oft genug! Geht das bei dir da oben endlich hinein?“, reagierte Carl zornig und tippte mit seinem Zeigefinger auf Willis Stirn. Willi fuhr empört zurück. Die Umstehenden lachten. „Jetzt sei auch noch ein bisserl angerührt, du Mimose!“, schimpfte Carl, „tu was! Wozu hast du dich aufstellen lassen?“ Willi hatte verstanden. Wenn er jetzt nicht reagierte, wäre das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hatte, für immer verspielt.

Punkt zwölf legten alle Tageszeitungen die journalistische Arbeit nieder und verhinderten damit die Freitagsausgabe. Alle, bis auf eine Tiroler und eine Vorarlberger Zeitung, die sich rasch Hilfskräfte geholt hatten, um ihre Ausgabe trotz allem zu bringen. Ansonsten hielt man sich überall hundertprozentig an die Streikparole. Erstaunlich war auch, dass die Herausgeber erst gar nicht versuchten, die Angestellten zur Produktion zu zwingen. Auch die APA stand hinter der Gewerkschaft. „Nun gilt es, die Nachrichten an die Fernschreiber zu unterbinden!“, riet Carl Hofbauer umsichtig, „damit uns nicht ein paar Vorzugsschüler in den Rücken fallen! Ich kenne jemanden in der Agentur!“, sagte er verschmitzt und hob seine Brauen vielversprechend. Erich, der ihn genau beobachtet hatte, lachte höhnisch: „Da steckt doch ein Weib dahinter, gib’s zu! Wenn wir dich nicht so gut kennen würden. Wenn das die Erni erfährt, gibt’s was mit der Teigwalze!“

Trotz der ernsten Lage waren die Umstehenden leicht zu einem Lachen zu bewegen. Carl rannte die Treppen der Redaktion hinunter und hielt ein Taxi an. „Austria Presseagentur, aber rasch!“, rief er dem Fahrer zu. Dort angekommen, musste er erst mühsam den Portier davon überzeugen, dass er selbst Journalist und in einer dringenden Mission unterwegs sei. „Zur Frau Hahn will ich, hören Sie!“, sagte Carl. „Moment, na hallo hallo, bleiben S’ da, ich muss erst anrufen!“, hielt ihn der übereifrige Portier am Mantel fest. „Ach was, lassen S’ mich in Ruhe, Sie Wachter, Sie verkappter! Wir sind ja hier nicht beim Militär!“, schubste ihn Hofbauer zur Seite und lief zum Lift. „Bleiben Sie stehen!“, rief ihm der aufgeregte Portier nach, „Stehen bleiben, sag ich!“
Da fuhr Carl bereits in den fünften Stock hoch, rannte um die Ecke, schnurstracks zum Büro von Frau Hahn. „Herein!“, hörte er eine forsche Stimme und stand schon im Zimmer der Redakteurin Elfriede Hahn. „Ah da schau her, der Herr Hofbauer! Dass du dich wieder einmal anschauen lässt! Was ist? Ist jemand hinter dir her?“, fragte Frau Hahn lachend und schüttelte ihm die Hand. „Dieser Beamtenstaat ist irgendwann mein Ende, Elfi!“, keuchte Carl und küsste sie sanft auf die Wange. „Jetzt setz dich erst einmal hin, du bist ja völlig devastiert! Da schau, das Hemd hängt dir auch heraus, Carli, Carli! Du wirst langsam alt!“, stellte sie lächelnd fest. „Na ja, wenn man so einen Scheißberuf hat!“, antwortete Carl, noch immer außer Atem. „Aber, hör zu, euer Telefon...“
„Was ist damit?“, fragte sie. „Das müssen wir verhindern, ich mein, dass von hier aus telefoniert wird. Es gehen immer noch Nachrichten hinaus in die Redaktionen. Wo ist denn hier bei euch die zentrale Telefonzelle im Haus?“ „Unten, im ersten Stock.“ „Kann man die nicht – du weißt schon?“ „Könnte man schon. Aber den Schlüssel hat der Sekanina in Verwahrung. Den müsste ich erst organisieren“, lachte sie, „und ich bin mir ganz sicher, dass er ihn freiwillig nicht herausrückt!“ „Dann bitte organisiere, ja? Tu’s für den Verband, für die Kollegen, aber tu es, ich flehe dich an!“, bat Carl inständig. „Also gut, für die Allgemeinheit. Warte hier!“

Die Hahn stand auf und eilte hinüber ins Chefbüro. „Herr Doktor, wir haben ein Problem!“, sagte sie zum Abteilungsleiter. „Nun? Was gibt’s, liebe Frau Kollegin?“ „Wie Sie wissen, befinden sich sämtliche Zeitungen für unbestimmte Zeit im Ausstand. Ich brauche Sie ja nicht darauf hinweisen, dass sich die APA längst angeschlossen hat.“ „Nun ja, ich habe zugestimmt, wenn auch mit Vorbehalt“, sagte Doktor Sekanina zögernd. „Über unsere Telefonleitung werden aber immer noch Meldungen an die Redaktionen durchgegeben. Der Gewerkschaftsabgesandte ersucht, dies für die Dauer des Streiks zu unterbinden. Ich möchte Sie höflich ersuchen, im Namen aller selbstverständlich, dass das für die Dauer des Streiks so veranlasst wird!“
„Wie Sie sich das vorstellen, verehrte Frau Hahn. Wir sind nicht in allen Angelegenheiten eine geschlossene Gesellschaft, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ „Wir brauchen den Schlüssel für die Telefonzelle, Herr Doktor.“

Sekanina wand sich wie ein Wurm, begann herumzudrucksen und suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. Frau Hahn wusste, dass sich der Schlüssel wie immer an seinem Platz an Sekaninas Schlüsselbrett befand und hatte ihn längst schon im Visier. Ein Schritt, ein Griff – und der Schlüssel verschwand in ihrem Ausschnitt. „Das ... das ... also ich muss schon sehr, bitten, Frau Kollegin! So geht das nicht! Also wirklich! Glauben Sie nicht, dass das keine Folgen haben wird für Sie!“, rief Dr. Sekanina völlig aufgebracht. „Doch, das glaube ich, und – vielen Dank, Herr Doktor!“, sprach’s, und war auch schon draußen auf dem Flur.

Sie eilte über eine Nebenstiege hinauf in ihr Büro, wo Hofbauer sie schon ungeduldig erwartete. „Was ist?“, rief er ganz aufgeregt, „hast du ihn?“ Frau Hahn sah ihn spöttisch an und sagte: „Nerven haben wir keine mehr, Herr Redakteur, was?“, und lachte. „Natürlich hab ich ihn, und jede Menge Ärger auch, damit du’s nur weißt. Das wird Folgen haben für Sie!“, äffte sie Sekanina nach und verdrehte die Augen. „Aha! Na, Hauptsache, es kann nicht telefoniert werden“, atmete Carl erleichtert auf. Da läutete ihr Telefon. Sie hob ab, hielt die Muschel mit der Hand zu und flüsterte: „Der Sekanina, psst! Ja, Herr Doktor? Ich weiß Herr Doktor – aber besondere Umstände machen das erforderlich – auch dass man mich fristlos entlassen kann – ja Herr Doktor – bin mir völlig im Klaren darüber. Guten Tag, Herr Doktor!“

Sie legte auf und setzte sich erst einmal. „Zigarette?“, fragte sie Carl. „Ich doch nicht, danke! Höchsten eine Zigarre.“ „Da bist du falsch bei mir“, sagte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, tat sehr entspannt und rauchte in vollen Zügen. Nach einer kurzen Nachdenkpause sagte sie plötzlich: „Ich weiß nicht, ob das klug war, was wir da gemacht haben? Carl, wir müssen den Fernschreiber lahmlegen, sonst hilft das alles nichts!“ „Meinst du? Und wie?“, fragte Carl. „Komm mit, ich brauche einen starken Mann!“ „Und der steht hier vor dir!“, gab er sich selbstbewusst.

Die Hahn kicherte. Auf dem Weg ins Parterre überredete sie einen ortskundigen Mitarbeiter, ihnen bei der Umsetzung ihres Planes zu helfen. Dieser führte sie zur Anschlussstelle des zentralen Postkabels. „So, da ist es!“, sagte Herr Bauer. „Na, alsdann, worauf warten Sie?“, fragte Frau Hahn ungeduldig. „Sie haben leicht reden. Haben Sie so etwas schon einmal herausgezogen?“, fragte Bauer.
Carl musterte das dicke Kabel mit einigem Respekt. „Dann wollen wir einmal“, sagte Bauer. Zu dritt packten sie den ungemein großen Stecker und zogen und rüttelten mit aller Kraft, bis er endlich aus der Dose heraußen war. „Kinder, ich bin total erledigt!“, stöhnte Carl und hielt sich den schmerzenden Rücken.
„Carli! So kenn ich dich ja gar nicht!“, lachte Hahn schadenfroh, „erst mimst du den starken Mann, und jetzt?“
Herr Bauer schmunzelte, hielt sich jedoch dezent im Hintergrund. „Also, dann -Operation beendet!“, triumphierte Frau Hahn. Bauer sperrte die Türe wieder ab. „Elfi, ich muss weiter. Es war mir ein Volksfest. Wir hören voneinander, gell? Wiedersehen Herr Bauer, und – vielen Dank auch!“, verabschiedete sich Carl und küsste die Hahn kurz auf die Wange.
„Bitte, bitte, es war mir ein Vergnügen, Herr Redakteur“, rief sie ihm nach, da hatte Carl bereits die Türe Richtung Ausgang hinter sich zufallen lassen. Elfriede Hahn schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. „Herr Bauer, Sie schauen so nachdenklich aus! Ist irgendwas?“, fragte sie. „Also, das, was wir hier angestellt haben – ich würd sagen, erfüllt einige Tatbestände des Strafgesetzes.“ „Gehn S’, machen Sie sich keine Sorgen. Man wird uns schon nicht den Kopf abreißen. Und überhaupt, es weiß doch keiner, oder wissen Sie etwas?“ „Da haben Sie auch wieder Recht. Na dann, schönen Tag noch!“, sagte Bauer und ging zum Lift.

Am Haupteingang eilte Hofbauer am Portier vorbei. „Ha! Jetzt hab ich Sie! Legitimieren Sie sich! Glauben S’, ein jeder kann da bei uns ein- und ausgehen wie er will, lieber Herr?“, fuhr ihn der Portier an. Carl eilte an ihm vorbei. „Ja, Sie mich auch!“, schleuderte er ihm entgegen und war schon auf dem Trottoir. „Unverschämtheit!“, rief der Portier erbost. Carl lief so schnell er konnte zur nächsten Telefonzelle, um Erich in der Redaktion anzurufen.
„Hallo? Ja! Auftrag ausgeführt! Mehr noch, wir haben den Fernschreiber liquidiert – ja, genau! Jetzt geht nix mehr, glaub mir. Was sagst du? – wer? – der Präsident? Der soll nur bitten, ha ha ha! Mit dem Grünewald setzen wir uns so schnell nicht mehr zusammen, das versprech ich dir. Ich werde den Willi schon weichmachen! Wie? Das is’ mir wurscht, ob er an einem länger dauernden Streik nicht interessiert ist, verstehst du? Der Streik dauert, so lange er eben muss, basta!“, schrie Carl atemlos ins Telefon, „und die Herren von der Bundesregierung werden so lange warten, bis wir unsere Forderungen durchgebracht haben, so schaut’s aus! Und dann werden wir ja sehen, wer hier am längeren Ast sitzt, nicht wahr?“

Am nächsten Tag lag ein Schreiben des ÖGB-Präsidenten an alle Redaktionen vor mit dem Ersuchen, die noch offenen Wünsche mit der Herausgebervertretung so rasch wie möglich zu verhandeln. Die Herausgeber würden sich verpflichten, einen für die Journalisten befriedigenden Abschluss anzustreben, hieß es darin wörtlich. Zähneknirschend musste Carl Hofbauer die Entscheidung Willi Schiedls zur Kenntnis nehmen, als dieser der Beendigung des Streiks am nächsten Tag, zwölf Uhr, zugestimmt hatte.
Immerhin konnten die Journalisten mehrfach mit dem Ergebnis der neuen Verhandlungen zufrieden sein, denn sie hatten eine Erhöhung der Mindest- und Ist-Gehälter erreicht und auch einige materielle Forderungen durchsetzen können. Alles in allem wog der ideelle Erfolg, den die Aktion nach sich gezogen hatte, schwerer, als man je zu hoffen gewagt hatte. Für existenzielle Anliegen auf die Barrikaden gehen zu können, und dies nicht bloß für ein paar Stunden, sondern für die Dauer eines Produktionstages und länger – das war schon was!

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Zeitroman „Das ungeteilte Vertrauen“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16048

Danach

Völlig erschöpft haben wir uns jeder auf seine Seite plumpsen lassen. Ich betrachte dich lange. Du atmest noch schwer. Wie viele Jahre sind schon vergangen, die wir uns geliebt haben? Du sagst nichts. Liegst nur still da. Wie immer. Alles ist, wie immer. Und ich? Jetzt soll ich mich mit der Erinnerung an die Vergangenheit begnügen und muss feststellen, dass sie mir zusehends entgleitet. An die Zukunft will ich erst gar nicht denken. Wir sind beide älter geworden. Ziemlich älter. Nebeneinander sozusagen. Und man kann nichts dagegen tun, als zusehen. Ohnmächtig zusehen. Du sagst immer, denk an das Jetzt.

Alles andere kommt von allein. Aber wie viel Gegenwart braucht man eigentlich? Ich habe bisher ausschließlich von der Vergangenheit gezehrt. Du doch auch? Ich betrachte die Dellen auf deiner Haut, deinen Beinen, deinem nackten Bauch. Mein Gott, wo ist das alles hin? Die Jugend? Die Anmut und Grazie? So sagt man doch? Und ich? Trockene Haut. In Falten. Bleich und fahl. Die Haut über den Knien wird runzelig. Ebenso an den Ellenbogen. Wo sind meine Haare geblieben? Und von den Ringen unter den Augen reden wir beide schon gar nicht. Du bewegst dich nicht.
Aber ich liege da, starre an die Decke und die Gedanken beginnen zu kreisen. Meine Hand liegt auf deiner Hüfte. Schläfst du? Bald werden wir uns bloß noch um das Private kümmern müssen. Was bedeutet schon unser Leben jenseits des Privaten? Irgendein Insekt fliegt da herum. Soll heißen, niemand braucht uns mehr.
Indirekt bedeutet es, abhängig sein. Von der Politik, dass sie die Pensionen nicht verramscht. Von der Medizin meinetwegen, der klassenhaften, dass sie uns wieder hinkriegt, wenn was kaputt geht. Aber was ist das schon gegen jene Abhängigkeiten, denen man nicht zu entkommen vermag? Den Ängsten? Der inneren Verelendung? Da hilft dir kein Schwein.

Ich habe kein Vergnügen an der Gegenwart, ganz einfach, weil ich sie nicht bestimmen kann. Ja, mit der Vergangenheit ist das was ganz anderes. Sie ist mir eher dienlich, ist knetbar, dehnbar, interpretierbarer als die Gegenwart. Ich kann sie in eine bestimmte Richtung erscheinen lassen. Die Gegenwart, ach, die ist eben gegenwärtig. Viel zu realistisch. Unbrauchbar für einen Träumer wie mich. Die Vergangenheit ist mir Vehikel, ist das Transportmittel meiner persönlichen Eindrücke geworden, Tendenzen meiner Umwelt erkennen zu können. Jetzt drehst du dich um.
Hast du schon geschlafen? Aber du lächelst ja. Komm, spiel mir nichts vor! Die Gegenwart kann noch nichts dazu sagen. Sie ist einfach nur da – und –auch gleich wieder weg. Und immer so fort. Aber die Vergangenheit? Begehbar – ja, mein Treppenhaus ist sie mir, die Vergangenheit, mit ihren dunklen Winkeln, ihren Freuden, ihren Leiden, aber doch – immerhin – vertraut. Ich kenne sie, wie meine eigene Westentasche.
Das kann ich von der Gegenwart nicht behaupten. Die ist ja permanent neu. Du atmest jetzt ruhiger. Deine Augen sind geschlossen. Ich decke dich sanft zu. Schläfst du jetzt? Du sagst gar nichts. Ich werde auch versuchen zu schlafen. Im Schlaf vergesse ich auf mich. Bin nicht mehr so wichtig. So angestrengt bemüht, alles auf die Reihe zu kriegen.

Ich sehe zur Decke. Liege so da und starre an die Decke. Dort ist ein dunkler Fleck. Schon lange. Den kenne ich gut. Hat die Form eines, ich weiß nicht, jedes Mal anders. Vielleicht einer Fledermaus? Ach! Man sollte schon einiges ausbessern. Aber, naja, hat Zeit. Was auf mich lauert, ist das Unbekannte, das Gefährliche, Unberechenbare. Es liegt in der Zukunft, im Heute vielleicht schon? Im Morgen? Was wird sein? Vielleicht ist alles gar nicht so furchtbar, wie ich es mir vorstelle? Wer weiß? Jetzt atmest du regelmäßig. Ja, du bist eingeschlafen. Ich weiß es. Ich kenne dich ja lange genug. Ich kenne alles an dir. Du bist Teil von mir geworden. Wir sind eins. Auch in Gedanken.

Bei dir ist alles immer so einfach. Du bist viel mehr du selbst. Bist du selbst. Lebst deine Natur. Ich beuge mich vorsichtig über dein Gesicht und küsse dich sanft. Aber ich? Tief in meinem Innersten, der Brutstätte meiner Zwistigkeiten und Widersprüche kämpfen die unsinnigsten Mächte zwischen dem Hang zur Nüchternheit, dem Profanen und der Besessenheit, denen ich ausgeliefert bin auf Gedeih und Verderb. Für das Übersinnliche? Für den Mythos? Für das Rituelle? Ich habe es mir immer schon schwer gemacht. Andere suchen nach Hülsen, in die sie ihre traurige Wirklichkeit verpacken und darin kaschieren. Das bring ich nicht fertig. Mir sieht man sofort an, dass ich leide. Ich kann nichts verbergen. Vielleicht leide ich bloß am Neid, andere hätten mehr Glück als ich?

Und dann ist da das Wetter. Natürlich! Dem kann ich leicht die Schuld für meine eigenen Unzulänglichkeiten in die feuchten Schuhe schieben. An der Alpennordseite so wie im Norden – am Morgen, genau!, das ist jetzt – können, und auch im Osten – das sind wir hier – noch leichte Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen das Leistungsniveau herabsetzen.
Na bitte! Von irgendwoher müssen meine Kopfschmerzen ja kommen. Schwach wirksame Bioreize. Bei mir sind sie immer stark. Und gereizt bin ich auch immer! Da lieg ich einfach untätig herum und starre an die Decke. Und du schläfst seelenruhig, weißt nicht, was in mir vorgeht.
Der Zwang zu allgemein gültigen Wahrheiten und deren Vermittlung sowie die Anstrengungen, sich gegen einseitige Ratschläge mittelbarer Erkenntnisse wehren zu müssen, setzen mir immer häufiger zu. Daraus analog auf ein sich in Wirklichkeit Darstellendes zu schließen, in dem ich womöglich als klinischer Fall gehandelt werden könnte, verursacht mir Unbehagen. Es ist eine Fliege, die da herumschwirrt. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, meinen derzeitigen Zustand noch komplizierter zu beschreiben.
Und du kannst so unbekümmert vor dich hindösen, während es in mir kocht und gärt. Du jammerst ja auch, dass du das Leben im Hamsterrad der Bürokratie nicht mehr erträgst. Tagaus tagein dieselben blöden Fragen beantworten. Das Gesumse von diesem Tier geht ziemlich auf die Nerven! Täglich die gleichen Auskünfte geben. Irgendwann muss Schluss sein damit. Verlogene Politik redet uns ein, wir hielten das locker bis fünfundsechzig aus. Statistisch gesehen hätten wir dann noch fünfundzwanzig Jahre Ruhegenuss. Schöner Genuss! Ich bin so aufgekratzt und es ist ungerecht, dass du einschlafen kannst und ich nicht. Das sollte kein Vorwurf sein, mein Liebes. Aber du hast es ohnehin nicht gehört. Mein Gott, so nimm mich mit, ins Traumland!

Während ich meine Arme über meiner Brust verschränke, denke ich, ich belüge mich gerne damit, dass dieses Leben jenseits der Pensionsberechtigung doch noch nicht zu Ende ist und träume davon, dass es vielleicht eine zweite, ja eine dritte Karriere für mich gibt. Spinn nicht, sagst du dann immer zu mir. Sei froh, dass du noch aufrecht gehen kannst, allein. Dass du manchmal auch so hart sein kannst!

Meine Gedanken überfliegen die Annoncen eines fiktiven über der Steppdecke aufgeblätterten Karriere-Standards, den ich gleich wieder sinken lasse. In meiner Vorstellung falle ich schon bei der ersten Fragestellung des Einstellungsgespräches durch. Keine Ahnung, welcher Unterschied zwischen präpositionalen Verbartikeln und Präfix-Verben besteht und welcher amerikanische Autor den Roman Independence Day geschrieben hat, ganz zu schweigen davon, was das Goedel’sche Theorem besagt. Irgendwann hab ich davon gehört. Ich muss gähnen. Wann kommt endlich bei mir der Schlaf? Das würde nicht gefragt werden. Und solche Fragen wären der Einstieg. Sollte man mit Leichtigkeit beantworten können. Ja sicher doch.

Was ist nun in den letzten paar Wochen alles geschehen? Mir ist manchmal, als würde ich plötzlich immer wieder aus einem unglaublich langen Traum erwachen, durch den ich meine Kindheit und Jugend noch einmal durchlebt habe, auftauchen, an die Oberfläche des Lebens kommen. Ich sehe mich, ich sehe Bilder, mich mit meinen Schulfreunden herumbalgen, mit ihnen lachen. Ich höre aus dem Wohnzimmer Papas Geigenspiel, ein Motiv, welches er immer und immer wiederholt, bis es irgendwann verklingt. Die Mama, am Herd, wie sie stundenlang kocht, mit dem Gesicht zur Küchenzeile gewandt, sich nicht umsehend. Um mich steht der Kollegenkreis des Herrn Papa, riesige Gestalten, zu denen ich aufblicken muss, in ihre strengen Gesichter sehe, die starr sind, ohne Lächeln, und wie sie ihre Zeigefinger erheben, drohend und mahnend, wie Obelisken ausgestreckt, die in den Himmel zu ragen scheinen. Ein Dechant wird der Tür verwiesen, der mit hochrotem Gesicht davoneilt.
Meine jüngere Schwester, spindeldürr, stürzt eine Treppe hinunter und bleibt am Fuße derselben regungslos liegen. Die Mama, die sich fassungslos über sie beugt, versucht, sie aufzurichten, die Bleiche, Wasserleichenfarbige. Der allmächtige Herr Vater steht hinter ihnen, lacht sogar, mehr ein Grinsen, welches er mit einem seiner ziemlich beleibten Kollegen zu teilen versucht. Bin ich jetzt etwa kurz eingenickt? Ich höre dein leises Atmen. Hin und wieder ist ein Schnarchen dabei. Das willst du nicht hören, wenn ich es dir hinterher erzähle, ich weiß. Blöde Fliege! Aber ist wahr, ich kann es bezeugen. Hätte ich mein Handy hier, würde ich dich aufnehmen.

Über all dem, was ich mir so im Halbschlaf zusammenspinne, schwebt der verstorbene Bruder, den wir nie gesehen haben, von dem es eine blonde Locke gab, die man ihm abgeschnitten hatte, bevor er begraben worden war. Diese Locke lag in der obersten Schublade einer Kommode im Schlafzimmer, nahe bei seiner Taufkerze, Mutters geheimem Altar, ähnlich dem meinen in meinem Kleiderschrank, in dem ich meine Devotionalien aufgestellt habe. Ein altes Weihwassergefäß aus der elterlichen Wohnung, ein Kruzifix von der Großmutter. Die Fotos meiner Eltern. Still kniete sie immer davor und bedeckte ihr Gesicht mit einem Taschentuch.

Meine innere Einsamkeit hat sich einen imaginären Zuhörer erschaffen, den ich um Verständnis gebeten habe, mir die Erinnerungsknäuel entwirren zu helfen, um mich darin nicht noch mehr zu verfangen und gefesselt zu sein, als ich es ohnehin schon bin. Die eigene Haut war nicht imstande, mir noch Schutz zu bieten. Ich habe mich zu sehr selbst geliebt, mehr als andere, die meine Liebe notwendiger gebraucht hätten, und längst meine Zuneigung erbeten haben. Und es sind zwei Fliegen, ich werd verrückt! Und nichts davon habe ich bemerkt. Taub hab ich mich gestellt und mich aufgeführt wie ein kleines Kind, jedes Mal, wenn meine Wiesen um einen Baum beraubt, jedes Mal, wenn Teile jener Landschaft, die meine Erinnerungen am Leben erhalten haben, zuasphaltiert und -betoniert worden sind.
Es hätte Wichtigeres gegeben, sagst du immer. Ich müsste eben alles für schön befinden, das würde das Hässliche schon ersetzen können. Oder alles für gut befinden, um dadurch das Nichtgute zu ersetzen. Dass du immer so klug bist, hättest du jetzt gesagt. Ist nicht von mir, ist von Laotse. Tja. Aber so weit bin ich noch nicht. So weit bin ich noch nicht, dass ich in mir ruhe, ohne zu handeln. Dass ich belehre, ohne zu reden. Dass ich überzeuge, nicht zu besitzen. Irgendwann wollte man sein wie Jack Kerouac. Aber das hat heute keine Bedeutung. Die Vorbilder der Jugend sind verblasst, ebenso wie die Erinnerung daran.

Nach uns kräht kein Hahn mehr!, hat mir ein lieber Freund neulich geflüstert. Du hast gesagt, such dir andere Freunde. Wenn du wieder wach bist, werde ich dich daraufhin ansprechen.

Ich wundere mich immer wieder, worüber Schriftsteller so schreiben. Sind es wirklich die kleinen Aufmerksamkeiten, denen sich der begnadete Dichter widmet, den kleinen, alltäglichen Dingen des Lebens, so wie ich es hier liegend tue, in meiner Krisennotiz? Der Fleck an der Decke ist ein Wasserfleck. Gewiss. Über den täglichen Mord an einem Silberfischchen auf dem WC?

Die kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens! Ich habe nicht gewusst, was an denen so wichtig sein soll? Mir hat man immer eingebläut, dass es um die großen Dinge ginge, um Karriere, um Selbstverwirklichung und solche Sachen. Mir fällt da so ein Kerl ein, der nie bitte und danke sagt. Der auch gesagt hat, man muss aus allem etwas machen, auch wenn es im Grunde nichts ist. Und man muss die anderen glauben machen, dass es etwas ist, sonst haben sie keinen Respekt vor dir. Ich will ganz gegen meine Natur versuchen, das einmal zu verstehen, vom eigentlichen Versuch halte ich besser Abstand.

Wenn es also um die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens geht, dann auch um das Tropfen des Wasserhahnes aus der undichten Leitung im WC. Um den Gestank, der aus dem Auspuff der Dieselautos kommt. Um das Scheppern der Mülleimer, wenn sie von der Müllabfuhr um sechs Uhr morgens abgeholt werden. Dahinter verbergen sich die vielen kleinen Geschichten, die man lebendig erhalten soll? Ich weiß nicht.
Das ist die Aufgabe der Literatur? Jetzt sitzt eine auf meiner Hand, das gibt´s nicht! Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Das habe sogar ich bemerkt. Spektakulär wäre es nicht, was sie da erzählen, sagen manche über die Dichter. Keine hippen Dialoge, kein mitreißender Plot, doch verfüge manch ein Roman über das gewisse „Nichts“. Ein „Ich-Erzähler“ erlebt das Natürlichste auf der Welt, den Arbeitsprozess und – sein Scheitern daran. Beinah wie ich! Was heißt? Das bin ich!
Was auffällt, sei die präzise, unerhört dichte Prosa, die darüber berichtet, wie der arme Kerl im Laufe der Jahre an seinem Ehrgeiz, an seinem Engagement, seinem Idealismus langsam aber sicher zugrunde geht. An sich eine traurige, jedoch völlig alltägliche Geschichte. Schatz, du schnarchst! Niemand möchte meinen, dass so etwas thematisch was hergibt, und immer wieder wären die Leser darüber im höchsten Maße erstaunt, woher der junge Mann die Fähigkeit zur Darstellung dieser außergewöhnlich subjektiven Darstellung der Wirklichkeit nimmt, so jung, wie er ist. Warum werde ich nicht müde?, frag ich mich. Und da ist eines von den Ludern, ich sollte zuschlagen. Aber dann wachst du auf. Ich verscheuche das Biest mit der Hand.

Ganz im Gegenteil, denn voll Tagendrang überlege ich stattdessen, fieberhaft beinah, mein Krisenkonzept zu ergänzen und quasi einen Zusatz anzubringen, ob ich meinen Schuldgefühlen nicht vielleicht noch eins draufsetzen sollte, einen Mord gar?! Thema Nummer eins. Ich stelle mir vor, einen Mord verübt zu haben. Ja, vielleicht einen Mord verübt zu haben, mir anzumaßen, wie schon eben vorhin angedacht, in dem ich, auf dem WC in entspannt sitzender Position, völlig überlegen, rein physisch, dachte ich, einer wehrlosen Kreatur unter mir, einem kleinen Silberfischchen, mit dem rechten Daumenzeh auf einer der weißen Fliesen, auf denen es sich besonders gut vom Hintergrund abhebt, den Garaus gemacht zu haben, und ob ich diesem Umstand hernach literarische Bedeutung beimessen dürfte oder nicht?
Sie schnarcht ja schon wieder! Und ob ich, qualifiziert durch diese ruchlose Tat, diese als alltägliche erkannt zu haben und sie als solche überhaupt erwähnt und literarisch genutzt zu haben, schlicht und einfach bemerkt zu haben, ob ich also von nun an zu jenen sensiblen Menschen gezählt werden dürfte, wie all diese begnadeten Dichter? Das alles verwirrt mich.

Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Wo war ich stehen geblieben? Wenn? Wenn auch nur auf dem Gebiet der Krisenliteratur. Diesen Dichtern, denen die Weltöffentlichkeit daher, wegen ihrer genialen Darstellung solcher Banalitäten, die Fähigkeit zur totalen Innovation, endlich etwas Neues gefunden zu haben, äh, diesen Dichtern ihr Tun und Treiben andauernd und immer wieder so überschwänglich bestätigt würde?
Träum ich schon? Nein, da ist die andere Fliege! Schließlich wäre Innovation dringend vonnöten, in dieser liberalistischen Zeit. Wo ja doch jeder nur an sich selber denkt. Und ob ich eben durch diese Beschreibung des belanglosen Alltäglichen über die Maßen hinaus nun auch zur Kunst des Dichterischen befähigt wäre? Und nicht zuletzt durch das Formen barocker Satzgirlanden bewiesen hätte, so völlig aus dem Bauch heraus und eigenständig imstande zu sein, allerlei wirres Zeug und Spitzbübereien komponieren zu können, was in der Leserschaft gefragt wäre?
Langes Gähnen. Nämlich eigenständige Dichtkunst hervorbringen zu können, die in der Abbildung der Wirklichkeit wie auch in ihrer Darstellung eins zu eins dem entsprächen, was man landläufig so als Literatur bezeichnen könnte? Und die in ihrer Gestalt für den geübten Belletristen auch als solche nachvollziehbar sei und überhaupt? Was ist los?

Jetzt ist aber Schluss! Aufhören, bitte aufhören! Ich will ja schlafen. Bitte liebes Gehirn, lass mich auf der Stelle müde werden. Jetzt und gleich, ich flehe dich an. Nimm dir ein Beispiel an meinem alten Mädchen hier, das so unschuldig vor sich hin schlummert. Gnade! Und nimm mich in deine Arme, lieber Schlaf! Ich hab´s verdient! Das siehst du doch ein?

Norbert Johannes Prenner
(bearbeiteter) Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16046

 

Kapuzinergruft

Paul sank tiefer, immer tiefer in die Polsterung seines Lehnstuhles. Es bereitete ihm große Mühe, die Augen offen zu halten. Die letzte Zigarette hatte zarte Rauchschwaden hinterlassen, die sich feig in Richtung sichtundurchlässiger Gardine, zum halb geöffneten Fenster hin davonmachten, um sich von dort in trägen blauen Windungen den Weg nach draußen zu suchen, wo sie hoffen konnten, Anschluss an die sonntags eingetroffene Westströmung zu finden.

Er las den letzten Absatz der Zeitung immer und immer wieder. Vielleicht machte ihn gerade das so müde. Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Keiner könne eine Messerattacke verhindern! Was für Zeiten! So was hatte es immerhin zu Kaisers Zeiten auch schon gegeben, beruhigte er sich. Schöne Beruhigung! Was für eine Welt, dachte Paul. Die offene Zeitung glitt sanft seine Beine entlang zu Boden.
Als wandelte er wie im Traum seinen gewohnten Weg, die Josefsgasse hinunter, vorbei an dem Haus, wo Oskar Werner gewohnt hatte, an den er sich noch erinnerte, als wäre es gestern und auch an das Gasthaus an der Ecke zur Josefstädterstraße, in dem jener gerne verkehrte, jetzt Restaurant zur „Frommen Helene“. Von dort aus überquerte er die Auerspergstraße, davor der berüchtigte und vor hundert Jahren beliebteste Duellplatz der jungen Herren aus gutem Hause. Duelle gab es hier heutzutage keine mehr, zumindest nicht mit Degen, aber dafür andere, solche mit Autos.

Warum sollte ausgerechnet diese Stadt vielleicht jetzt auch noch Zielscheibe des Terrorismus werden? Pauls Stirne zeigte deutlich Falten. Erst viel später war hier die legendäre Vergnügungsmeile entstanden, eine zwei Kilometer lange Demarkationslinie zwischen Neubau und Josefstadt bildend, zwischen Musik und revolutionärem Geiste. Doch heute – heute donnerte der Verkehr an den ehrwürdigen Palais vorbei und färbte ihre ehemals blendend weißen Kalksteinfassaden grauschwarz. Das vielgerühmte Walzerviertel, in dem einst Strauß und Lanner gewohnt hatten, war mittlerweile alles andere als romantisch, aber – was sollte es, heute war trotzdem ein besonderer Tag, nämlich der Tag des hundertsechsundachtzigsten Geburtstags des Allerhöchsten, der heute gefeiert wurde, posthum quasi, wenn auch nur in kleinem Kreis, und bei weitem nicht so pompös wie damals.

Vom Burggarten her waren Trommeln und Blechmusik zu hören, sie kamen näher und näher, hin in Richtung Kapuzinerkirche am Neuen Markt. Paul schob sich unauffällig unter die Menge, die sich, bunt gemischt, aus Alt und Jung, mit Dirndl und Lederhose oder im T-Shirt, militärbemützt, mit und ohne Regimentsfahne durch die widerspenstige, immer wieder zufallen wollende Kirchentür drängte. Es gab noch freie Plätze. Paul setzte sich in eine Bank nahe dem rechten Seitenaltar. Neben ihm eine ältere Dame mit weißen Handschuhen und Gehstock.

Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Der Satz ließ ihn nicht los. Wer würde solche Menschen wie diese Frau hier und diese Menschen hier wegen ihres Glaubens zu Opfern machen wollen?, dachte Paul. Für wen würden solche Sinnlosigkeiten Sinn machen? Was stand wirklich hinter diesem Wahnsinn, der nun schon seit Jahren beinahe weltweit tobte? Paul sah sich um. Das Altarbild zeigte Jesus Christus, auf einer Wolke schwebend, mit der Linken ein mächtiges Holzkreuz umklammernd. Nie zuvor hatte ihn der Anblick dieses Bildes so sehr berührt wie eben. Die Schar der Begeisterten würde auch immer kleiner, raunte ein Besucher hinter ihm. Vor zwanzig Jahren hätte man hier keinen Platz mehr gekriegt um diese Zeit, meinte ein anderer.
Paul schaltete sein Handy ab und schob es in die Rocktasche. Die meisten der Anwesenden waren nicht besonders festlich gekleidet, und unter die Uniformierten und Trachtenbejoppten hatten sich zahlreiche neugierige Touristen gemischt, mit offenen Blusen, verschwitzt, mit allerlei Souvenirzeug beladen. Draußen - ein warmer Augusttag, wo sich Radfahrer auf Radwegen tummelten, drinnen - angenehme Kühle und leises Geflüster. Autolärm drang herein. Rechts von Paul, am Boden, eine von unten her beleuchtete Öffnung, in Stein eingelassen, die Gruft des Marco d´Aviano. Eine Dame links von ihm blätterte laut raschelnd im schwarz-gelb gehaltenen Festprogramm.
Paul rutschte unruhig auf der harten Holzbank hin und her und suchte nach einer bequemen Sitzposition, was ihm nicht so ganz gelingen wollte. Hinter ihm zischelte man sich alte Geschichten längst vergangener Tage zu, wohl um sich einzustimmen auf die Zeitreise für diese alljährliche Feier. Und ob man schon gehört hätte, es wäre wieder wo eine Bombe hochgegangen. Naja, im Ausland, sagte einer.
Nicht nur anderswo, auch bei uns wäre so ein Anschlag möglich, dachte Paul. Schrecklich der Gedanke! Er war neulich im Wiener Musikverein. Ein herrliches Konzert, aber schon in der Eingangshalle überlegte er, da befinden sich Hunderte Menschen völlig unkontrolliert in einem öffentlichen Gebäude. Wenn sich da ein paar Typen mit Sprengstoffgürteln daruntermischten, konnte Fürchterliches geschehen, und er hatte sich besorgt umgesehen. Ausschau halten, dachte er, nach Personen, die so aussehen wie…

Ein kahlköpfiger Pater in brauner Kutte entzündete bedächtig die mächtigen Kerzen am Hauptaltar. Dann strömten ordenbeladene, mit Umhängen ausgestattete, trotz allem Prunk sehr bürgerlich aussehende Würdenträger den Mittelgang entlang, hin zu den vordersten Reihen, um dort ihre Plätze einzunehmen. Mitglieder des Malteserordens wohl, durchfuhr es Paul. Das is´ ja der Präsident!, raunte jemand hinter ihm, do schau her! Was denn für ein Präsident, überlegte Paul fieberhaft und verrenkte sich beinahe den Hals. Zwölf rosarote Gladiolen zierten den Altarraum, in einer überdimensionalen Bodenvase steckend, links und rechts davon stand Grünes, in lehmgebrannten Töpfen. Ein Militärbemützter sank stöhnend auf die Sitzbank nieder, in der Paul saß, dass alles bebte.
Das Alter, dachte Paul. Wie würde er es erleben? Die Weißbemäntelten der ersten Reihen tuschelten untereinander und steckten die Köpfe zusammen. In schwarzem Tüll erschien eine offensichtliche Nachfahrin des Allerhöchsten, würdigen Schrittes, ganz nach vorne stelzend, sich ihrer Schirmfrauenschaft dieser Feier wohl bewusst und von allen begafft, setzte sie sich in die erste Reihe. Hinter ihr, Uniformierte eines Traditionsregimentes, mit Fahne, vorneweg tragend, ein dicker Hauptfeldwebel mit gezogenem Säbel, linke Hand abgewinkelt, Klinge auf seiner linken Schulter ruhend, Tschako schief am Kopfe sitzend, Gesicht hochrot.

Er selbst wäre zwar ein liberaler Mensch, dachte Paul, aber sollte man nicht jetzt überall Metalldetektoren aufstellen? Oder würde man die Leute damit bloß verunsichern? Noch mehr verunsichern als sie ohnehin schon waren? Dann kämen die mit den Säbeln hier erst gar nicht herein, musste Paul schmunzeln. Man muss sich bewusst werden, welch großartige Freiheiten man eigentlich hatte und dass man bislang relativ sicher gelebt hatte. Aber diese neuen Zeiten brachten einen völlig durcheinander.

Die Uniformierten verteilten sich im Kirchenschiff, sozusagen einzeln abfallend, jeder irgendwo, drei von ihnen etwas enger beisammen als der Rest. Der mit der blanken Klinge schritt bedächtig den Mittelgang entlang und musterte mit prüfendem Blick die Seinen und die Übrigen. Ein Säbel gegen Handgranaten oder Dynamit, dachte Paul. Was tun wohl die geheimen Nachrichtendienste vorausblickend, überlegte er? Ob die alle wirklich effizient zusammenarbeiten würden? So betrachtet wäre neun/elf mit hoher Wahrscheinlichkeit vielleicht zu verhindern gewesen, hatte einmal einer gemeint, die Geheimdienste hatten doch alle Informationen beisammen? Man hätte sie nur richtig zusammensetzen müssen.
Irgendwo fiel eine Münze zu Boden. Es gab ein klirrendes Echo. Vielleicht hatte man das große Ganze nicht gesehen, damals? Abgesehen davon hätte man denken müssen, wer heute dein Freund ist, kann schon morgen dein Feind sein. Ist doch lächerlich! Misstrauen wäre ein essenzieller Faktor. Und wenn schon, was könnte man selbst tun?
Paul zermarterte sich das Gehirn. Menschenansammlungen meiden, durchfuhr es ihn. Er betrachtete nochmals die Säbel, die da in die Luft ragten. Ein Ungleichgewicht. Und die Träger dieser archaischen Waffen wankten. Besonders glücklich sah keiner von ihnen drein. Ein alter Major, schief, mit Hohlkreuz, hielt die ihm anvertraute Fahnenstange mit beiden Händen fest umklammert. Seine Backenknochen mahlten hin und her. Die schmalen Lippen eng zusammengepresst, das graue Schnauzbärtchen hochgezogen, dann wieder gesenkt, hochgezogen, gesenkt. Was ging wohl in dem jetzt vor? Hatte er sich mental ins vorige Jahrhundert gebeamt? Oder war im bewusst, in welcher Zeit er eben lebte? Seine Augen lagen in faltenreiche Tränensäcke gebettet und glänzten etwas rot. Er stand Paul am nächsten von allen Militärs. Die Übrigen schienen gleichfalls einen äußerst müden Eindruck zu vermitteln, ja, einen beinahe hoffnungslosen, in ihren schlotternden Gewändern, und so krumm, wie sie alle dastanden.

Da plötzlich setzte die Orgel zu spielen ein, und die Leute begannen schleppend dazu zu singen, obwohl der Organist bemüht war, etwas Tempo in die ganze Sache zu bringen. Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Zwei Kapuzinerpater waren da vorne, der eine etwa Mitte fünfzig, mit langem, grauem Rauschebart, er las die Messe, der andere, wahrscheinlich siebzig oder älter, mit kürzerem Bartwuchs, ministrierte ihm. Paul gähnte. Er nahm erst wieder Anteil am Geschehen, als er die böhmakelnden Worte des Predigers vernahm, was dazwischen geschehen war, fehlte ihm plötzlich in seiner Wahrnehmung.

… und am zweiten Dezember achtzehnhundertundachtundvierzig wird er Kaiser von Esterreich gleichsam von Gottes Gnaden. Seine Arbeit war geprägt von großem Reformwerk und die Frichte seiner Arbeit hielten die Monarchie in ihrer Vielfalt zusammen, wodurch er zum Symbol der Esterreichisch-Ungarischen Monarchie geworden war. In fortgeschrittenem Alter zog er sich immer mehr und mehr aus den Amtsgeschäften zürick und wurde mehr und mehr zur Integrationsfigur dieser velkerverbindenden Konstellation. Er fiehlte sich als Soldat und Beamter, nicht zuletzt auch als toleranter, frommer - der Pater machte eine längere Pause - Katholik. So fiehrte ihn sein Weg vom Monarchen zum konstitutionellen Herrscher, der stets seine Pflicht als oberstes Ziel angesehen hatte.
Welche Botschaften aber, liebe Gleibige, soll uns sein Geburtstag ibermitteln? Er, der die Ideale der Monarchie bewusst gelebt hatte, ja, nämlich Pflichtbewusstsein, Unbestechlichkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Ordnungssinn, religiese Toleranz, Achtung gegen den Feind und gerechte Justiz. All diese Werte werden damals wie heite genauso von uns allen gefordert, wie Ehrehrbietung gegen die Gesetze, Vorgesetzte und Angeherige. Franz Josef hatte stets versucht, seine Ideale in die Praxis umzusetzen.
Der Mensch, liebe Gleibige, ist unvollkommen, auch ein Kaiser, und der Mensch bewegt sich ständig in dem Spannungsfeld zwischen Besem und Gutem, darum braucht er Gottes Kraft, als Basis fir sein Lebenswerk. Und in der heitigen Zeit umso mehr. Drum, seien wir wachsam, liebe Gleibige! Das beginnt schon im Baumarkt. Wenn ein Kunde von einer Chemikalie, etwa einem Lesungsmittel, so viel kauft wie iblicherweise zehn andere Kunden zusammen, dann muss man sich als aufmerksamer Verkeifer zumindest die Frage stellen dirfen, wofir braucht der das eigentlich? Wenn wir wollen, dass es bei uns auf Bahnhefen und in Konzertsälen oder in Kirchen keine rigorosen Eingangskontrollen gibt, dann missen wir die Augen viel offener halten, liebe Gleibige, als bisher!
Daher wird von uns verlangt, dass jeder seine Pflicht tut. Eiropa ist heite zu einem mehr oder weniger friedlichen Vielvelkerstaat zusammengewachsen wie damals die Monarchie. Aber, wie wir alle wissen, wir beheimaten heite auch Menschen mit einem extremistischen Weltbild und wir beobachten Zellen gewisser Briderschaften, die uns nix Gutes tun wollen. Iberall suchen diese verstärkt nach deitschsprachigen Kämpfern, sogar in unserem Esterreich, auf dass diese ausgebildet werden, um dann in Deitschland oder sogar bei uns in Esterreich operieren zu kennen. Wir alle missen befirchten, dass es friher oder später auch in Esterreich zu solch einem Anschlage wird kommen kennen. Was der allmächtige Gott verhindern mege!

Paul war der Kopf nach vorn gekippt, als er jäh erwachte. Was hatte der Pater da gesagt? Er hatte nicht ganz verstanden. Paul rieb sich die Augen und sah unauffällig um sich. Er musste wohl eingenickt sein. Der Pater hinterm Altartisch schickte sich bereits an, seine Predigt mit den Worten zu beenden: Das bedeitet, dass unsere Pflichten heite genauso aufrecht sind wie damals und wir uns umsehen und vorsehen missen, damit wir auf dem rechten Wege bleiben! Amen. Vergelt´s Gott, murmelte die Menge. Die Himmel rühmen ... klang es an Pauls Ohr und er kramte nach seiner Brieftasche. Der Klingelbeutel wurde herumgereicht. Mit einem Male war auch die Kommunion vorbei, zu der sich alle, höchst umständlich, in ungeordneter Schlangenlinie angestellt und vorgedrängt hatten. Paul war gleichfalls aufgestanden, denn er konnte kaum noch sitzen vor Rückenschmerzen, hielt aber tapfer durch bis zum Schluss. Zum Segen hatte man sich erhoben und wartete die präludierende Paraphrase des Organisten ab, nachdem dieser gerade noch an einer wenig ans Ziel führenden, gefährlichen Modulation das Haydn´schen Themas vorbeigeschrammt war, um danach, gemeinsam mit der Menge, in die Melodie des Liedes „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze führ´ Er uns mit weiser Hand! Lasst uns Seiner Väter Krone schirmen wider jeden Feind: Innig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint“, einzustimmen.

Paul kratzte sich hinterm Ohr, er sah auf seinen Taschenkalender. Es war schon zweitausendsechzehn, aber ganz sicher war er sich nicht. Ein Blick auf den alten Major machte ihn unsicher. Ein Degen blitzte im Licht der Kronleuchter kurz auf. Die Menge sang mehr oder weniger intoniert. Er selbst wagte anfangs nicht mitzusingen, dann jedoch öffnete er seine Lippen, er wollte singen, aber kein Laut kam über seine Lippen - er selbst meinte, dass er sänge, konnte sich aber nicht hören, und plötzlich schreckte er jäh hoch - in seinem Lehnsessel, im ersten Moment unfähig zu lokalisieren, wo er überhaupt war. Unbewusst führte er seine rechte Hand zum schmerzenden Rücken, um sich durch Reiben ein wenig Linderung zu verschaffen, was völlig wirkungslos blieb. Er gähnte lange und stand schließlich widerwillig auf, um sich Kaffee zu kochen.
Währenddessen steckte er sich eine Zigarette an und überlegte angestrengt, wo war er denn nun eigentlich stehen geblieben? Ach ja, da war doch gleich – ah ja, es war ja nur ein Traum, ein Traum, ja. Wenn auch nicht alles. Manches daran war ja Wirklichkeit, dachte er, als er die Zeitung vom Boden aufhob, verdammte Wirklichkeit! Paul warf einen Blick aus dem Fenster. Der Sommer ging langsam seinem Ende zu, er spürte es, und - irgendetwas erinnerte ihn daran, dass man seine Pflicht zu erfüllen – hätte – seine – Pflicht erfüllen .... wie damals .... aber welche Pflicht?

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16041

On the Road Again

Einen Spaziergang machen. Zum Nachdenken, zum Runterkommen, zum Erholen, und um alles von sich abzuschütteln, was so an einem unangenehm haften geblieben war die letzten Tage. Alles loswerden, was einen so vereinnahmt. Die kleinen Histörchen, Skandale, die Familiengeschichten, Songtexte und und und. Wenn das so leicht wäre! Landschaft. Konzentrieren auf die Landschaft. Dort ein Baum, ein Strauch, ein Vogel am Himmel. Ein Vogel? Ein Flugzeug. Dahingehen auf einer Straße.

Wieder auf der Straße
Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, irre Sachen mit meinen Freunden zu machen…

Seine Schritte über die nahen parallel zum See liegenden hügeligen Weingärten lenken. Auf einem - Güterweg, immerhin asphaltiert, mitten im Grünland, wie überall hier. Beinah eine Straße. Das Wetter war gar nicht so mild wie anfangs erwartet. Ein ziemlich kalter Wind fegte von Westen her über die blattlosen Weinstöcke. Wo er auf Widerstand traf, pfiff er sein Lied unaufhörlich an den dünnen Drähten der Weinstöcke. Über den Himmel zogen, aufgefädelt wie Perlen an einer Kette, Flugzeuge im Dreiminutenabstand ziemlich tief ihre Anflugsrunden auf den nahen Flughafen. Kinder hätten vielleicht gewinkt oder ein Taschentuch geschwenkt, das die Passagiere hätten sehen sollen. Erwachsene unterlassen solchen Unsinn. Die Welt der Erwachsenen ist zumeist eine nüchterne. Es findet sich oftmals kein Platz für Träume und Fantastereien darin. Weit hinten am Horizont war der bewölkte Himmel etwas aufgebrochen und ließ den einen oder anderen Sonnenstrahl auf das schwache Grün darunter herniederblitzen. Tief Luft holen und nach oben blicken. An manchen Stellen klarte es etwas auf. Nachdenken. Ein Gefühl, als stünde man barfuß auf dem Rücken zweier Pferde im Galopp, die unaufhörlich weiterlaufen, während man die Zügel zwar in der Hand hält, es aber Mühe macht, die beiden Tiere beisammen zu halten, da sie jederzeit nach links oder rechts ausbrechen könnten. Und alles ist so unaufhaltsam - wie die Zeit, die nicht zu stoppen ist, die einem nicht sagt, wohin denn die eigene Reise geht. Einmal anhalten können. Verschnaufen können. Überlegen, ob der richtige Kurs vorliegt. Korrekturen anbringen.

Wieder ein Airbus über dem Kopf. Der Wind trug Fetzen eines Liedes vom Ortsfriedhof an die Ohren heran. Blasmusikkapelle. Ich hatt´ einen Kameraden! Der junge Mann, den sie begruben, war erst zweiundfünf-zig, wie zu erfahren war, und sie spielten ein Soldatenlied! Zweitau-sendundsechzehn! Nicht etwa Yesterday oder wenigstens Time To Say Goodbye. Weiter auf der Straße, die den Weg bedeutet.
Da kletterte irgendein Junge aus der Fantasie der Erinnerungen, der einmal in Los Angeles ein Kleinflugzeug entführt hatte und mit diesem über Death Valley geflogen war. Die Polizei suchte ihn wegen Mordes an einem Cop.

Sich in Fantasien er- und eine Straße entlanggehen. Sich in die Lage eines solchen Jungen versetzen. So eine Piper selbst starten und über die Rollbahn fegen. Abheben. Über den Wolken sein. Sonne putzen. Wieder bloß ein Lied. Oder doch Wirklichkeit? Seine Blicke dem Kreisen eines Bussards über dem Acker folgen lassen. Die Welt von oben betrachten. Die Sorgen unten lassen, auf der Erde. Alles Irdische der Erde überlassen. Eine Liebesgeschichte träumen.

Daria, ein junges Mädchen, fuhr im Wagen ihres Freundes in Richtung Denville, oder Glenville. Oder war´s Merryville? Egal. Irgendwo in Phoenix, irgendwo in der Wüste. Ein fantastischer Ort zum Meditieren, telefonierte sie ihrem Chef, der sie lieber in seinem Privatflugzeug mitgenommen hätte, als sie alleine durch die Wüste fahren zu lassen. Was sie denn dort mache? Meditieren, antwortete sie. Was sie damit meinte, fragte ihr Vorgesetzter. Über Dinge nachdenken, sagte sie, kurz angebunden, und hängte auf. In irgendeiner Bar in einem Wüstenkaff. Während die Sonne gnadenlos herunterbrennt, gerät die Geschichte in die Gegenwart. An der Bar hängt ein von Wind und Sonne gegerbter alter Mann herum, der sein Bier trinkt und in einem fort Zigaretten raucht. Wissen Sie, wo Merryville ist? Er schüttelt wortlos seinen Kopf. Aus der Musikbox ertönt Tennessee Waltz. I was dancin' with my darlin' to the Tennessee Waltz. When an old friend I happened to see. I introduced her to my loved one. And while they were dancin,' my friend stole my sweetheart from me. Daria setzt ihre Fahrt mit dem grauen alten Zwölfzylinder fort.

Ich kann es kaum erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.
Wieder auf der Straße…
Orte besuchen, an denen ich noch nie gewesen bin.
Dinge sehen, die ich danach vielleicht nie mehr wieder sehe.
Ich kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.

Daria fährt in dem alten Buick über eine endlose Landstraße. Vom Autoradio ist Hillbilly-Musik zu hören. Da plötzlich - das Flugzeug des Jungen über ihr! Daria steigt aufs Gas. Was will der Verrückte denn? Er wendet und kommt im Tiefflug direkt auf sie zu. Daria duckt sich hinter dem Volant und schüttelt ungläubig den Kopf. Der hat sie doch nicht alle! Der Junge zieht die Maschine abermals hoch, fliegt einen weiten Bogen und rast aufs Neue frontal auf sie zu. Daria flucht leise. Nun kippt er das kleine Seitenfenster des Flugzeugs auf und wirft ein T-Shirt über Daria ab. Dann beobachtet er, wie sie hinläuft und es aufhebt, es mit beiden Händen an ihren Körper anlegt und zu ihm herauflacht. Der Junge landet das kleine Flugzeug sicher auf dem Highway. Er steigt aus, sie sehen sich in die Augen. Ob sie ihn mitnehmen könne, in die nächste Siedlung. In zwanzig Meilen Entfernung wäre die nächste. Er braucht Benzin. Seine braunen Augen spiegeln sich in ihren blauen.

Wieder auf der Straße
Wie Landstreicher streunen wir den Highway hinunter.
Wir sind die besten Freunde, sagen wir, und toll, dass die Welt sich in unseren Wegen kreuzt.
Und unser Weg ist wieder die Straße.

Da wäre ein Polizist erschossen worden. Daria hätte es im Radio gehört. Der Junge sieht zu Boden. Und dass die Pflanzen hier im ewigen Sand nicht eingehen. Ein Wunder auch, bei der Hitze. Rauchst du?, fragt Daria. Nein, ich gehöre einer Gruppe an, die auf Wirklichkeitstour ist. Das heißt, sie können sich nichts vorstellen, lacht Daria und dreht einen Joint. Der Junge erzählt ihr über sein gescheitertes Uni-Leben und von den Studentenunruhen und er fügt an, ja, da sei ein Polizist erschossen worden.

Aber schon laufen sie schreiend und singend eine Geröllhalde hinunter und legen sich in den heißen Sand eines ausgetrockneten Flussbettes, wo sie im Schatten gemeinsam den Joint rauchen. Man muss sich entscheiden, auf welcher Seite man steht, sagt Daria und man könnte alles anders machen, wenn man nur wollte. Der Junge sieht sie ungläubig an. Es ist friedlich hier. Es ist alles tot hier, entgegnet der Junge. Tun wir so, als wären deine Gedanken Pflanzen, muntert sie ihn auf. Wie sehen deine aus?, fragt sie neugierig. Wie Unkraut? Oder Gänseblümchen? Sie lachen. Es wäre schön, wenn man eine glückliche Kindheit pflanzen könnte. Und liebevolle Eltern, sagt er. Dann beginnen sie, im Niemandsland um die Wette zu schreien.

Als sie die Steinrinne wieder emporgeklettert sind, steigen sie in den alten Buick und fahren weiter. Unterwegs halten sie an einer herunter-gekommenen Hütte. Ein alter Mann mit weißen Bartstoppeln hilft ihnen, das Flugzeug, das der Junge geklaut hat, bunt zu bemalen. Niemand versteht, wie die Piper plötzlich hierhergebracht worden war. Ich werde es zurückbringen, sagt der Junge. Du kannst es nicht einfach zurückbringen, versucht Daria ihm das Wagnis auszureden. Aber der Junge lässt sich nicht beirren. Er küsst Daria auf den Mund und steigt ins Flugzeug. Während es abhebt, winkt sie. Ihr Winken ist das eines Kindes. Danach setzt sie ihre Fahrt fort. Der Radiosender meldet, dass ein junger Mann auf dem Rollfeld in L.A. erschossen worden sei, als er ein gestohlenes Flugzeug gelandet habe.

Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, so Sachen mit meinen Freunden zu machen und so…

Daria folgt der Aufforderung ihres Chefs, sich bei ihm mitten in der Wüste in einer Luxusvilla einzufinden, in der eine wichtige Konferenz stattfindet. Aber Daria empfindet nur Leere und Einsamkeit. Es interessiert sie nicht, was hier gesprochen und verhandelt wird. Sie kann unbemerkt in ihr Auto zurückkehren. Sie setzt sich hinein und starrt auf das Gebäude. Ihre Gedanken sprengen ihr Bewusstsein. Ihre Gedanken sprengen dieses Gebäude. Heftige Explosionen erschüttern die karge Gegend. Sessel, Lampen, Tische, Bücher, Tassen, Teller Schränke, Einrichtungsgegenstände, zahllose Trümmer fliegen in Zeitlupe vor ihren Augen in die Luft, schweben eine Zeit lang im Raum und sinken lautlos zu Boden. Musik von Pink Floyd begleitet den irren Trümmertanz. Als es still wird um sie, ist ihr, als hörte sie eine Stimme in ihr:

I was dancin' with my darlin' to the Tennessee Waltz
When an old friend I happened to see
I introduced her to my loved one
And while they were dancin'
My friend stole my sweetheart from me.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16038