Am Bahngleis

Sie hat ihn nicht gesehen, als sie auf den Bahnsteig tritt; zu sehr ist sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Ruckartig dreht sie sich um, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürt. Ihr Lächeln ist überrascht und erfreut zugleich, als sie Harald, ihre Jugendliebe, vor sich sieht. Es ist einer der seltenen Momente, in denen sie nicht weiß, wie sie reagieren soll. Gefühle und Erinnerungen treffen sie im ersten Augenblick mit einer ungeahnten Wucht. Sieben Jahre sind vergangen, seit sich die beiden zuletzt gesehen haben.

Sie hatten sich auf einer Geburtstagsfeier kennen gelernt, auf der sie beide außer dem Gastgeber niemanden kannten. So waren sie irgendwann miteinander ins Gespräch gekommen und saßen die halbe Nacht auf der Terrasse, mit Zigaretten und einer Flasche Weißwein. Es war eine heiße Julinacht und irgendwann war sie mit ihrem Kopf an seiner Schulter eingeschlafen. Erst gegen fünf hatte er sie vorsichtig geweckt. An jenem Morgen hatte er sie zu ihrer Praktikumsstelle in einem kleinen Hotel begleitet, wo sie im Zuge ihrer Ausbildung an einer Tourismusschule zwei Monate als Frühstückskellnerin arbeitete, ehe er sich einen heißen Kaffee besorgt hatte, den er auf einer Parkbank nahe seiner Arbeit trank, während er ein Buch las, um sich die Zeit bis zum Arbeitsbeginn um halb acht zu vertreiben, da es sich nicht mehr lohnte, in seine Wohnung zu fahren.

Unzählige Nächte waren danach so ähnlich verlaufen. Vor allem teilten sie eine Leidenschaft für Bücher und  Filme. Besonders häufig hatten sie sich „The Virgin Suicides“ angesehen, weil jedes Mal an einer anderen Stelle Zündstoff für Grundsatzdiskussionen gewesen war. Er hatte ihre Begeisterung für Gedichte geweckt, als er ihr eines Abends vor dem Einschlafen einige seiner Lieblingsgedichte vorgelesen und sie dabei im Arm gehalten hatte. Vielleicht liebt sie deshalb die Gedichte des türkischen Dichters Nazim Hikmet so sehr: Die Stimmung, die er mit seinen Worten aufkommen lässt, erinnert sie an den unschuldigsten Sommer ihres  Lebens.

Eines Nachmittags holte er sie von der Arbeit ab, um sie mit einem Picknick auf der Donauinsel zu überraschen. Sie waren schon lange mit dem Essen fertig, als es zu regnen begann. Es war ein warmes Sommergewitter, nach einer trockenen, heißen Woche, das sich unweigerlich entladen musste. Ohne viel nachzudenken, waren sie in die Neue Donau gesprungen, um zu schwimmen. Beide liebten die Schwerelosigkeit, die man empfindet, wenn man im Wasser ist. So waren sie eine gefühlte Ewigkeit geschwommen, ehe sie zu ihm nach Hause gefahren waren, um sich heiß zu duschen, eine Pizza zu essen und sich einen Film anzusehen.

Wenn sie an diesen Tag zurückdenkt, erinnert sie sich auch an das intensive Gefühl der Geborgenheit, als sie in seinen Armen einschlief. Er hatte ihr in jenem Sommer Wien gezeigt, jene kleinen Ecken und Enden, in die es sie auch als Studentin immer wieder gezogen hatte. Sehr oft waren sie an gemeinsamen freien Nachmittagen und Wochenenden durch die Wiener Hausberge spaziert, hatten neue Lokale ausprobiert oder  Radtouren unternommen.

Am liebsten jedoch hatten sie sich, die beide immer schon introvertierte Menschen waren, am Rosenwasser im Prater unter einer alten Trauerweide getroffen:  Mit zwei Bechern Kaffee, einer kleinen Jause, einer Picknickdecke und jeder mit einem Buch hatten sie es dort stundenlang gemütlich gemacht. Mehr hatte es für beide meist nicht gebraucht, um zufrieden einen schönen Nachmittag zu verleben.

Nun stehen sie sich wieder gegenüber, mit einem verlegenen, glücklichen Lächeln. Er macht den ersten Schritt auf sie zu, umarmt sie. Sie erzählt Harald, dass sie auf eine alte Freundin aus Salzburg wartet, die sie seit der Matura vor sechs Jahren nicht mehr gesehen hat, da sich ihre Lebenswege nach der Schule getrennt hatten. Auch Harald wartet auf jemanden aus Salzburg; auf seine neue Freundin, die zu ihm nach Wien ziehen wird. Er freut sich zu hören, dass Corinna eine Stelle als Sprachassistentin in einem Gymnasium in Aarhus, Dänemark, bekommen hat, die sie in zwei Monaten antreten wird. Es beruhigt ihn zu wissen, dass sie ihren Traum, im Ausland zu arbeiten, nun verwirklichen kann.
Während sie auf den verspäteten Zug warten, trinken sie einen Kaffee, sprechen über alles, was war, und das, was vielleicht noch sein wird. Und insgeheim tut es beiden leid, als der Zug dann einfährt, weshalb sie Nummern austauschen, um sich zu einem ruhigeren Zeitpunkt noch einmal verabreden zu können. Und beinahe wäre ihr Abschied in diesem Moment wieder eine Spur zu vertraut ausgefallen.

Tatsächlich ergibt sich schon zwei Wochen später eine Möglichkeit, um den Worten Taten folgen zu lassen. Wie schon Jahre zuvor sitzen die beiden abends am Donauufer und beobachten den Sonnenuntergang.

„Schade, dass es dieses Mal nicht regnet“, sagt sie irgendwann. Harald nickt nur schweigend und nimmt sie in den Arm. „Erinnerst du dich noch daran, als ich nach der Party vergessen habe, dir dein Hemd wiederzugeben?“, fragt Corinna. „Ja“, Harald lacht, „es hat wenigstens einige Tage nach dir gerochen, als du es mir wiedergegeben hast. Das war schön.“ Insgeheim freut sich Corinna über seine Worte, sagt aber nichts darauf. Und als er seine Hand auf ihre legt, bewegt sie sich nicht, um die Zeit für einige Momente anzuhalten.
Man kann darüber streiten, ob eine solche Art von Intimität schon Betrug ist. Beide empfanden es so, als wäre dieser Moment nötig, um den sich falsch anfühlenden Abschied von vor sieben Jahren wettzumachen. Harald schweigt die meiste Zeit, erst als die Sterne bereits aufgegangen sind, ringt er sich zu dem Satz durch, der ihm auf dem Herzen liegt, seitdem er Corinna wieder getroffen hat. „Ich habe dich wirklich geliebt Corinna, weißt du das?“

Es überrascht Corinna nicht, Harald am Bahngleis zu treffen, als sie auf dem Weg nach Salzburg ist. Egal, ob richtig oder falsch – es fühlt sich an, als ob es so sein sollte. Harald, die Rose, der Kuss. Ein letztes Mal lehnt sie ihren Kopf auf seine Brust; dann zwingt sie sich doch, nicht mehr zurückzusehen.

Cornelia Hell

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