Der letzte Buckaroo
Hinkend lief Mark mit staubigen Reitstiefeln den Weg entlang. Mit einer Hand hielt er sich die Hüfte und er betrachtete das kaputte Smartphone in der anderen Hand.
„Verdammter Mistkerl!“, dachte er.
„Nugget! Komm zurück!“, rief er energisch. Er nahm den Cowboyhut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Stöhnend hielt er inne und lauschte Richtung Wald, der sich am Fuße der schneebedeckten Berge ausbreitete. Außer dem entfernten Rauschen des Wasserfalles in den nahegelegenen Mesa Falls war nichts zu hören. Mark musterte seinen zerrissenen Ärmel und die darunterliegende, abgeschürfte Hautstelle am Ellenbogen.
„Wenn ich den erwische, der kann was erleben!“, nuschelte er mit zittriger Stimme.
Plötzlich hörte er ein Knacksen.
„Nugget?“
Über eine Anhöhe, die in der Nähe des Waldrandes lag, kam ein Reiter auf ihn zu. An seiner Seite führte er Nugget als Handpferd. Der Mann mit dem breitkrempigen, dunkelgrauen Hut saß aufrecht im Sattel und hielt die edel geflochtenen Lederzügel sachte in den braungebrannten, gekrümmten Fingern der linken Hand. Sein Pferd glänzte in der Abendsonne, ein wunderschönes Tier mit eindrucksvollem Gehabe, einer dunklen Mähne und majestätischen Bewegungen. Mark hatte noch nie so ein elegantes, stolzes Pferd gesehen! Sie kamen näher, und Mark konnte nun auch das Gesicht des Mannes erkennen. Bärtig, braun und faltig, die Gestalt schmal und hager, mit gepflegten Lederchinks über den Jeans und mit einem roten Hemd und schwarzem Seidentuch um den Hals. Das Tuch wurde von einer silbernen Schmuckspange zusammengehalten, in der sich die Sonne spiegelte.
Er hielt neben Mark an, begrüßte ihn mit einem herablassenden Lächeln, mit dem selbstbewusste ältere Männer eben jüngeren Männern in Idaho begegnen, und fragte:
„Ist das dein Pferd?“
An der Seite von Mark wurde Nugget zunehmend unruhig. Sein Hals war schweißnass und sein Atem ging in schnellem Tempo. Mark näherte sich ungeschickt, wollte die Zügel fassen. Prompt wich der Rappwallach einige Schritte zurück, seine Augen waren geweitet und er schnaubte laut.
„Ja, Sir. Also eigentlich nein, Sir. Das ist das Pferd von Jim, ich hab es mir geliehen. Dort vorne hat mich dann der Gaul ohne Grund abgebockt und das Weite gesucht!“
„Soso, einfach abgebockt.“ Als Mark noch immer nicht in der Lage war, nach den Zügeln zu greifen, geschweige denn in den Sattel zu steigen, ritt der alte Mann, wieder die Zügel von Nugget haltend, einfach los.
„Folge mir.“
Mark lief, so schnell ihm das möglich war, hinterher.
„Moment, Hallo! Wohin denn? Kann ich nicht aufsitzen? Ich bin verletzt.“
Der Reiter reagierte nicht und ritt Richtung Wald.
Nach etwa zehn Minuten erreichten sie eine kleine Lichtung. Der Mann stieg ab und führte beide Pferde zu einer abgebrannten Feuerstelle, auf der eine alte Kaffeekanne stand. Mark warf den Hut in die Wiese, stützte seine Hände auf die Knie und atmete lautstark.
„Komm und sattle dein Pferd ab“, murmelte der Mann.
„Ich sollte jetzt aufbrechen und heimreiten, meinst du nicht?“
Der Mann wandte sich um und sah Mark mit zusammengekniffenen Augen direkt ins Gesicht. „Okay, mein Einwand scheint nicht geduldet zu sein“, dachte Mark.
Mit vor Erschöpfung zittrigen Fingern näherte sich Mark dem Sattelgurt, Nugget wich sogleich zur Seite.
„Mensch, Nugget, jetzt halt doch mal still. Das kann doch nicht wahr sein! Was ist denn heute bloß los mit dir? Lass dir mal …“
„Hör auf mit dem Gequatsche. Das interessiert ihn nicht!“
Der alte Mann legte seinen Sattel sorgsam auf eine Decke und ging zu Nugget, sattelte ihn ab und verstaute alles am Boden, dann nahm er dem Pferd die Trense aus dem Maul. Nugget hielt völlig still und senkte den Kopf.
„Aber wenn sie nun frei sind, laufen die dann nicht weg?“, fragte Mark.
„Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir“, entgegnete der Mann.
„Ich erwähnte bereits, dass er nicht mir gehört“, wandte Mark ein.
„Lass ihn mal den Kopf frei bekommen. Das hat er dringend nötig.“
Als sich der Mann zur Lagerstelle begab, gingen beide Pferde ruhigen Schrittes grasen. Jetzt bemerkte Mark den gebückten, unsicheren Gang des alten Herren und dessen O-Beine.
„Im Sattel stolz und anmutig, zu Fuß ein alter, gebrechlicher Mann“, stellte Mark in Gedanken fest. Menschen zu beobachten, war Marks Job und er konnte das gut.
„Ich heiße Dave. Willst du Kaffee?“. Der Mann bückte sich zur Kanne und goss in eine alte Tasse etwas braune Brühe ein.
„Nein, danke. Ich heiße Mark und sollte jetzt wirklich aufbrechen. Jim wird sich Sorgen machen.“
Dave setzte sich auf einen Baumstumpf und nahm einen Schluck aus der Tasse.
„Du bist also bei Jim drüben auf der Ranch. Bist du Tourist?“
Mark trat von einem Bein auf das andere, beobachtete die Pferde, die nun etwas weiter weg Richtung eines Bachlaufes marschierten und dort vom Wasser tranken.
„Nein, Jim und ich sind alte Jugendfreunde. Ich wohne bei ihm für eine Weile, um hier zu arbeiten.“
„Was ist das für eine Arbeit?“, wollte Dave wissen.
Mark holte tief Luft, eigentlich war er nicht in Stimmung für Small Talk. Dennoch nahm er gegenüber dem alten Mann auf einem weiteren Baumstumpf Platz.
„Ich arbeite an einem Buch. Es handelt von Cowboys im Westen. Bin etwas unter Zeitdruck, weil mir der Verlag schon auf die Pelle rückt. Es ist sehr hilfreich, dass ich bei Jim arbeiten kann, wollte nämlich auch auf dem Pferd sitzen, damit ich meine Protagonisten hautnah beschreiben kann.“
Dave schmunzelte ein wenig, zündete sich mit arthritischen Fingern eine Zigarillo an und betrachtete die Pferde.
„Nugget ist ein feiner Kerl. Sehr sensibel und aufmerksam.“
„Kennst du ihn schon länger?“, wollte Mark wissen.
„Ich brauche ihm nur in die Augen zu sehen.“
Mark scharrte etwas verlegen mit einem Stiefel im Staub.
„Wie war das mit dem Bocken? Erzähl mal.“
„Naja. Ich ritt so des Weges im gemütlichen Schritt. Bin ja schon öfter mit ihm geritten die letzten Wochen. Bekam dann eine Mail auf mein Handy und hab nachgesehen. Auf einmal wurde Nugget nervös und tänzelte und wurde zappelig. Hab dann versucht, ihn am Zügel zu bremsen, und Jim meinte, manchmal schadet ein kleiner Sporeneinsatz nicht, um ihn wieder runterzuholen.“
Dave fing sachte und aus tiefer Kehle an zu lachen.
„Und dann hat er einfach so gebockt, was?“ Er lachte weiter und wischte sich eine Träne ab.
Die Pferde waren mittlerweile in den Wald verschwunden, nur ab und zu war ein leises Knacken zu hören. Dave beunruhigte das in keiner Weise, nur Mark stand auf und hielt Ausschau.
„Was stand denn da so in der Nachricht auf dem Telefon?“, fragte Dave.
„War geschäftlich. Wieder der Verlag, der endlich einen Vorentwurf braucht. Ich komme aber nicht weiter. Hänge diesmal gewaltig fest mit der Story.“
„Wie hast du dich gefühlt, als du die Nachricht gelesen hast?“ Mark setzte sich wieder und dachte ein Weilchen nach.
„Weiß nicht, geärgert habe ich mich wahrscheinlich.“
Dave beugte sich zu seiner Satteltasche und kramte einen silbernen Flachmann hervor. Er reichte sie Mark.
„Hier, nimm einen Schluck und versuche zu entspannen.“
Mark fühlte die ölige, intensive Flüssigkeit die Kehle hinuntergleiten. Ein angenehmer, kräftig-beeriger und rauchiger Geschmack machte sich breit, feinster Whisky!
„Bist du nun bereit für ein paar Worte?“, fragte Dave. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter.
„Entspannung gepaart mit gegenseitigem Vertrauen sind die Standbeine der Ruhe im Pferd. Setze dich nie in Hektik in den Sattel. Übertrage keine unnötigen Erregungen auf das Tier. Es gibt immer einen Grund für jede Bewegung, Regung und Handlung des Pferdes. Nur, wer sich Zeit und Mühe nimmt, wird Erfolg haben. Ein richtiger Horseman benimmt sich nicht dominant und aggressiv. Und bedenke: Dein Pferd ist dein Spiegel. Es schmeichelt dir nie. Es spiegelt dein Temperament. Es spiegelt auch deine Unsicherheiten, deinen Frust. Ärgere dich nie über dein Pferd, du könntest dich genauso gut über dein Spiegelbild ärgern! So einfach ist das, Mark.“
Dave schaute Mark fest in die Augen. Es war ein wissender, sanfter Blick mit enorm viel Wärme. Plötzlich bemerkte Mark auch den Schalk, der in den graublauen Augen des alten Mannes aufblitzte, ein lebensfroher Mensch mit einer großen Verbundenheit zu den Pferden. Mark meinte sogar, die Silhouette eines Pferdes zu erkennen, die sich nun in den Augen spiegelte.
„Na, da seid ihr ja!“, sprach Dave und erhob sich. Nugget und das Pferd von Dave standen hinter Mark. Völlig ruhig und entspannt, Mark hatte sie nicht einmal kommen hören.
„Dann wollen wir Jim nicht länger warten lassen“, meinte Dave.
Die Männer sattelten ihre Pferde und Nugget hielt jetzt ganz still.
„Ich werde dich begleiten“, meinte Dave. Mit einer geschmeidigen, ruhigen Bewegung stieg er in den Sattel und wartete auf Mark.
„Bescheidenheit und Demut, Mark. Reite dein Pferd stolz und mit Würde. Lass es strahlen!“
Mark wurde plötzlich ganz mulmig zumute. Wieso hatte er sich nie näher Gedanken über das Wesen der Pferde gemacht?
Der Ritt über den Waldweg und später über die staubige, schmale Landstraße verlief in völliger Ruhe. Dave sprach kein Wort. Er streichelte manchmal unauffällig über den Widerrist des Pferdes und nun war er auch nicht mehr der alte Mann, er war eine Einheit mit seinem Wallach, und beide, Pferd und Reiter, wirkten unglaublich imposant und erhaben. Nugget trottete aufmerksam hinter ihnen her.
Jim stand in der Einfahrtsstraße zu seiner Ranch und wartete. Dave hob die Hand zur Hutkrempe und tippte kurz daran:
„Jim!“
„Dave. Es ist mir eine Ehre!“
Mark stieg vom Pferd und bedankte sich für die Begleitung. Es war ihm seit langer Zeit endlich warm ums Herz, und er spürte eine unendliche Zufriedenheit. Sanft strich er über Nuggets Hals und schaute Dave nach, der wieder seines Weges ritt.
„Na, Mark? Alles okay bei dir? Wo hast du denn Dave aufgegabelt? Ihn sieht man sehr selten. Er ist einer der letzten Buckaroos hier bei uns und ein unglaublich guter Horseman.“
„Ja, ich weiß. Und ich weiß jetzt endlich, wie ich mein Buch schreiben werde.“
Manuela Murauer
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www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 19113