Das Familienalbum
Ich besuche gerade meine alte Mutter. Es gibt selbstgebackenen Apfelkuchen mit Schlag und Kaffee noch aus der Filterkaffeemaschine in dünnwandigen, alten, kleinen Tassen. Der Apfelkuchen ist wirklich sehr schmackhaft. Auf meinem Teller liegt schon das zweite Stück.
Mutter zeigt mir Fotos aus dem Familienalbum. Auf jedem Foto bin ich zu sehen. Es fängt an mit Schwarzweißbildern von mir als Baby, auf dem Wickeltisch, im Kinderwagen, in der Babybadewanne. Dann folgt ein Foto von mir in der Gehschule, eines von mir mit einem Plüschhasen. Auf einem weiteren bin ich mit Lederhose und Hut mit einem Ziegenbock abgebildet. Ich erinnere mich, dass ich Angst vor ihm hatte. Der Ziegenbock stieß mich mit seinen Hörnern und wollte nicht von mir weggehen.
Das nächste Foto ist das erste Farbfoto, ab hier sind es ausschließlich Farbfotos. Es zeigt mich an einem Strand, ich habe eine blaue Badehose an und trage einen roten Plastikeimer, in dem viele Muscheln sind. Auf dem Foto daneben sitzt meine Mutter auf einem Metallstuhl. Sie hat blonde Haare, blaue Augen und eine etwas burschikose Figur. Auch ohne die dünne Bluse und den Minirock, die sie auf diesem Foto trägt, erkennt man, dass sie eine echte Schönheit ist. Ich stehe neben ihr und breite die Arme aus.
Auf dem dann folgenden Foto sieht man meinen Vater, er hat noch ganz schwarze Haare. Das war in Jugoslawien, sagt meine Mutter, wir sind auf einer Dienstreise mit Papa mitgefahren. Auf dieser Reise waren wir auch in Budapest, da aß ich in einem noblen Restaurant, von dem aus man die Kettenbrücke in der Nacht sah, sehr dünne Palatschinken mit Schokosauce. Weiters waren wir in Rumänien und Bulgarien, wo mir das Rila-Kloster mit seinem Zebramuster im Gedächtnis verblieben ist.
Später in Tschechien oder sonst wo, beim Ort bin ich mir nicht sicher, ging ich meiner Mutter fürchterlich auf die Nerven, weil ich einen roten Heliumballon haben wollte. Wir hielten uns in einem genau rechteckigen, lieblos angelegten Park auf, und nirgendwo war ein Ballonverkäufer. In Warschau kamen wir in der Nacht an, überall standen Soldaten, daran erinnere ich mich, es wirkte bedrohlich.
Auf einem der nächsten Farbfotos halte ich eine große Schultüte. Noch einmal Süßigkeiten, bevor der „Ernst des Lebens“ anfing, wie meine Eltern den Besuch der 1. Volksschulklasse nannten. Später zogen wir um, meine Eltern richteten die Wohnung ein, ein weiterer Umzug, dem wieder einer folgte. Städte, Dörfer, Großstadt, immer waren wir woanders, und ich war nirgendwo zu Haus.
Das letzte Foto zeigt mich mit Sakko und Kinderkrawatte inmitten von vielen Verwandten, es war meine Konfirmation. Ich war vierzehn und hatte Pickel im Gesicht. Nun ist das Familienalbum zu Ende.
Jetzt bemerke ich, dass im hinteren Teil des Raumes eine LED grün leuchtet. Auch aus meinem linken Auge leuchtet es grün. Beides tat es wahrscheinlich schon die ganze Zeit, aber vorhin fiel es mir wohl nicht auf, weil ich zu sehr mit den Fotos und meinen Erinnerungen beschäftigt war. Ich zoome die LED näher und sehe, dass sie an einem kleinen Metallkästchen befestigt ist. Zirka drei Zentimeter links von der grün leuchtenden LED befindet sich eine rote nicht leuchtende, mittig darunter ist ein Wippschalter, der auf Ein steht. Rechts an dem Metallkästchen ist ein Display, auf dem Kurven in Violett, Blau und Schwarz oszillieren, links davon ist ein Drehknopf befestigt.
Später werde ich erfahren, dass ich erst seit diesem Besuch bei meiner Mutter existiere, die nicht meine Mutter ist. Die Erinnerungen sind nicht meine, sondern stammen von Josef, dem Sohn der Frau, bei der ich zurzeit auf Besuch bin. Josef starb mit fünfzehn bei einem Autounfall. Seine Erinnerungen wurden mir induziert. Ich wurde nach seinem Bild gestaltet, in dem Alter, in dem Josef jetzt wäre, zweiundfünfzig. Mein Zweck ist es, den toten Sohn zu ersetzen. Unter meiner Haut aus Polyethylen bestehe ich aus einer leichten Aluminiumlegierung.
Ich bin nicht der, der ich dachte zu sein. Ich bin niemand, habe keinerlei Persönlichkeit, die über meinen Zweck hinausgeht. Ich bin nicht einmal ein Mensch.
Johannes Tosin
(Text und Bild)
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(Foto: Unterwegs im VW Jetta.jpg von Johannes Tosin)