SARS in der Aeroflot – oder: Die Welt ist eine Kugel

In den Tagen des Coronavirus habe ich mich selbst beobachtet:
Wie ich in den Öffis immer häufiger den Impuls spürte, mich von Asiaten wegzusetzen, oder, den Schal bis zu den Augen hochgezogen, auf der Straße einen Bogen um sie zu machen. Auf dem Nachhauseweg ertappte ich mich einmal dabei, dass ich in meinem Grätzl in drei China-Lokale hineinglotzte, um nachzusehen, wer denn in den Corona-Tagen noch dorthin ginge. Als würden sie dort, wo ich selbst seit Jahren hinzugehen pflege, plötzlich Wildtiere wie Schlangen, Ratten, Fledermäuse, Esel, Hunde oder Krokodile vom Markt in Wuhan beziehen. Zum chinesischen Neujahr nahm ich meinen Mut zusammen und überbrachte so wie jedes Jahr den immer freundlichen Kellnerinnen in meinem Stammlokal ein kleines Geschenk und Glückwünsche. Zum Jahr der Ratte.
Übrigens: Das erste China-Lokal an meiner Ecke hat schon zugesperrt. Ich bemerkte an mir selbst, wie einfach es geht, bestimmte Menschen unter Generalverdacht zu stellen und zu stigmatisieren. Es fiel mir auf, wie schnell man aus Angst und Unsicherheit dumm und rassistisch werden kann, was ja das Gleiche ist.

Aber in diesen Tagen der immer fortschreitenden Nachrichten stiegen allmählich Erinnerungen in mir auf, wie ich selbst einmal in den Verdacht geraten war, eine Virus-Trägerin zu sein, vor 17 Jahren. Nie mehr hatte ich daran gedacht, wahrscheinlich verdrängt. Jeden Tag versuchte ich die damaligen Geschehnisse einzufangen, was so schwer war, wie Schatten in der Dämmerung festzunageln.

Im August 2003 flog ich mit einer Aeroflot-Maschine von Los Angeles zurück nach Moskau. Ich hatte mit meiner Tochter einen wunderbaren Monat bei Freunden in Kalifornien verbracht, mit Ausflügen nach Arizona, New Mexico und Utah, nach San Diego, in den Grand Canyon und mehrere Nationalparks. Julia lebte damals in Wien, ich in Moskau. Sie flog mit unserer guten AUA mit zwei Zwischenstops in Atlanta und New York, ich mit Aeroflot Nonstop über den Nordpol, Abreise in L.A. um 18 Uhr, Ankunft in Moskau um 6 Uhr früh. Als berufsmäßige Vielfliegerin meinte ich, schon alle Tücken und Gefahren der Aeroflot-Flüge zu kennen – Aeroschrott, wie meine Tochter zu sagen pflegte. Aber diese zwölf Stunden brachten mich in eine bis dahin ungeahnte Hölle.

Wohl wissend, wie eng und unbequem die Aeroflot-Sitze sind, hatte ich einen Aufpreis dafür bezahlt, dass ich zwei für mich allein bekam, und zwar in der fußfreien Reihe, gleich hinter der 1. Klasse, beim Durchgang zur Toilette, aber ohne Nachbarn.
So vorbereitet, dachte ich, den 12-Stunden-Flug überstehen zu können.
Aber was ich nicht wissen konnte: In der Zwischenzeit war die Seuche SARS aufgekommen. Aus China. Weltweit in den Medien, deren Botschaft wir auf unseren Reisen nicht wahrgenommen hatten. In Las Vegas, im Death Valley und Yosemite haben wir nur nah-, nicht ferngesehen.

Ganz im Gegensatz dazu meine Nachbarn rund um mich in der Aeroflot. Alles Russen, hauptsächlich Russinnen. Sie schwatzten von nichts anderem als von ihren Einkäufen. Zuerst nahm ich sie nur als Zischeln und Rascheln wahr, ohne Bedeutung für mich. Sie waren damit beschäftigt, einander ihre Schnäppchen aus Los Angeles zu zeigen und tauschten sich darüber aus, wie sie sie auf den Märkten in Russland gewinnbringend losschlagen würden. Die einen hatten sich auf Klamotten und Kosmetika spezialisiert, andere auf Kleinelektronik und Genussmittel. Allmählich fand ich heraus, dass die zwei direkt hinter mir sitzenden Russinnen Ljuba und Galina hießen. Sie waren nicht einfache Touristinnen, sondern Händlerinnen, so wie sie sich nach dem Zerfall der Sowjetunion auf allen Auslandsflügen etabliert hatten. Ob Dubai, Charbin, Hongkong oder Wien, und jetzt eben Los Angeles. Nie gab ich zu erkennen, dass ich sie verstand, sondern Englisch war die Verkehrssprache.

Als wir uns von L.A. Richtung Nord-Osten entfernten, war der Abendhimmel atemberaubend schön, er leuchtete in allen Farben von Rot-Orange bis Rosa-Gelb und Lilaviolett, Wölkchen und Wolkenbänke, links in meinem Fenster, weit, so weit und so endlos, dass ich die Erdwölbung erkennen konnte. Ein Weltraum-Gefühl, große Dankbarkeit für diesen Anblick und die vergangenen Wochen. Vielleicht haben sich Weltraumfahrer so gefühlt, wenn sie die Erde von ober- und außerhalb gesehen haben. Ich war gerade dabei, mich in der Erdkugeldrehung mit der Sonne von Westen nach Osten, zu bewegen. Untergang und Aufgang zur gleichen Zeit. Restlos glücklich, ein tiefes Aufatmen im Folterstuhl der Aeroflot. Dabei wickelte ich mich in eine Decke ein – ein Kauf in einem Hopi-Dorf – und warf mit einem Schluck des gereichten russischen Tees eine halbe Schlaftablette ein, in der Hoffnung, so die zwölf Stunden bis Moskau mit Schlaf zu verkürzen. Mit dem letzten Blick aus dem Kabinenfenster sah ich ein glühendes Sonnen-Scherzel über dem Horizont stehen und stellte fest, dass es einen kühlen Luftzug gab, aber keine Heizung. Ich wollte mir noch nicht vorstellen, was die Lüftung da alles durch die Luft schleuderte.

Wann ich aufgeweckt wurde und wodurch, weiß ich nicht mehr. Ich spürte ein Kratzen im pelzigen Hals und im Kopf das typische Gefühl eines heraufziehenden Schnupfens. Schnell warf ich eine Aspirin-C-Brause in meine Wasserflasche und trank diese aus. Dann muss ich für eine Zeitlang wieder eingedämmert sein. Als ich wieder aufwachte, stellte ich fest, dass mein Schnupfen voll aufgeblüht war. Mein Atem ging schwer, ich nieste etwa alle zehn Sekunden in meinen Schal, gleich zwei- oder dreimal hintereinander. Mühsam kramte ich eine Schachtel Cleenex aus meiner Tasche und stopfte die Tücher in meinen Schal. Da nahm ich ein aufgeregtes Tuscheln in den Reihen hinter mir wahr und eine Unruhe im Mittelgang. Eine postsowjetische GULAG-Stewardess beugte sich zu mir herunter und schnauzte mich mit der landesüblichen Freundlichkeit an:
Alles in Ordnung mit Ihnen?
Yes, could I, please, have some more tschai?
Ich glaube, Sie brauchen was ganz anderes.
Was denn? Einen Genickschuss vielleicht? Danke, sehr einfühlsam.
Aber ich sagte kein Wort mehr.

Auf jeden Fall, direkt hinter mir, das waren die Stimmen von Ljuba und Galina. Sie tuschelten jetzt nicht mehr über ihre Einkäufe in L.A., sondern irgendetwas über SARS.
Und dass man etwas tun müsste. Nein, ich fühlte mich gar nicht wohl. Der Kopf schien aufgeblasen wie eine Melone, die Nase rann, ebenso die Augen, ein ständiges Rasseln entkam der Brust, alles an mir wurde von Schüttelfrost gebeutelt. Dabei wusste ich ganz genau, dass ich weder einen stinknormalen Schnupfen hatte noch das SARS-Virus, sondern von der immer wieder auftretenden Aircondition-Unverträglichkeit geplagt wurde. Aber das konnten Ljuba, Galina und die anderen nicht wissen. Sie redeten nun schon ganz offen und laut, dass man mich irgendwie beseitigen müsse. Ungeniert diskutierten sie die Möglichkeiten, auf Russisch, das ich verstand. Einerseits ein Vorteil, weil ich mich wappnen konnte, psychologisch gesehen aber recht unangenehm, wenn einem die Todesarten nur so um die Ohren fliegen.

Ich hütete mich, das irgendwie zu erkennen zu geben, und sprach meine wenigen Worte in breitestem Amerikanisch. Sie spekulierten über meine Herkunft, wahrscheinlich irgendeine Europäerin. In all den wunderbaren Tagen und Wochen zwischen San Diego, Hollywood, Yosemite National Park und Death Valley, Las Vegas und Grand Canyon hatte ich keinen einzigen Moment an die neue SARS-Seuche verschwendet. Vor meiner Abreise aus Moskau war das kein großes Thema gewesen, weit weg in China starben Menschen, normal, na und?
Aber nun, 10 000 Kilometer über dem Nordpol, wurde ich zum Fall, zu einem SARS-Fall, zu einer Gefahr.

Meine schnupfenverhangenen Gedanken in meinem Gehirn begannen zu rasen: Was, wenn ich als eine potentielle SARS-Infizierte in Moskau in die Quarantäne gesteckt würde? Vier Wochen dauert sie, irgendwo in diesem Riesenland, wenn schon das beste Spital in Moskau damals eine schwere Bedrohung bedeutete? Wen sollte ich anrufen? Ich hatte mit niemandem eine Abholung verabredet. Ich würde einfach für vier Wochen von der Bildfläche verschwinden, Diplomatenstatus hin oder her. Wer sollte mich suchen? Wer eine Gefahr für die Ausbreitung einer Epidemie darstellte, würde gnadenlos eliminiert werden.

Galina und Ljuba berieten sich mit anderen russischen Passagieren hinter und neben mir. Die beiden waren in Panik und verbreiteten Panik. Sie rotteten sich zusammen und drangen auf das Begleitpersonal ein, mich irgendwie zu entfernen. Sie hielten mich für eine Ausländerin, die in ihre geliebte Heimat eine tödliche Krankheit einschleppte. Sie waren sogar stolz, dass sie mich enttarnt hatten wie einen Spion. Ausländer waren in Russland historisch immer als irgendwie gefährlich angesehen worden. Als ob wir nicht alle im Himmel über der Arktis Ausländer wären. In meinen schleimverklebten Ohren hörte ich nun immer bedrohlicher das Zischeln von SARS-SARS-SARS- Severe Acute Respiratory Syndrom.

Ich muss nicht extra erwähnen, dass es an Bord keine Gesichtsmasken gab, weder für mich, die Verdächtige, noch für die Mitreisenden.
Alle wollten sich von mir wegsetzen, forderten einen cordon sanitaire. Aber das Flugzeug war rappelvoll bis zum letzten Platz, dazu noch irrsinnig viel Bordgepäck. Sie beschworen die Stewardess, mich irgendwie zu isolieren. Auf Russisch heißt Isolacija – Einzelzelle – in Gefängnissen und GULAGs die schwersten Bedingungen und oft ein Todesurteil. Eliminacija, Isolacija, Likwidacija – das waren die Steigerungsstufen. Was würde mit mir passieren? Werde ich jetzt in das Bord-WC eingesperrt? Aus dem Notausgang gekippt? Oder in den Frachtraum zum Gepäck? Erschlagen? Erdrosselt? Erstickt?

Eine männliche Stimme schlug vor, über mir ein Zelt aus Notplanen zu errichten. Klang geradezu menschlich. Zu Zeiten der Schreckensherrschaft des NKWD stieß man die Opfer oft aus dem fahrenden Zug. Meist in der Mitte der Strecke zwischen Moskau und Leningrad, wenn der „Rote Pfeil“ bei Kalinin langsamer fuhr. Wie mich retten? Keine Version verhieß Gutes für mich. Alle Menschen sind in Panik zu allem fähig, besonders die Russen mit ihrer kollektiven Gewaltgeschichte. Ich zermarterte mir den Kopf auf der Suche nach einem Ausweg. Einer in die Ecke getriebenen Maus muss es ungefähr so gegangen sein wie mir jetzt.

Wenn schon Geschichte, dann wollte ich sie bemühen. Sollte ich verrücktspielen? Der Narr in Christo ist eine allen Russen bekannte Figur. Ich, die Gottesnärrin. Der Gottesnarr in Boris Godunow rettet sein Leben durch eine gute Prophezeiung, wenn man ihn schonte. Aber das konnte auch nach hinten losgehen, denn ich müsste meine Identität preisgeben. Oder würde es vielleicht helfen, die reuige Sünderin, die Verbrecherin geben, die in der russischen Literatur oft zu Mitleid und zur Barmherzigkeit anregt? Aber würden sie mich dann nicht noch eher in eine Zwangsjacke stecken oder mich mit den Kissen ersticken? Russische Witze erzählen, Lieder singen, Pushkin-Gedichte rezitieren, Putin loben, um zu zeigen, dass ich eh eine von ihnen bin? Aus Erfahrung wusste ich, dass es zum russischen Nationalcharakter gehört, deutlich zwischen den „Naschi“, den Unseren, und den Anderen zu unterscheiden.

Alle Optionen bargen ein Risiko, weil bei Menschen in Panik oft das Schlechteste ans Tageslicht kommt. Im besten Fall, sollte ich den Flug überleben, würde ich am Flughafen Sheremetjewo II den Behörden übergeben und für vier Wochen in den Niederungen des postsowjetischen Gesundheitssystems verschwinden. Schreck lähmte mich, als mir einfiel, dass in Russland die Quarantäne-Stationen in psychiatrischen Kliniken untergebracht sind. Viele Bilder rasten gleichzeitig durch meinen Kopf, und alle waren gleich bedrohlich.

Da machte ich zum ersten Mal die erstaunliche Feststellung, dass einem vor lauter Angst auch heiß werden kann – es gibt nicht nur den kalten Schauer! Die Höllenglut der Wut befeuerte mich jetzt, machte mir Mut und ließ mich zur Gegenwehr übergehen. Ich wickelte mich noch fester in meinen Hopi-Teppich, zurrte den Seidenschal eng um Kopf und Hals, stopfte Cleenex-Tücher in meine Nasenlöcher – und hörte auf zu atmen. Unter dem Tuch sperrte ich den Mund weit auf, versuchte kein Geräusch und keine Bewegung zu machen, mit einem Wort – ich stellte mich tot. Wahrscheinlich schlief ich doch eine Weile, und als ich aufwachte und links von mir aus dem Fenster sah, stellte ich fest, dass wir uns schon über russischem Territorium befanden, vielleicht auch erst am Zusammentreffen von Norwegen, Schweden und Finnland. Die Sonne stand noch immer genauso halbhoch wie beim Abflug in L.A., war aber heller, wir flogen ja nach Osten. 10 000 Kilometer unter mir eine Schnee- und Eislandschaft, einige dunkle Flecken an den Abhängen, helle Flecken, wahrscheinlich das offene Meer, es war ja noch Sommer, Anfang August über dem Nordpol.

Einmal dachte ich, den Schatten unseres Flugzeugs über einen Schneeberg gleiten zu sehen, wahrscheinlich eine Täuschung oder ein Fiebertraum. Das muss die fast kreisrunde Bucht der Barentsee sein, Murmanks, Archangelsk, dann die Halbinsel Komi. Schlafen, träumen, Flug, Aufwachen, und im Blick nach unten – Nowaja Zemlja, das Franz-Josef-Land, von Payer und Weyprecht entdeckt und vermessen, einmal eine kuriose Außenstation Österreichs, eine doppelte Inselformation, ähnlich der von Neuseeland. Helden meiner Jugendbücher. Unter der Morgensonne eine nie gesehene Schönheit, die ich in diesen Stunden leider zu wenig genießen konnte. Grad nur kurz im Gedächtnis aufgezeichnet – hierher muss ich noch einmal zurückkehren. Aber jetzt, bitte, nur noch steil nach Süden, nach Moskau, flehte ich die Piloten der Aeroflot im Geiste an.

All die Galinas und Ljubas hinter mir schnarchten friedlich vor sich hin. Ich war gerettet. Die Taktik des Totstellens ist ja auch im Tierreich oft erfolgreich. Die Passagiere waren mit der bevorstehenden Ankunft beschäftigt und kümmerten sich nicht weiter um mich, und auch am Flughafen Sheremejewo II hielt mich keine Sanitarnaja Komissia fest. Keine vierwöchige GULAG-Quarantäne, und im Weiteren blieb ich pumperlgsund, bis heute, nur die Aircondition-Unverträglichkeit ist mir geblieben.

Ich nahm mir vor, diese Reise über den Nordpol irgendwann noch einmal zu unternehmen, sicherheitshalber nicht mehr mit Aeroflot, denn ich bin überzeugt, dass ich auf diesem Flug über den Nordpol viel versäumt habe. Und doch meine ich, dass ich zuerst zu den Hopis reisen und ihnen danken sollte, denn es war wahrscheinlich ihre Decke, die mich gerettet hat.

Wien, 17.2.20

Veronika Seyr
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