Brief an N.
Wien, 30. April 2020
Lieber Herr N.,
hier wie gewünscht mein kurzes und möglichst objektives Ereignisprotokoll zum 19. April, von dem ich hoffe, dass es wirklich, wie Sie sagen, zu meiner Entlastung beitragen kann. Es zieht mich nämlich sehr zu meiner Arbeit zurück, und von hier aus kann ich die wenigen verbliebenen Schritte zu deren Vollendung leider nicht leisten.
Wie ich schon bei unseren regelmäßig stattfindenden Gesprächen erwähnte, beschäftige ich mich zur Zeit mit dem Verfassen einer kleinen, aber, wie ich hoffe, nützlichen Arbeit zum Verhältnis Auftraggeber und Maler in der Frührenaissance Italiens unter dem Aspekt der Entwicklung der Zentralperspektive.
Die im Zuge der Seuche verfügten Maßnahmen wirkten auf diese meine Arbeit schon wegen der damit einhergehenden Entschleunigung und also Erwerbs-Entlastung sehr förderlich, und da ich ohnehin sehr sparsam lebe, traf mich der Entgang meiner Einnahmen als staatlich geprüfter Fremdenführer zum Thema „Die Pest in Wien“ nicht sonderlich hart. Gerade durch diese meine gut besuchte Spezialführung verfüge ich über epidemiologische Kenntnisse, die mich dazu befähigen, die verfügten Ausgangsbeschränkungen im Zuge der größtmöglichen Kontakt-Vermeidung vollkommen zu begreifen, ja, nach Kräften zu unterstützen.
Meine historischen Kenntnisse konnte ich überdies dazu nutzen, meine Ausgaben noch weiter einzuschränken, indem ich mir, wie das von unserer Regierung ausdrücklich erlaubt wurde, meinen Mund-Nasen-Schutz selbst anfertigte: Wie allen historisch interessierten Menschen bekannt, trug der Pestarzt des späten 14. Jahrhunderts (und nicht schon seit Ausbruch der Pest 1347, wie überall fälschlich behauptet wird!) eine an einen großen Vogel gemahnende Schnabelmaske, in deren Spitze wohlriechende Kräuter verbrannt wurden, somit den damals selbstverständlich noch unbekannten Bazillus (yersinia pestis) zu bannen (bzw. fernzuhalten). Es gibt nur Bazillen, Viren sind eine Unmöglichkeit. Daher machte ich mir dieses Wissen zu Nutze, mir meine Ihnen bekannte Schnabelmaske aus Stoff und Epoxidharz selbst herzustellen.
Ich habe, denke ich, während eines unserer übrigens recht aufschlussreichen Gespräche in Ihrem Büro deutlich dargelegt, dass es mir momentan leider nicht möglich ist, diese Maske abzulegen, aber auch zugegeben, dass ich es ehrlich bedaure, zu ihrer Herstellung den Stoff meiner orangenen und nicht der gelben Jacke verwendet zu haben, was sowohl der allgemeinen Glaubwürdigkeit als auch der Assoziation „Amsel“ mehr Raum gegeben hätte. Falls also irgendwer annehmen sollte, ich habe mich auf die Satire verlegt und wolle mit meiner Maske die Autorität unserer Regierung untergraben, so irrt er! Wie jedem historisch interessierten Menschen natürlich sofort aufgeht, handelt es sich hier um einen Verweis auf die Pest im Mittelalter und damit auf das ruchlose Treiben der Kirche. Sie ist Hinweis und Mahnung bezüglich des Ernstes unserer derzeitigen Lage! Auch will ich damit meine bisher gut besuchte Spezialführung im Hinblick auf zukünftige Lockerungen der Maßnahmen im öffentlichen Gedächtnis erhalten. Den eher esoterischen Grund kennen Sie so gut wie ich, ich habe Sie längst als einen der unseren erkannt und auch, dass Sie das sehr wohl wissen! Ich verstehe, dass Sie diesen Grund nicht berühren wollen, überall sind unberufene Lauscher, deshalb führe ich ihn hier auch nicht an.
Dies alles sei einleitend und auch als Hilfestellung erwähnt, meine Person zutreffend zu beurteilen.
Was geschah also am 19. April? Wie damals schon mehrmals musste ich einkaufen gehen (ich brauche nicht zu erwähnen, dass dies immer behördlich genehmigt war) und begab mich dazu gegen Mittag in den Innenhof meiner Wohnanlage. Als ich aber das Leergut in dem Korb meines Fahrrads unterbrachte, sprach mich mein Nachbar an, der sich gerade mit seiner Gattin auf einer Bank sonnte, ob ich ihm nicht wieder eine kleine Gefälligkeit erweisen könnte. Diesmal handelte es sich nebst dem Einkauf großer Mengen an Schaumwein auch um Überweisungen. Ich hatte nun schon mehrmals diesem grundguten Herrn, einem Herrn Regierungsrat und Postbediensteten in Pension, ebenso wie seiner sehr kultivierten Gattin den einen oder anderen Gefallen getan, doch beschränkte sich das bis zu jenem Tag immer auf Einkäufe von Lebensmitteln. Es fing an mit speziellen Äpfeln, dann Hühnchenfilet, dem eben erwähnten Schaumwein etc., schließlich aber auch Kirschen, die um diese Jahreszeit einfach nicht zu bekommen sind.
Ich habe gelesen, Menschen ab einem gewissen Alter seien besonders gefährdet, auch sonst sind wir zu gegenseitiger Hilfe aufgerufen, was mir sehr bewusst ist. Es handelte sich um folgende Beträge: 100 und nicht 10.000 Euro, wie nun fälschlich behauptet, an die Klosterschule Heiligenkreuz; und ebenfalls nicht 10.000 Euro, sondern bloß 100 Euro an das Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen in Mayerling. Mein Nachbar versicherte mir, dass diese Überweisungen sehr leicht zu bewerkstelligen seien, da er, als ehemaliger Postbeamter und nunmehriger Geheimer Regierungsrat, bei der Bank bekannt sei. Trotzdem hatte ich Bedenken: Ich stand, wie sie wissen, der Kirche immer schon äußerst kritisch gegenüber. Damals war ich Atheist und es kam eine Hilfeleistung zur Spende an diese historisch schuldhafte Institution für mich nicht in Frage. Und heute schon gar nicht. Da dies aber keine normalen Zeiten sind, standen bei meiner Entscheidung der Zusammenhalt und insbesondere der Wille zur Nachbarschaftshilfe im Vordergrund und somit über allen solchen ansonsten mehr als berechtigten historisch-politischen Einwänden. Heute würde ich gerade aus religiösen Gründen anders entscheiden.
Vorerst galt es mir also, folgendes Problem zu lösen: Sollte ich zuerst einkaufen gehen und dann die Bankgeschäfte meines Nachbarn erledigen oder umgekehrt? Ich entschied mich für die Einkäufe zuerst, was sich im Nachhinein betrachtet als meine Rettung erwies. Sehen Sie die Weisheit der höheren Fügung?
Genauso wie beim Einkaufen setzte ich mir also beim Betreten der Bank, meine selbstgenähte Schnabel-Schutz-Maske, vielmehr eigentlich Schutz-Schnabelmaske auf, entzündete das milde glimmende Räucherstäbchen in deren Spitze, schützte meine Augen mit meiner Ihnen bekannten Sonnenbrille (Tröpfcheninfektion!) und stellte mich vollkommen korrekt in der Reihe an. Ich stand so eine halbe Stunde. Die Einkäufe in meinem Rucksack lasteten schwer auf meiner Schulter und so nahm ich denn ein Fläschchen aus meinen Einkäufen für die Nachbarn zur Brust, wobei mir der Korken trotz aller Bemühungen leider etwas lautstark aus der Flasche fuhr. Die Dame vor mir, die unzweifelhaft dem ältesten Gewerbe angehörte (ich erkenne das am Äußeren), erschrak. Sie war im Zuge der Quarantäne-Maßnahmen natürlich ihrer Einkünfte verlustig gegangen und hielt den Betrieb durch lautstarkes und ungemein zähes Begehren in unstatthafter Weise auf.
Ich habe volles Verständnis dafür, wenn kleinere Existenzen wie Prostituierte, Krämer und Handwerker um ihr Einkommen ringen, aber die Art und Weise, mit der sie ihre Interessen allen anderen Stadtbürgern voranstellen, ist doch das genaue Gegenteil dessen, um was es jetzt geht: Zusammenhalt und Hintanstellung aller blind-egoistischen Triebe, nur so können wir alle gemeinsam diese Prüfung Österreichs und auch der Welt erfolgreich bestehen! Von all den anderen zweifelhaften Existenzen, die sich teilweise große, oder sogar enorme Summen auszahlen ließen (ich zählte Tausender-Beträge!), will ich im Sinne der von Ihnen erbetenen Objektivität wie auch der Kürze gar nicht reden. Besonders verdächtig erschien mir dabei, dass sie alle der Aufforderung der mittleren Schalterbeamtin, dies doch alles online zu erledigen, der Seuchengefahr wegen, unter fadenscheinigen Vorwänden nicht Folge leisten wollten.
Schließlich war ich an der Reihe. Vor mir, hinter der Schalterbrüstung, standen drei Postbeamtinnen in Schwarz. Ich hatte aber genug Gelegenheit gehabt, nicht nur mein Räucherstäbchen (Gesundheit vor Brandschutz!) neu anzuzünden, sondern auch ihr Verhalten zu studieren und wusste, ich hatte mich an die Mittlere zu halten. Die linke war nämlich ganz offensichtlich die Vorgesetzte, denn sie trug einen in Silbergeschmeide eingefassten Opalstein um den Hals und sie tat nichts, außer hie und da etwas zu tippen und war auch sonst souverän. Die Rechte lächelte bloß und war demnach Praktikantin oder Einzuschulende oder auch, wie es früher hieß, Lehrling.
Ich wandte mich also mit meinem Zahlungsauftrag an die Mittlere: Meine Hoffnung, durch meine wohlriechende Vogelmaske auf ein historisch-verschmitztes Verständnis ihrerseits zu stoßen, ward aber sofort zunichte. Sie sah mich vielmehr abwehrend, ja direkt aufgebracht an. Doch ganz gewiss erkannte auch sie, dass es sich bei der gewünschten Überweisung nicht um 10.000er-, sondern bloß um 100er-Beträge handelte. Ich bitte also im Namen nun wiederum der Objektivität diese mittlere Frau Beamtin diesbezüglich zu befragen! Sie drang auch bei mir sofort zur kontaktlosen Online-Überweisung, was ich aber unter ehrlichem Bedauern ablehnen musste. Im Gegensatz zu meinem Nachbarn, erklärte ich, stünde ich der Kirche feindlich gegenüber, wäre aber zu einer solchen Online-Überweisung nicht nur im Stande, sondern auch willig, doch wie sollte ich es meinem Nachbarn gegenüber erklären, dass die Klosterschule Heiligenkreuz und das Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen zu Mayerling den Spendenbetrag von mir erhielte und nicht von ihm? Ist das nicht logisch und somit unmöglich? Ich erwähnte auch Namen und Titel dieses meines Nachbarn, trotzdem war die mittlere Schalterbeamtin allen meinen Argumenten unzugänglich, oder war ich mittlerweile durch die wochenlange Entwöhnung von der menschlichen Alltags- und Geschäftskommunikation außer Übung geraten, meine Anliegen deutlich zu erklären?
Sie sehen anhand dieser meiner Überlegung, ich bin durchaus bewandert in der Kunst der Selbstreflexion. Der Mittleren war nur zu entlocken, ich bedürfe der einschlägigen Karten und Dokumente meines Nachbarn und etwan einer Vollmacht, oder aber, was sie dringend rate: online! „Aber wie?“, rief ich. „Zu überweisen sollte doch ein Leichtes sein, nur zu beheben aber schwer? Oder sollte der schurkische Geldhändler Giovanni de’ Medici auch dies Gesetz ins Gegenteil verkehrt haben?“ Ich hielt jedoch gleich wieder an mich, denn vielleicht war es ja der Rauch meines wohlriechenden Stäbchens in der Schnabelspitze, der unser Gespräch der nötigen Klarheit beraubte, auch spürte ich in der Hitze den Schaumwein schon ein wenig. Die Praktikantin lächelte. Die Opalfrau tippte abwesend, dann rief sie, gar streng, ihrer kleinjährige Tochter: „Die Stiagn …“, seltsamerweise befindet sich eine Wendeltreppe in diesem Bankfoyer, eine merkwürdige Treppe, will meinen, sie endet in der Decke des Raumes, „… is ka Spühplotz!“ Ich starrte an die Decke, wo die Treppe wirklich endet! Die Tochter der Opalfrau rief mir entzückt zu: „Vogerl!“ und machte entsprechende Flugbewegungen mit ihren Armen, derweil sie die Stiege auf und ab lief. Ein rührendes Bild! Ihr vermutlicher Vater, den ich erst jetzt im Foyer bemerkte, beschäftigte sich derweil mit einem dieser bunt leuchtenden Handspielzeuge und wiegte sich dabei auf einem durchaus geschmackvollen Drehstuhl in den Hüften.
Online war sinnwidrig, Vollmacht unmöglich. Das hieße ja, das zarte Vertrauensverhältnis zu meinem Nachbarn so weit aufzubauen, bis er mir seine Kontozugangsdaten anvertraute. Das würde Monate des Umtrunks benötigen! Und auch wenn ich zu jener Zeit etwas mehr den geistigen Getränken zusprach als sonst, um mein seelisches Gleichgewicht zu erhalten, dieser Herausforderung wollte ich mich schon in Anbetracht meiner gefährdeten Gesundheit inmitten der Seuche nicht stellen. Kurz, ich erklärte mich dahingehend den drei Schalterbeamtinnen, doch wurde ich daraufhin recht harsch zum Ausgang verwiesen. Unter Hohn und Spott der anderen Wartenden verließ ich die Filiale der Bank.
Davor erwartete mich mein treues Fahrrad. Oh, Treue des Fahrrads! Geschlagen magst du sein, doch niemals besiegt, hast du ein Fahrrad, das zu dir hält auch in ärgsten Nöten! So fuhr ich denn etwas getröstet die wartende Reihe entlang, die sich mittlerweile weit in die Thaliastraße erstreckte, ein einseitiges Spalier, das ich, mein Fahrrad samt den Einkäufen scharf antreibend entlangdirigierte, nur wenig behindert durch Brille und Schnabel. Gleichzeitig versuchte ich dabei meine Gedanken zu fassen, um meinem Nachbarn gegenüber klare Mitteilung geben zu können über den Misserfolg unseres gemeinsamen Unterfangens. Die Gründe allerdings! Ich tastete mehr nach ihnen, statt sie zu fassen! Mehr noch hing ich aber den hintergründigen Strukturen jeder Gesellschaft nach, die das Scheitern des Einzelnen verursachen: Wäre es nicht möglich, dass die Bank mittlerweile und unvermerkt unter Einfluss sinistrer Mächte wie z. B. Giovanni de’ Medicis eine antivatikanische Haltung angenommen hätte? So erfreulich dies wäre, bedeutete es nicht eine sträfliche Missachtung der Seelennöte meines grundgütigen Nachbarn? Und wären diese Seelennöte denn nichtig? Nein, ich konnte, ich durfte nicht aufgeben! Und sei es im Widerspruch zu meiner Kirchenkritik!
Als ich wieder im Hof unserer Wohnanlage eintraf, waren aber weder mein Nachbar noch seine treffliche Gattin anwesend. Ich musste also unter Zurücklassung meiner Einkäufe, das Stiegenhaus bis ganz nach oben (5. Stock, Tür 59) erklimmen, um Nachricht zu erstatten. Beim Läuten an der Tür roch ich den unwiderstehlichen Duft einer kenntnisreich zubereiteten Schweinshaxe. Er, mein Nachbar, öffnete daraufhin, erkannte mich der Maske wegen erst nicht, ich gab mich zu erkennen und gab Rapport. Er äußerte sein empörtes Unverständnis: Er sei nun schließlich lange genug bei der Post gewesen und dort auch allgemein bekannt, wenn ich doch nur nach Sandleiten, auf die dortige Poststelle, gefahren wäre, anstatt bloß in die Thaliastraße, seine Kollegen hätten schon Bescheid gewusst. Nebst der Schweinshaxe und einem Fläschchen Wachauer teilte ich seine Empörung, hatte jedoch keine Lust, auf die Sandleiten zu fahren.
Schnelles Agieren sei nun angebracht, warf ich beim Schnaps ein, ungeachtet der Wartezeit und der fortgeschrittenen Stunde, würde ich mich nochmals in die Schlacht werfen, zum Wohle nicht der Kirche, jedoch der humanistischen Werte! Vorausgesetzt er statte mich mit Schutz und Schirm seiner Ausweise aus, die da wären: Bankomatkarte und Reisepass, dann wäre mir Gewissheit des Gelingens! Unwillig erst, doch dann entschlossen, händigte er mir das Verlangte aus. Die Leute wissen oft nicht von der Tragweite der Situation: Sie streiten mit, doch wissen sie nicht der Sache. Unterwegs, das Stiegenhaus hinunter, stattete ich mich in meiner Wohnung mit angemessener Kleidung aus und stellte vor meinem Badezimmerspiegel mit großer Befriedigung fest, dass das gewählte Schwarz der Vogelmaske mehr Amselähnlichkeit verlieh. Dann steckte ich mir die Reclam-Ausgabe der Duineser Elegien des großen Rainer Maria Rilke in die hintere Hosentasche.
Solchermaßen ausgestattet und unter der Zeitnot geschuldeten Mitnahme meiner Einkäufe, radelte ich wieder zur Warteschlange: Ich entzündete ein neues Räucherstäbchen in meiner Schutz-Schnabelmaske und stärkte mich mit einer der Schaumweinflaschen plus den Duineser Elegien, trotzdem diese durch die mittlerweile zerschlagenen Eier leider ganz aufgeweicht waren. Denn in allen Wartezeiten der Ämter und sonstigen Institutionen, sprich, in den Leerzeiten des Lebens empfiehlt es sich, lieber Herr N., die Duineser Elegien Rilkes in- und auswendig zu lernen: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: Ich verginge von seinem stärkeren Dasein.“ – Sagt das nicht alles?
Gestärkt durch diese unsterblichen Verse und mittlerweile zweier Flaschen Schlumberger konnte ich den Stunden glühender Aprilhitze trotzen, bald auch Rilke lautstark und auswendig rezitieren, trotz leichter Benommenheit und Atemnot, verursacht durch meine Schutz-Schnabelmaske, bis zu dem wunderschönen Ruf : „Warst du nicht immer noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles eine Geliebte dir an?“
Da gelangte ich unverhofft zum Schalter, und ward mir ein kalter Guss Nüchternheit und alles wie vorher: Meine Kräuter verdampften, und ich solle doch, um es willen, online überweisen, empfahl mit eiserner Strenge die Mittlere, während die Rechte geheimnisvoll lächelte, ich bemerkte aber ein nach unten verdrehtes Silberkreuz in ihrem Ohrläppchen. Ein Zeichen? Höhnisches Spiel des Zufalls? Während die Linke frostig tippte, ermannte ich mich und gab meine Zweifel kund am Vorhandensein Gottes und an der IBAN meines Nachbarn: Doch dies wurde beides mit großer Herablassung abgetan, als sei es nichts wert. Und es war anlässlich eines kaum wahrnehmbaren, herablassenden Lächelns der Linken, als es mich mächtig durchstieß: Dies, diese Schalterbeamtinnen, die ganze Bank und alles, was an sonstigen Konsortien und hinterhältigen Konglomeraten, Oligo- und Monopolen der Medici dahinterstehen möge, dies alles: Satanisten!
Bedenken Sie das genau, lieber Herr N., das erklärt nämlich alles! Wie habe ich es denn auch übersehen können, bei all der frechen Augenfälligkeit? Nein, du Teufelsanbeterin, dein nicht zufällig gedrehtes Silberkreuz soll mich nicht täuschen! Allein schon das Logo der Bank: Zwei mächtige Hörner! Aufragend in rohem Stolze! Für den Wissenden freilich nur erkennbar, doch immer nur für den Wissenden gemeint und gezeichnet?
Ich wagte nicht, diese meine plötzliche Erkenntnis vor den Dreien zu zeigen, dieser gefährlichen Hexen im Dienste Satans, hielt mich stattdessen schlau-still und befleißigte mich der List vorgeblicher Ahnungslosigkeit, wie sie jedem, solcher allerschrecklichsten Macht gegenüber, geraten sei: Ob ich denn doch bitten dürfe, mir ein solches Vollmacht-Formular auszuhändigen?, fragte ich bescheiden. Und siehe: Die Opalgeschmückte, die Oberhexe würdigte mich ihres Blickes. „So möge es denn sein!“ Und fiel durch leises Nicken wortlos unter den Dreien die Entscheidung zur Vollmacht. Siehe: Es wirkt auch in der dunkelsten Grube das Licht der Hoffnung, ob nicht doch Gottes?, dachte ich. Könne ich denn beim nächsten Mal die Schlange überspringen?, war noch meine dreiste Frage. Dies nicht, wurde mir beschieden.
Aber, lieber Herr N., war ich nicht dennoch emporgetragen, durch diese Entscheidung, durch das ausgehändigte Formular zur Vollmacht? Und: War dies das Wirken eines tatsächlichen Gottes oder nicht doch der gerechte Lohn des selbstlos im Zeichen des Humanismus für den Glauben seines Nachbarn Streitenden? Ist es nicht Pflicht, mit oder ohne Gott, ungeachtet der zahllosen Verbrechen der Kirche, den trostbedürftigen Seelen die Lanze der Brüderlichkeit zu leihen? Und war’s demnach nicht Recht, dem aus schierer Seelennot geborenen Wunsche meines Nachbarn Folge zu leisten, seine vom Munde abgesparten Überweisungen zu tätigen an Heiligenkreuz und Mayerling, ihm inneren Frieden zu wahren? Wenn ich so tue, handle ich dann nicht im Auftrag eines wahren Gottes, einer unbegreiflichen Macht, die über allem steht, ungeachtet, nein: unberührt von der Verderbtheit der Kirche und der Medici?
So dachte ich damals. Ich war schon so nah an der Wahrheit und lag doch so fehl! Ich wusste aber: Er, mein Nachbar, wird unterschreiben, ich werde es erlangen, das Formular der Vollmacht! Ich war mir dessen vollkommen gewiss! Und diesmal schwang ich mich auf mein Rad empor, und schwebte die geneigten Köpfe der wartenden Reihe entlang. Was bedurfte ich noch des Nachdenkens? Eine Vollmacht! Es muss sein! Abermals die Stiegen hinauf, doch getrieben von der Wut der Erkenntnis hielt mich nichts, und auch mein Nachbar, vor dem ich schließlich atemlos stand und durch die Maske „Vollmacht!“ rief, das errungene Formular hoch in der Rechten, mein Nachbar also, brüllte: „De Büchan soin mi no kennanlernan!“ Und: „Des hot a Nochspüh!“ – und unterschrieb eigenhändig vor meinen Augen! Welch Wahrzeichen der ungebrochenen Wiener Beamten-Würde!
Mit Vollmacht und Rilke, den schon viel leichter gewordenen Schnappsack auf den Schultern (wozu noch Fahrradkörbchen?) abermals zur Bank, zur dumpf harrenden Schlange. In dieser: Was des Geizes? Meine Getränke auszuteilen ich nicht anstand, muss doch in der Not Österreich und der Mensch zusammenhalten! Ich ließ die Korken knallen! Immer noch und immer: Wenn alles bricht, scheitert und stockt, liegt’s am aufrechten Herzen! Wieder und weiter rezitierte ich laut Rilke vor dem dankbar sich labenden Publikum der wartend gebeugten Seelen: „Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig unbegreiflich wandelt – umspringt in jenes leere Zuviel“, stand ich auch schon vor der Mittleren, bat ihr meinen Gruß dar, fiel auf die Knie und reichte in ehrlicher Erschöpfung, gesenkten Schnabels und erhobener Hand der stolzen Ketzerin die ausgefüllte Vollmacht dar: endgültige Befugnis zur Überweisung an Heiligenkreuz und Mayerling!
Oh Freund, weißt du, ob der Glocke des Schicksals? Ihr Dröhnen entscheidet alles und die Erwartung ist Ewigkeit! Stilles Schweigen harrte über mir, schier unerträglich! Meine Schnabel-Schutzmaske verrutschte, meine letzten Einkäufe rollten aus der Tasche, doch geistesgegenwärtig ergriff und öffnete ich eine der Flaschen, ließ seelenruhig die übrigen ins darbende Volk rollen, und rückte die Maske erst anschließend zurecht. Nicht unvorbereitet also traf mich der Donnerschlag: „Der IBAN is foisch! Da konn ih nix mochn!“, so die Mittlere. „Der IBAN, welcher IBAN?“ rief ich, außer mir. „Beidäääh!“, lautete aus einem Munde das hämische Urteil der drei.
Verzweifelt blickte ich zur stummen Heerschar hinter mir: Hatte ich sie nicht gestärkt und genährt mit dem Nektar der Traube, mir treu zur Seit’ zu stehen in diesem Schicksalsspruch? Doch ach, ein kurzes Murren nur, schon senkten sie fügsam die Häupter vor der Unerbittlichen, der Opal-Eisigen, die sich nun aus ihrem Drehsessel erhob, drohenden Blickes. Diesen ihren Blick, ach, diesen Blick, niemals werd ich ihn vergessen! Erkenntnis erfasste mich: ein Zucken und Reißen des Körpers, eisig und klar, ein kaltes Feuer. Sie, lieber Herr N., werden es kennen. Die bezaubernde Tochter der Opalkönigin tollte derweil lautstark die Wendeltreppe auf und nieder. Ihr Zeuger und Vater indes ließ von seinem Handspiele ab und segnete mich als neuen Jünger. Die Amtszeit neigte sich dem Ende.
Niemand soll jedoch behaupten, dass eine Wendeltreppe ins Nichts kein geeigneter Spielplatz sei!
Ich befinde mich nun, wo ich bin, recht wohl, wiewohl ich meine Spezialführung zur „Pest in Wien“ stark vermisse. Immerhin: Meine Amsel-Maske wird respektiert, auch wenn sie leider orange und nicht gelb ist, was die Amselhaftigkeit mindert. Und ich habe, dank Ihres Fürspruchs, lieber Herr N., Zugang zur Bibliothek, deren Bestückung aber den Bereich der Frührenaissance nicht abdeckt. Weswegen ich auch auf meinem baldigen Urlaub bestehen muss – Sie wissen, die aktuelle Arbeit zur Entwicklung der Zentralperspektive!
Der leidigen Streiterei, samt der Penetranz der mit Sicherheit vom Vatikan bestochenen Winkeladvokaten, ob ich nun angeblich 20.000 oder bloß 200 Euro meines sehr geschätzten Herrn Nachbarn an die Banco Medici überwiesen habe, bin ich dank der Macht des großen Luzifers enthoben, was mich sehr beruhigt. Der große Luzifer wird auch den Kirchen-Bazillus besiegen, der nicht zufällig „Corona“ (=Mitra!) genannt wurde, doch das brauche ich Ihnen nicht zu sagen.
Haben Sie schon bemerkt, wie schön heuer die Kastanien blühen? Ich genieße hier der Aussicht auf die Stadt vom Dach meines an die wunderschönen Steinhofgründe geschmiegten Pavillons! Und wie gut die Luft jetzt ist! Zweifellos infolge des gemäßigten Flugverkehrs! Nicht jedoch ist, gar nicht gemäßigt ist der Flugverkehr der Vögel, mit denen ich mich hier schon recht gut angefreundet habe, auch wenn heuer nur sehr wenige Amseln sind.
Hochachtungsvoll
X.
Bernd Remsing
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