In der Stille wächst das Vertrauen

I.

Sag, wann warst du dir das letzte Mal so nahe: Vor vier Jahren saß ich, Tobias Bonifatius Kotschitsch, Protagonist dieser Erzählung, hier in B. in einer dieser billigen Absteigen, von denen es schon allein in dieser Stadt viel zu viele gibt. Die Vorgeschichte: Flug verpasst, stattdessen eine halsbrecherische Fahrt mit einer versifften Karre von Taxi und dem Fahrer in seinem penetranten Ronaldo-Trikot. Abgelenkt von seinem ständigen Gelaber und dem seichten Plastikpop-Gedudel aus dem Radio wäre er fast in einen SUV gekracht. Bei mir hat andauernd das Handy geklingelt. Fast zu spät gekommen. Gepäck vergessen, kein Wechselgeld parat. Das Mittagessen in einem schäbigen Vorstadtrestaurant, völlig versalzen, fett und überteuert – eine Frechheit in diesem Land. Dazu das ewig gleiche arrogante Getue meiner Kollegen hier vor Ort. Und die Bullenhitze. Mir ist der Schweiß in Strömen heruntergelaufen. Na ja, da kannst du halt nichts machen.

Eigentlich ging mir diese ganze Reise schon jetzt gehörig auf den Zeiger, und ich sah schon viel zu lange keinen Sinn mehr darin, mich von meinen ausländischen Verhandlungspartnern regelmäßig übers Ohr hauen zu lassen. Eine Dienstreise ist nun mal kein Kindergeburtstag.

Aber jetzt zurück zur eigentlichen Geschichte: Nach drei gepflegten Single Malt in der Bar sitzt du hier in deiner Bude und weißt nichts mehr mit dir anzufangen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, du bist das Alleinsein ja schließlich gewohnt. Ziehst dir irgendeinen Film rein, aber nicht so Schwarz-Weiß-Zeugs mit Ingrid Bergman, vielleicht eher einen amerikanischen Psychothriller aus den Neunzigern. Liest ein paar Seiten im Schahname und fällst dann hundemüde in die Kiste, denn morgen ist wieder ein neuer Tag. Tja, aber diesmal war das nicht so. Und warum das diesmal nicht so war, kannst du dir auch nicht erklären. Und am Single Malt lag es höchstwahrscheinlich auch nicht.

Aber ich helfe euch mal auf die Sprünge:

Ich fühlte mich damals einsam und erschöpft. Ich blickte auf die Straße. Nichts Besonderes mehr um elf Uhr nachts, das Leben da draußen hatte sich davor abgespielt. Du sprichst die Sprache nicht und so fällt die Kultur für dich flach. Und ich überlegte, ob ich noch ein oder zwei Flaschen Bier und eine Dose geröstete Erdnüsse aus einem „Convenience Store“ – die ja hier bekanntlich 24 Stunden offen haben – holen sollte.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ich ging hin und öffnete sie. Draußen stand ein hagerer älterer Herr mit Vollbart und Glatze, in Badelatschen, karierten Bermudas, einem ausgeblichenen Led-Zeppelin-T-Shirt und fragte mich, ob ich ihm zufällig eine Schachtel Aspirin oder ein Ladekabel für sein Handy borgen könne und: „ob ich nicht mal nach dem Deckenventilator schauen kann, der macht seit ungefähr ’ner halben Stunde so ein eigenartiges Geräusch, mach mir Sorgen, dass der bald den Geist aufgibt und mir auf den Schädel plumpst.“ Ich bejahte, fragte ihn zudem nach seinem Namen und er verriet mir, dass er Kevin McArthur hieß.

Ich ging mit in sein Zimmer, lieh ihm die Sachen, inspizierte den Ventilator, und er lud mich dann noch auf einen Gin Tonic ein, um ein wenig zu plaudern. Er erzählte zuerst so Sachen wie: „Im Leben kommt immer alles anders, als man denkt, und die schlechten Erfahrungen lehrten uns die guten zu schätzen, ob du es glaubst oder nicht.“ Oder „ An so was wie Gerechtigkeit glaube ich zwar schon lange nicht mehr, aber an der Sache mit dem Karma, da ist hingegen schon was dran.

Als er die Flasche Gin geköpft hatte und aus seiner Kühlbox ein paar Eiswürfel hervorkramte, sagte er zu mir: „Erzähl mir mal von dir. Aber dass das klar ist, komm gleich zur Sache und erzähl mir nicht so’n langweiliges Zeug, ja.“

Also fing ich an:

„Ich war schon als Kind anders. Was heißt anders, ich hatte halt keinen Bock auf das, was die anderen machten. Fußballspielen, Rollerfahren und den Kram. Auch wurde ich von den anderen nie zu Geburtstagen eingeladen. Aber besonders gestört hat es mich früher nicht oder nicht so, dass du es als Problem bezeichnen konntest. Noch einmal zurück zu dem, was ich vorhin gesagt habe: Ich wusste nicht, worum es im Leben wirklich geht, und gab mich schon mit guten Schulnoten, einem Himbeer-Stracciatella-Eis oder einer kompletten Sammlung von Star-Wars-Sammelkarten zufrieden. Andere Menschen waren mir zuwider oder bestenfalls gleichgültig. So war das eben.

Jedenfalls nahm dann alles seinen Lauf. In der Schule biss ich mich Jahr für Jahr so durch, war zwar nicht besonders faul, hatte aber auch nie so richtig für etwas Talent. Außer vielleicht für Jahreszahlen. Ich studierte auf Wunsch meiner Eltern Geographie, weil ich Lehrer werden wollte. Nicht dass ich das Studium besonders mochte, aber das ist ein anderes Thema. Später bekam ich als Quereinsteiger meinen Beruf in einem Unternehmen für Rasenmäher und verdiente ganz ansehnlich.

Warum ich das erzähle: Du hast es wahrscheinlich schon erraten, geneigter Zuhörer, mich machte mein Leben nun einmal nicht glücklich. Und das konnte mich wahnsinnig machen. So wahnsinnig, dass ich manchmal die Decke hochgehen wollte vor lauter Wahnsinn. Was hatte ich denn sonst schon in meinem Leben wirklich verbockt? Ich habe mit harter Arbeit alles kompensieren wollen, jeden Misserfolg. Es konnte doch nicht sein, dass ich in dieser Hinsicht ein Versager war.

Und warum war ich ein Versager?

Oder präziser gesagt: Warum wurde ich ein Versager und blieb auch einer?

In zwischenmenschlichen Beziehungen – wie bereits gesagt – hatte ich in meiner Schulzeit einfach keinen Erfolg. Und damit meine ich keine langanhaltenden Freundschaften – nein, das wäre auch nicht nötig gewesen, sondern irgendeine schöne Begebenheit. Vielleicht mal ins Kino oder auf ein Eis oder ins Schwimmbad. Aber auch schon ein Gespräch, ein Lächeln, ein Blickkontakt, eine Berührung, so etwas …“

„Quatsch, du warst vielleicht einfach nur mit dir selbst beschäftigt. Oder deine Eltern haben dir das mal verboten: ‚Spiel nicht mit diesem, spiel nicht mit jenem’, ‚Konzentriere dich auf den Schulstoff’, ‚Das andere kommt noch früh genug’, einfach idiotisch“, raunzte Kevin, als er gerade die Pappbecher mit dem Gin anrichtete. „Was waren deine drei bisher schönsten Erlebnisse, denk mal scharf nach“, fuhr Kevin weiter fort und reichte mir meinen Becher.

Ich nahm den Becher, sprach einen Toast auf die Sehnsucht und begann zu erzählen.
„Als ich Aniko kennenlernte, obwohl es eine flüchtige Bekanntschaft war. Erinnere mich noch genau, als ich auf dem Weg zur Schule meinen Regenschirm aufspannte und mit ihr zusammen in die Schule ging.“

„Aber gesprochen hast du mit ihr nichts, oder?“

„Kurz darauf hat sie die Schule gewechselt.“

„Was ist dir noch in Erinnerung geblieben?“

„Hast du später noch einmal was von ihr gehört?“, fragte Kevin, nahm einen Schluck von seinem Gin.

„Nein. Überhaupt nichts“, antwortete ich.

„Was kam danach?“

„Danach kam Christina“, sagte ich „aber das war über sechs Jahre später. Christina war ein Engel, so warmherzig, so reif für ihr Alter. Ich erinnere mich noch gut an den Tag in der Bücherei, als sie sich so darüber gefreut hat, dass ich das älteste Buch – das übrigens noch in Fraktur gedruckt war – gefunden habe. Oder sie half mir auch einmal, als ich während der Klassenarbeit Kopfschmerzen bekam und sie den Lehrer davon überzeugte, dass ich die Arbeit wiederholen konnte. Aber sie sagte auch einmal in Religion, dass sie verstehe, warum sich Menschen vor Engeln fürchteten – das war seltsam, nicht wahr?

Kevin hörte mir andächtig zu und sagte: „In der Tat“, dabei musste er kräftig husten. „Was ist mit dem dritten Erlebnis?“, fuhr er fort.

„Ich erinnere mich am besten an Nathalie, die ich im Sommer vor vierzehn Jahren in einem Portugiesischkurs traf. Zuerst saß sie in der letzten Reihe, und ich habe öfter zu ihr heimlich hinübergeblickt. Aber ich war nicht sicher, ob sie es gemerkt hat. In einer der folgenden Lektionen setzte sie sich unvermittelt neben mich und gab mir ihre Adresse, da ich für sie in der nächsten Woche mitschreiben sollte. Nathalie saß tatsächlich neben mir und kicherte, und ich war so perplex, dass ich es nicht einmal realisiert habe.“

„Das ist aber nicht gerade viel, was du über sie weißt. Und es ist außerdem schon verdammt lange her. Klar, danach machtest du noch mehrere Bekanntschaften, aber so intensiv wie bei den ersten drei wurde es nie wieder, nicht wahr?“

„Vielleicht hatte ich auch Angst vor Zurückweisung. Überlege dir mal, was passiert wäre, wenn irgendein Kontaktversuch danebengegangen wäre. Oder ich rot geworden wäre und um Worte ringen hätte müssen. Das ist in jungen Jahren schwer auszuhalten. Da ist es immer angenehmer, sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, auch wenn einem etwas entgeht. Aber lange Zeit bereitete mir das Fehlen solcher Kontakte auch keinen großen Schmerz, und ich wäre einer Beziehung nicht gewachsen gewesen. Und ob mich mein Gegenüber auch so interessant gefunden hätte, das steht natürlich auf einem anderen Blatt.“

Kevin nahm noch einen letzten kräftigen Schluck von seinem Gin. Er inspizierte die Eiswürfel in seinem leeren Becher.
„Tja, da kann man eben nichts machen“, sagte Kevin. Aber ich kenne da einen Trick: Du musst nicht hoffen, dass du ein und denselben Menschen noch einmal im Leben triffst. Aber manchmal triffst du Leute, die erinnern dich an andere Leute und mit denen kannst du es versuchen. Vielleicht trifft ja auch die andere Person dich auf diese Weise noch einmal. Irgendetwas gibt dir schon die Antwort. Ansonsten musst du versuchen, die Stille auszuhalten, so schwer es dir auch fällt. Es reicht, sich auf die Suche zu machen. Ob man ans Ziel gelangt, ist natürlich eine andere Frage, aber man muss sich zuerst auf die Suche machen.“

Ich hatte jetzt auch meinen Gin Tonic ausgetrunken und war gerade im Begriff zu gehen, als Kevin fortfuhr:
„Und da wäre noch die Sache mit den Außerirdischen?“

„Außerirdische, komm mir doch nicht mit diesem Blödsinn!“, rief ich verdutzt.

„Ja, Außerirdische. Es wäre ja absoluter Topfen zu glauben, da kämen welche oder wir könnten jemals mit irgendwelchen Kontakt aufnehmen, man denke nur an die Relativitätstheorie. Einstein und so, das weißt du bestimmt. Aber die meisten Menschen glauben trotzdem an Aliens und das gibt ihnen eine gewisse Hoffnung. Dummerweise wird für die Astrophysik viel zu viel Geld ausgegeben. Damit könnte man genauso gut in Alaska nach dem Bernsteinzimmer suchen, genau the same fuckin’ shit. Das Geld fehlt dann an anderer Stelle, beispielsweise in der medizinischen Forschung, ist ja logisch.“ Kevin machte eine kurze Kunstpause und kratzte sich am Rücken, dann redete er weiter:
„Und doch denkt fast jeder, dass die Suche einen Sinn hat. Was für einen genau, kann er mir natürlich nicht verraten, aber er denkt trotzdem, dass alles nicht umsonst war.“

Dabei nahm er den Beutel mit dem Tabak aus der Hosentasche und drehte sich die erste von mehreren Zigaretten.
„Bei manchen Leuten ist das die einzige Hoffnung, um weiterzuleben“, sagte er. „Verstehst du: weiterleben“, fügte er hinzu.

Ich fragte Kevin nach einem anderen Beispiel und er antwortete mir, dann gab er mir drei Oliven in die Hand und sagte: „… Schließ jetzt die Hand und denk mal eine Zeit lang darüber nach.“

Aus dem Fernsehlautsprecher vernahm ich auf einmal, obwohl der Bildschirm nicht lief, eine tiefe, geheimnisvolle Männerstimme:
„Ein samisches Sprichwort: In der Stille wächst das Vertrauen.“

Da fiel plötzlich der Strom aus. Das ganze Zimmer wurde zu einer schwarzen, lautlosen Wüste. Auch Kevin war verstummt. Plötzlich wurde es ganz still in meinem Kopf. Ich wollte wieder zurück in mein Zimmer, doch als ich den Türgriff in der Hand hatte, brach dieser ab. Die Stunden wurden zu Tagen, zu Monaten, zu Jahren: Nichts passierte. Nada.

Als der nächste Tag anbrach, fand ich mich wieder in meinem Zimmer vor. Ich öffnete meine Zimmertür und ging in Kevins Zimmer. Er war spurlos verschwunden. Von den Oliven in meiner Hand waren nur noch die Kerne übrig. Diese warf ich in meinem Zimmer in den Papierkorb.

II.

Lange Zeit nach dieser Dienstreise war bei mir alles wieder beim Alten und über die Sache in B. war schon lange Gras gewachsen, so schien es. Manchmal dachte ich an Kevin zurück, aber sein Ratschlag hörte sich für mich in etwa an wie: „Geh nach Ich-weiß-nicht-wohin, bring mir Ich-weiß-nicht-was.“

Also versuchte ich, das Beste aus Kevins Worten zu machen: N. aus dem Sprachkurs schrieb ich eine freundliche E-Mail, in der ich ihr von meinem Erlebnis erzählte und auch davon, wie glücklich es mich gemacht hatte – natürlich auf Portugiesisch. Diese wurde aber nicht beantwortet. Weiters kaufte ich mir eine Geldbörse in der Pastellfarbe des Pullovers, den Christina in der Bücherei getragen hatte, und schrieb einer Regenschirmsammlerin eine E-Mail und erzählte ihr meine Geschichte mit Aniko. Das war nicht viel, aber immerhin etwas.

Dann, eines Tages im Februar, begegnete ich jemandem, der Aniko ähnlich sah, als ich die Porzellangasse in Wien entlangschlenderte. Ein kurzer Blick in die Augen. Ein paar hundert Meter später blieb ich an einem Schaufenster stehen. Darin eine Tasse mit der Aufschrift: „Ich so: Och bitte. Und dann mein Leben so: Nö.“

III.

In diesem Sommer erblühten in Island die ersten drei Ölbäume, was als kleines Wunder galt, und im tiefsten Süden Usbekistans wurde angeblich ein UFO gesichtet. Es stand jedenfalls so im Internet.

Michael Bauer

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