Die Trödelverkäuferin
Jeden ersten Samstag im Monat sah ich auf der Unteren Brücke die Trödelverkäuferin, wenn ich von meiner Wohnung in die Stadt ging. Ich nahm mir vor, mit ihr ins Gespräch zu kommen, traute mich aber nicht. Als ich mich doch einmal überwand, lud ich sie zu einem Spaziergang ein und sie sagte zu.
Ich hatte eigentlich vor, ihr meine Stammkneipe zu zeigen, doch dummerweise war auf dem Weg dorthin eine Baustelle, sodass wir einen Umweg nehmen mussten.
Wir kamen in eine dunkle Unterführung, in der man nicht bis zum anderen Ende sehen konnte. „Da müssen wir jetzt durch“, sagte sie, „aber keine Angst, ich kenne mich aus, es sind nur einige hundert Meter. Und ein Zug kommt auch nicht, da die Strecke vor einiger Zeit stillgelegt worden ist.“ Ich überwand meine Angst und ging mit ihr. „Lass uns über etwas quatschen, das ist gut gegen die Angst“, empfahl sie.
Also fiel mir ein, dass ich vor sehr langer Zeit, an meinem ersten Schultag, einen Film gesehen hatte, der in der New Yorker U-Bahn spielt. „Das ist ein sehr gutes Thema. Und es passt ja ausgezeichnet zu unserer jetzigen Situation.“ „Als ich diese U-Bahn-Station sah, es war ein Film, glaube ich, aus den späten 1960er oder frühen 1970er Jahren, diese alte, schäbige Haltestelle, zertretene Dosen und alte Zeitungsreste wehte der Windstoß der einfahrenden Züge umher. Menschen stiegen ein, stiegen aus. Fast niemand schien mit dem anderen zu sprechen, geschweige denn, jemandem in die Augen zu sehen. In dieser Situation dachte ich, wie wohl mein letzter Schultag aussehen wird.“ „Und an was dachtest du?“, fragte sie. „Ich konnte mir die Situation schlicht nicht vorstellen, aber es muss etwas Schönes, Befreiendes gewesen sein.“ „Ich konnte ja damals unmöglich so weit in die Zukunft denken.“
„Und heute denkst du an die alte Zeit zurück und kannst dich beim besten Willen nicht mehr zurückversetzen.“ „Genau. Es waren das die Jahre, in denen ich immer nachts vor dem Fernseher hing. Nicht, dass mir einige Filme besonders in Erinnerung geblieben wären. Was würde ich dafür geben, die alte Zeit noch einmal zu erleben. Und sei es nur, um das Fernsehprogramm zu sehen.“ „Und was hast du in der Zwischenzeit erlebt?“ „Das ist mehr oder weniger auf ein paar Gedanken zusammengeschrumpft, also nichts Weltbewegendes.“ „Denk doch mal scharf nach.“
„Ich wollte immer einmal nach Amerika. Am besten in das Amerika der 1960er, 1970er Jahre. Aber das war nur so eine Idee, gemacht habe ich das nie. Ich könnte mich auch nicht erinnern, ob ich einmal irgendein Souvenir oder irgendetwas spezifisch Amerikanisches gekauft habe, wie beispielsweise eine dieser Campbell’s Suppendosen … Ach ja, meine Tante fuhr in dieser Zeit für ein, zwei Jahre einen roten Chevrolet Corsica. Das war vielleicht das Amerikanischste, was ich mir damals hätte vorstellen können.“
„Vor einiger Zeit habe ich zwei alte Postkarten aus New York verkauft, aber mir ist Amerika ziemlich egal. Ehrlich gesagt, habe ich an meinem ersten Schultag nicht so weit in die Zukunft gedacht, aber so genau weiß ich das heute nicht mehr. Ich dachte, in vierzehn Jahren sind wir doch schon auf dem Mars oder haben Kontakt aufgenommen, was weiß ich.“ Weiter entgegnete sie: „Mein Interesse für die Raumfahrt begann, und ich habe alles aufgesogen. Star Trek. Star Wars. Aber das verging wieder. Und die Zukunft ist ja dann doch eine andere geworden, nicht wahr?“
Es war jetzt völlig dunkel. Weder konnte ich nach vorne blicken noch nach hinten oder zur Seite. Da die Trödelverkäuferin immer wieder verstummte, kam es mir vor, dass ich die ganze Zeit mit Monologen beschäftigt war und ich mich so vergewisserte, noch nicht tot zu sein. Jede Pause in meinen Worten kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich fragte sie mehrmals, ob sie diese Situation nicht gruselig fände, doch sie antwortete nicht. Auch der Tunnel schien sich verlängert zu haben, denn innerlich schien die Zeit, die wir drinnen verbrachten, auf mehrere Stunden angewachsen zu sein.
„Warum verkaufst du eigentlich alte Spielsachen und Ansichtskarten. Waren es deine eigenen?“
„Ein zwei Stücke sind von mir, den Rest verkaufe ich nur so. Welches die beiden Sachen von mir sind, verrate ich nicht.“
Mit einem Schlag wurde es wieder hell. Zuerst fühlte ich mich vom gleißenden Licht geblendet. Wir hatten das Ende des Tunnels erreicht, und ich fand es fast schon etwas bedauerlich, dass die gruselige Atmosphäre im Dunkeln vorbei war. Dennoch empfand ich Erleichterung. Meiner Gesprächspartnerin war nichts anzumerken. Kein Grusel, kein Gefühl der Befremdung. Und doch fiel mir nach genauerem Hinsehen etwas auf: Die Trödelverkäuferin hatte nun plötzlich ein anderes T-Shirt in Batikoptik an, dessen Saum sie in ihre Hose gesteckt hatte, und am Ausgang des Tunnels stand das Schild „New York Central Park“.
Michael Bauer
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 21055