Etwas zur Blauglocke
Der Garten hat uns verändert. Eigentlich ist es kein Garten, sondern das Gelände einer stillgelegten Gemüse-Konservenfabrik in einem westlichen Wiener Bezirk.
Jetzt, da der Frühling kommt, liege ich öfter bei geöffnetem Fenster und da sowohl der Straßenverkehr als auch meine Berufstätigkeit stark abnahmen, umfängt mich ein wohltuend betäubender Frieden. Ich lausche den Vögeln und atme unsere Pflanzen.
Ab und zu verfällt eine alte Werkshalle, die müssen wir dann räumen. Dadurch entsteht neuer Boden, den wir freistemmen, und wir erkennen langsam, wie groß das Gelände ist.
Hier wohnen noch: die Nachkommen des Fabrikanten, deren Kinder, drei Katzen und ich. Ich wollte hier eigentlich nur vorübergehend wohnen.
Als ich hier vor Jahrzehnten in eines der leeren Betriebsgebäude einzog, war das Viertel so gut wie tot. Die Ruhe hier machte uns allen Angst. Wir stellten die Boxen in die Fenster, luden Bands ein, grillten, redeten laut und viel und lernten uns alle nicht kennen. Wir tanzten auf den alten Werkshallen, bis die Dächer einbrachen. Das alles war dann nach der Jahrtausendwende vorbei.
Um 2008 herum tauchten die ersten Blumentöpfe auf. Erst kleine, unbedeutende Zierblumen, dann Küchenkräuter und diverse Strauchartige. Ein paar Jahre später kam es zu massiven Oleandern und Magnolien, schließlich Rosen. Vorerst alles in Töpfen. Keiner wusste, woher. Es fragte auch keiner.
Wir begriffen: jede Pflanze ein Schritt aus der Depression. Wir lernten bald, unsere Hochbeete vor den Katzen und streunenden Hunden zu schützen, indem wir Zweige quer über die errichteten Holzkästen legten. Wir lernten, Fässer unter die undichten Regenrinnen zu stellen, unweit unserer Gemüsepflanzungen. Wir schärften unseren Blick auf die Wolken und ihre Bedeutung.
Wir pflanzten bald direkt im Boden. Während uns das Interesse an unserem Berufsleben ungewollt verloren ging, stellten wir allgemeines Wachstum fest. Während der immer heißeren Sommer ließen sich Neulinge bei uns nieder: Die Chinesische Blauglocke, ein besonders wuchsfreudiger Baum, der violett blüht, bevor er massive Blätter anlegt, fällen wir nicht mehr. Sie liegt den Katzen am Herzen. Sie trauerten an den verbliebenen Stümpfen.
Dadurch aber bricht die Chinesische Blauglocke vermehrt durch unsere Mauern. Sie wächst dort am liebsten. Zwei schon unserer Mauern fielen in die benachbarten Höfe. Von dort wird uns seither diverser Müll über die Mauerreste geworfen: Küchensäcke, Bestandteile alter Kühlschränke, Schnapsflaschen.
Oder ist dieser Müll immer noch die Rache unserer gekränkten Katzen? In unseren Träumen erobern wir diese Höfe und erweitern unseren Garten. Doch dann fehlt uns dazu die Lust.
Wir merken, wie wir immer ruhiger werden und uns das Interesse an der Außenwelt abhandenkommt. Auch die immer selteneren Besucher beruhigen sich bei uns sofort. Sie sagen, dass sie sich bei uns an etwas erinnert fühlen, das ihrer Kindheit fehlt.
Bernd Remsing
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