Terrestrische Navigation 2

Halt! Haben Sie Teil 1 schon gelesen? Dies ist die Fortsetzung.

Wenn die Erwachsenen Beratung suchten, gingen sie zu Frau Apfel. Wenn nur ihre Kolleginnen da waren, fragten sie erst gar nicht. Auch wenn die Erwachsenen Beratung suchten, die nichts mit Büchern zu tun hatte, gingen sie zu Frau Apfel und redeten anfangs von Büchern, dann erst von ihren Problemen. Wir waren dann die Einzigen, die ihren Namen kannten. Wir gingen nämlich, wenn wir nicht weiterwussten, auch zu ihr, meistens handelte es sich um Schulaufgaben, bei mir waren es die in Latein. Es schimmerte grün, es roch nach Kaffee und Zigaretten, und eigentlich gab es keine Probleme. Wenn doch, dann delegierte Frau Apfel diese Probleme entweder an ihre Kolleginnen, oder, und das war ganz selten, wir durften sie in ihrer Wohnung besuchen, gegenüber der Stadtbücherei. Neben ihrer Tür hatte sie ein hellgrünes Schild in Apfelform. Darauf stand in feinen Linien Frau Apfel. Jeder von uns, der es sah, merkte sich ihren Namen.

Dort war es auch grün und roch nach Kaffee und Zigaretten. Und dort lösten sich dann selbst die schlimmsten Probleme in Rauch auf.

Von einem Tag zum anderen beschloss ich, Bücher aus der Erwachsenenabteilung auszuborgen. Da ging Frau Apfel mit mir und beriet mich, und es gab einen schrecklichen Streit mit ihren Kolleginnen über Forests Barbarella, von der ich die Herausgabe sämtlicher Bände forderte. Frau Apfel war dafür, ihre Kolleginnen dagegen. Diese Sumpfhühner! Trotzdem habe ich dann in Barbarella nur geblättert und nicht wirklich gelesen. Es waren keine Tippex-Stellen darin. Genau wie bei der Terrestrischen Navigation zum Beispiel, die jetzt vor mir liegt. Aber das ist ein schlechtes Beispiel, weil bei der Terrestrischen Navigation trennten sich meine Eltern. Wie sehr hätte ich Frau Apfel da gebraucht.

Weil ich zu meiner Mutter zog, konnte ich das Buch nicht zurückgeben und verlor außerdem meine Fünf Freunde. Meine Mutter und ich wohnten viel zu weit weg, als dass ich mich alleine zu Frau Apfel zu fahren getraut hätte. Und als ich so weit war, die Strecke zu bewältigen, schränkten sie die Öffnungszeiten ein, wegen des Sparpakets, wie mir meine Mutter erklärte. Und sie fand das auch ganz in Ordnung so, weil es denen ohnehin immer zu gut gegangen wäre. Ich solle doch das verdammte Buch behalten, erklärte sie mir, das geschehe denen nur ganz recht. So hätte sie früher nie geredet.

Ich wurde Speditionslogistiker. Erst viel später habe ich an der Abendschule maturiert. Mein Vater schickte mir aus diesem Anlass ein Stück Berliner Mauer. Er wäre damals dabei gewesen, las ich auf dem Stück Papier, in das er das Mauerstück eingewickelt hatte. In seinem Scheidungsjahr wäre er dort hingefahren, las ich, und es hätte sich historisch angefühlt, dieses Stück aus der Mauer zu schlagen. Mit diesen Schlägen hätte er auch sich selbst renoviert. Seitdem habe er beruflich Glück gehabt und könne mich in meinem Studium unterstützen, vorausgesetzt es sei BWL.

Statt Geographie studierte ich also BWL, ohne viel Freude, aber auch mir war klar: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Ich wollte aber ein Haus und ich baute auch eins. Doch das hat auch keine Freude gemacht. Als unser erstes Kind auszog, kam es kurz darauf zu diesem Prozess und ließ sich meine Frau von mir scheiden. Als ich auszog, stieß ich beim Füllen der Schachteln wieder auf dieses Buch: Terrestrische Navigation. Übungen und Aufgaben. Von Axel Bark. Aber aufgeschlagen habe ich es nicht. Damals hätte ich auch ihre Widmung gar nicht verstanden: „… denn auch die Erde ist ein ferner Planet.“ Aber erst Monate später kam ich auf die Idee, die Terrestrische Navigation zurückzugeben.

Ich erinnere mich an meine damalige Begründung dafür: „Dieses Buch passt nicht zu meinen sonstigen Büchern.“ Ich muss außerdem daran gedacht haben, dass die Leihgebühren mittlerweile astronomisch seien, aber das hat mich nach den ganzen Prozesskosten wahrscheinlich auch nicht mehr gestört, das heißt, das kann für mich keinerlei Wirklichkeitswert mehr gehabt haben. Ich versäumte auch, wenigstens nach den Öffnungszeiten meiner etwas abseitigen Kindheitsfiliale der Wiener Stadtbüchereien zu sehen. Ich ging einfach mit der Terrestrischen Navigation hin. Dann stand ich vor dem Leerstand. Ich begriff, dass es meine Firma gewesen war, die im Auftrag einer Fitness-Studio-Kette diesen Leerstand bewirkt hatte. Der Plan war gewesen, dieses Studio über alle Etagen des Hauses zu ziehen. Ein fünfstöckiges Fitness-Studio-Haus.
Die Leihbücherei im Erdgeschoß störte diesen Plan natürlich erheblich. Ich war damals derjenige, der wusste, mit wem er zu reden hatte, um dieses Haus aus dem städtischen Besitz zu lösen, um damit nicht nur das Haus, sondern gleichzeitig auch das Erdgeschoß freizubekommen.

Gerade das freigewordene Erdgeschoß brachte mir damals die dringend benötigte Aufstockung und einen ansehnlichen Bonus ein. Nur dass mir das alles erst wieder einfiel, als ich vor diesem Leerstand stand. Das muss 2008 gewesen sein, ein wildes Jahr, wo wir die Aufputscher wie Soletti fraßen und auch ein Jahr, das erklärt, warum mit dem Fitness-Studio dann doch nichts weiterging. So etwas in der Art dachte ich mir auch damals, als ich vor dem Leerstand stand, und dann ging ich etwas trinken. Ab da wurde das immer häufiger, das mit dem Trinkengehen.

Beruflich machte ich keine besonderen Fortschritte mehr. Bei den obligaten Lokalbesuchen nach einem Geschäftsabschluss nahm mich Alex immer häufiger zur Seite und meinte, ich solle wenigstens bei den Geschäftsgesprächen nicht so oft soziale Bedenken äußern wie in letzter Zeit; das schade nicht nur dem generellen Ablauf, sondern auch mir. Alex kenne ich seit meiner Zeit in der Stadtbücherei. Er war sozusagen der Chef unserer Fünf Freunde, unserer Bücher-Bande, und hat mir nach meinem Studium den Weg in seine Firma geebnet. In den ersten Jahren waren wir oft Skifahren und auf Festivals. Einmal sogar auf Roskilde. Auf dem Roskilde-Festival hat er bei unserem gemeinsamen LSD-Trip auf mich aufgepasst wie ein großer Bruder. Schon immer fühlte er sich für mich verantwortlich, ganz wie bei unserer Bücher-Bande, wo er sich auch immer für alle zuständig fühlte. Weil er merkte, dass mit mir nichts mehr so recht ging, versuchte er mir den Kopf zurechtzurücken. Das machte er immer vor dem Pissoir. Einmal sagte er sogar, meine Einwürfe wirkten verschroben und unpassend.

Dann bekam ich mit, dass er Frau Apfel delogieren ließ und sich ihre Wohnung unter den Nagel riss. Ihre Friedenszins-Wohnung im Alsergrund bildete nun seine stattliche Altersvorsorge. Bei einem unserer Pissoirgespräche machte ich ihm deshalb Vorwürfe. Er lachte mich aus, fragte, wer denn diese Frau Apfel sei, und bezeichnete mich als Sozialromantiker. Laut Protokoll habe ich ihn daraufhin offenbar am Hinterkopf gefasst und mit der Stirn so heftig gegen die Pissoirwand geschlagen, dass er bewusstlos zu Boden sank. Es kam zu diesem Prozess, der mich Haus und Ehe und schließlich den Job kostete, und wir gingen uns seitdem aus dem Weg.

Ich muss an dieser Stelle ein gutes Wort für Alex einlegen. Es war mir vor, während und nach unserem Prozess immer klar, dass er es gut mit mir meinte. Es ging mir dabei immer nur um Frau Apfel und das hat er damals eben nicht verstanden. Das hat mich wahnsinnig aufgeregt. Ich weiß auch, dass er recht hatte damit, dass ich immer unpassender wurde. Im Immobiliengewerbe bist du ein T-Rex. Aber ich wollte ein T-Rex sein, der zum Vegetarismus aufruft. Verschroben und unpassend, da hat sich der Alex sogar noch schonend ausgedrückt. Er wollte mir helfen. Aber er konnte schließlich auch nicht verhindern, dass ich gekündigt wurde. Meine Kündigung hatte nichts mit Alex und auch nichts mit der Pandemie zu tun, wie das meine Mutter je nachdem behauptet. Das hatte nur mit mir zu tun. Da mache ich mir nichts vor.

Im Zuge der Pandemie machte die Stadt den Zugang zu ihren Klein- und Kleinstwohnungen in ihren Sozialbauten frei und so viel Kraft und Geld hatte ich noch, eine davon zu beziehen, auch wenn ich sie bis jetzt nicht eingerichtet habe. Als ich Monate später mein Namensschild bei der Haustür einschob, fiel es mir auf: Frau Apfel. Mit der höchsten Türnummer. Zwei Stockwerke über meiner Wohnung. Wäre auf der Türöffnerleiste nichts weiter gestanden als Apfel, hätte ich mir nichts dabei gedacht, aber Frau Apfel – noch dazu in dieser Schrift, mit der immer ein wenig zu blassen Tinte? Unmöglich, dass das jemand anders sein konnte.

Weitere Entdeckungen warten in Teil 3.

Bernd Remsing
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