McDonalds, 22 Jahre am Puschkin-Platz, Ende am 9.3.22

Es bietet sich ein eigenartiges Bild. Im bitterkalten Jänner 2000 stehen tausende Moskauer auf dem Puschkin-Platz. Ein Ort um das Denkmal für den Dichterfürsten, wo sich traditionell Menschen zu Festen und Protesten versammeln. Schon Dostojewski hielt dort seine historische Rede zum 100. Geburtstag, in den revolutionären Tagen von 1905 und 1917 war das ein Versammlungsort, wo die Massen gegen Hunger und Krieg protestierten. Immer große, wild durcheinander wogende Menschenknäuel, mit Transparenten und Schildern. Die Stufen und der Sockel des Denkmals sind auch zu normalen Zeiten immer mit Blumen belegt, im Sommer verwelkt, im Winter erfroren, aber immer frisch die Verehrung.

Seit Gorbatschows Lockerungen mit Glasnost und Perestroika ab 1985 diente der zentrale Puschkin-Platz für die täglichen Demokratie-Kämpfer. Man hatte den Eindruck, dass manche Hauptstädter dort Tag und Nacht leben.

Aber das Bild an diesem kalten Jännertag war anders. Keine buntgewürfelten Menschenmassen, sondern lange Schlangen, ein Mensch hinter dem anderen, umrundeten ein Gebäude an der Südwestecke und wanden sich in gewundenen Spiralen durch alle Nebengassen. Es lag eine eigenartige Stille und Spannung über diesem Menschengemenge. Für Moskauer Verhältnisse eine ungewöhnliche Ordnung und Disziplin, viele Menschen mit Kindern, pelzeingemümmelt in Kinderwägen oder an der Hand ihrer Eltern oder Großeltern. Mir kamen sie vor wie eine gezähmte Schar von Bären. Es muss einen Lottogewinn geben.

Die pelzbehüteten Köpfe reckten sich und waren ausgerichtet nach dem großen Ecklokal mit Fenstern, in denen gelbe Bögen prangten. Alles wartete mit hoffnungsvollen Gesichtern auf die Sensation. Ganz Moskau schien auf den Beinen zu sein: Es sperrte die erste Filiale von McDonalds auf! Als ausländisches TV-Team waren wir unter den ersten, die ganz vorne hineindurften. Als sich die Türen öffneten, brach das Chaos auch. Ich fürchtete um mein Leben in diesem Gedränge. Die Leute waren wie wilde Tiere, Mütter und Babuschkas kämpften wie die Löwen, seriöse Familienväter setzten Fäuste und Ellbogen ein, es waren einfach alle verrückt nach McDonalds. Das Personal war so heillos überfordert von diesem Ansturm, dass es nicht einmal die Miliz herbeirufen konnte. Mein Team war so bedrängt, dass es kaum zum Filmen kam. Einige Bilder von diesem zeitenwendenden Event gelangen doch, und wir brachten sie über den Sender in die Welt.

Ich versuchte herauszufinden, was McDonalds für das postsowjetische Russland bedeutete. Ein Mythos, eine Ikone der westlichen Welt, eine neue Konsumkultur, große Erwartungen und Illusionen. Welche? Endlich in den Mahlstrom des Rests von der Welt zu gelangen. „Normalno“ zu werden, das hörte ich damals am häufigsten. Ein normales Leben in einem normalen Land wie alle anderen auch. Meine Tochter damals hatte den besseren, unverstellten Blick. Kurze Zeit später beobachtete sie das Treiben im McDonalds am Puschkinplatz und berichtete mir davon. Die Russen spinnen, sie tun so, als würden sie ihre Kinder mit den Pommes und Chickennuggets wie mit Goldbarren füttern. Goldrausch. Sie sind festlich angezogen wie für einen Kirchenbesuch. Die Kinder sperren ihre Mäulchen auf, und sie versenken andächtig die Pommes wie Vogeleltern Würmer und Insekten in die Goldkehlchen.

Die Bilder vom Puschkinplatz am 9. März 2022 sehe ich von meiner Wiener Couch aus. Sie ähneln sich, wieder viele Eltern und Großeltern mit Kindern, die Kleidung ist besser, wieder in Schlangen rund um den Puschkinplatz und seine Nebenstraßen, nur die Gesichter sind anders. Nicht mehr hoffnungsvoll nach oben gerichtet, sondern auf den Boden, wie Verurteilte.

Es ist der 14. Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine. Die letzten Hamburger, die letzten Pommes, das letzte Cola, denn auch Coca-Cola zieht sich aus Russland zurück. McDonalds schließt seine erste Filiale am Puschkinplatz und weitere 850 im ganzen Land.

10.3.22

Veronika Seyr
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