Einschneidend
Sieben Meter maß der Salon der Länge nach. In etwa. Genau würde es nur ein Blick auf den Grundrissplan oder ein Ausmessen ergeben. Geschätzte sieben Meter also, denn die Schritte konnte er nicht hintereinander in einer Geraden setzen, nur in drei Tangenten, die er nacheinander an die drei der sechs schweren Kundensessel legte. Drei Schritte von der offenstehenden Eingangstür zum ersten Sessel auf der rechten Seite, dann mit den zwei nächsten zum mittleren Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite und die zwei letzten endeten schließlich am dritten rechtsseitig gelegenen Kundensitz, auf dem gerade eine Frau, eine kleine Person mit dunkelblondem Pagenkopf – er kannte sie nicht – Platz genommen hatte.
Marietta begann mit der Kundenberatung und warf ihm einen beschwörenden Blick zu, doch Marco durchmaß seinen Salon weiter mit ausladenden nervösen Schritten, riss dann und wann scheinbar unmotiviert seine Arme in Richtung Himmel, gegen den er auch leise Flüche richtete und erweckte alles in allem den Eindruck eines verstörten Mannes, dessen Unglück mehr Raum beanspruchen würde als er hier imstande war ihm zu geben.
„Marco, die Signora möchte von dir bedient werden, würdest du bitte …“ Marietta wandte sich entschlossen mit lauter Stimme an ihren Mann, der irritiert sein Umhergehen stoppte, sich zusammenriss und höflich der Kundin zuwandte.
„Ich würde gerne meine Haare kürzen lassen, stufig. Sehr wichtig ist mir, dass die Frisur keineswegs wie frisch geschnitten aussehen darf. Die Haare sollen locker fallen und natürlich wirken.“
Marco griff von hinten in das volle Haar der Kundin, hob es von unten an, fühlte die Schwere und erwog das erforderliche Maß des Ausdünnens, um den Stand am Hinterkopf adäquat zu gewährleisten. Er sah der Frau über den Spiegel kurz in die Augen und nickte ihr zu. Das Prada-Schild in ihrer Bluse im Nacken bemerkte er und wunderte sich, warum eine so elegant und teuer gekleidete Frau gerade seinen in die Jahre gekommenen und an der Peripherie Roms gelegenen Salon angesteuert hatte. Es musste ein Zufall sein. Ein Notfall quasi, denn Frauen sind in der Wahl ihres Friseurs naturgemäß eigen und heikel.
Seine Gedanken wandten sich wieder Laura zu. Seiner kleinen Laura. Die Ereignisse hatten sich in einer nie für möglich gehaltenen lauten Weise überschlagen. Seine Tochter Laura hatte ihm und seiner Frau gestern nach dem Frühstück mit holprigen Sätzen und mit sichtlich schlechtem Gewissen mitgeteilt, dass sie am Vortag ihren Freund Enzo geheiratet hätte, dass sie ein Kind erwarteten und die junge Familie für einige Jahre in die USA nach Boston ziehen würde. Abflug noch am gleichen Tag! Die Dunkelheit des Gedankens drückte ihm die Luft ab. Etwas derart Schlagartiges und Absolutes hatte noch nie erlebt. Da war nichts Verhandelbares. Der Abgrund lag also neben jedem Frühstückstisch. Das wusste er jetzt.
„Ich möchte mit der neuen Frisur kompetent wirken, vielleicht sogar ein wenig streng, aber keinesfalls maskulin, Sie verstehen doch, was ich meine, Signore?“
Erst jetzt bemerkte Marco, dass die Kundin mit einem männlichen Begleiter gekommen war, der neben der Eingangstür stand und seinen Blick unverwandt nach draußen richtete. Der Friseur deutete mit einer Bewegung seines Kopfes seiner Frau Marietta an, dem Mann einen Sitzplatz anzubieten. Diese schüttelte nur achselzuckend ihren Kopf. Anscheinend wusste der Gute nicht, dass Haareschneiden bei Frauen nicht so mir nichts dir nichts abgehandelt war.
Jetzt war Laura also schon auf halber Strecke über dem Atlantik, mit seinem Enkelkind im Bauch. Mit einem Ehemann, den er sympathisch fand, aber in Wahrheit kaum kannte. Erst vor einem halben Jahr hatten sich die beiden kennengelernt. Und er hatte bei der Heirat den Familiennamen Lauras angenommen! Was für eine Absurdität, stammte dieser Enzo – sein Schwiegersohn! – doch aus einer angesehenen Juristenfamilie Roms. Marco schüttelte den Kopf.
„Gibt es denn ein Problem mit meinen Vorstellungen, Signore?“ erkundigte sich die Kundin mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Nein, nein, Signora, ich musste nur gerade an meine Tochter denken, die zur Zeit nichts als Unsinn im Kopf hat, entschuldigen Sie bitte. Ich mache mich dann ans Werk, Sie werden zufrieden sein. Darf ich mir die Frage erlauben, warum Sie meinen kleinen Friseursalon ausgewählt haben, Sie sind doch bestimmt nicht aus diesem Stadtbezirk?“
„Ach, ich war gerade in der Gegend und bin auch irgendwie in Eile. Ihr Salon wirkte vertrauenerweckend. Auch mein Sohn macht mir übrigens gerade Sorgen. Oder sollte ich besser sagen, ich ihm? Jedenfalls ist er von zu Hause ausgezogen. Mehr oder weniger im Streit. Was soll man da machen als Mutter? Ich kann in meinen Entscheidungen nicht immer auf ihn Rücksicht nehmen, er ist schließlich erwachsen.“
„Ja, diese Eltern-Kinder-Probleme kennen wir doch alle. Meine Tochter ist praktisch über Nacht ausgewandert nach Amerika! Das muss ich erst noch verdauen.“
Marco bemerkte die in Fünf-Minuten-Abständen erfolgenden kurzen Blickkontakte zwischen seiner Kundin und ihrem Begleiter mit nachfolgendem bestätigendem Nicken.
„Oh, wissen Sie Signore, die jungen Leute treffen ihre eigenen Entscheidungen, die wohl überlegt sind. Wir dürfen ihnen schon Urteilsvermögen zutrauen, auch wenn es an Erfahrungen noch mangelt. Mein Sohn jedenfalls hatte allen Grund wegzuziehen. Er hat gerade eine Familie gegründet und der möchte er eine Lebensgrundlage bieten, einen sicheren Ort, wo sein Kind in Ruhe aufwachsen kann. Ohne diese permanente Angst, die ein Leben in Rom böte.“
„Also hier kann man doch gut leben! Ich weiß nicht, was Sie haben, Sie sprechen ja wie meine Tochter, die sagte auch etwas von ständiger Angst hier in der Stadt. Wie soll ich das verstehen? Ich habe mich noch nie fürchten müssen. Meine Kinder sind hier auch in Sicherheit groß geworden.“
„Manchmal entstehen Situationen, die Angst machen, ganz plötzlich. Wie aus dem Nichts. Durch Umstände, die man nicht beeinflussen kann, oder Gegebenheiten, die jemand herbeiführt. Aus Egoismus, Karrieredenken, aus der Midlife-Krise heraus. So hat mein Sohn mir das jedenfalls vorgeworfen. Nicht ganz unrichtig, ja, aber ich wusste nichts von dem Kind, das die beiden erwarten. Ich wusste davon nichts. Ich habe zugesagt, als das Angebot kam. Alea iacta est. Es war mir so ein Anliegen, dieses Jobangebot anzunehmen, ein langgehegter Traum. Mit all dem Wagnis, das damit verbunden ist. Jetzt allerdings noch zusätzlich mit dem Alptraum, mein Enkelkind nicht sehen zu können. Das ganze sorgfältig kuratierte Leben ist plötzlich Vergangenheit.“
„Wie gefällt Ihnen die Länge über den Ohren?“
„Ja, das passt genau so, vielen Dank, Signore. Genau so möchte ich heute Abend aussehen.“
Marco rief seiner Kundin, die dicht hinter ihrem Begleiter den Salon verließ, ein zufriedenes „Danke“ nach sowie ein „Viel Erfolg für Ihre neue Aufgabe!“
Diese drehte sich in der Tür nochmals um und sah ihm ernst in die Augen: „Ihre Frisur bekommen Sie übrigens heute Abend im Fernsehen zu sehen. Auf allen Sendern. Und Sie müssen mir glauben, von der Schwangerschaft Lauras wusste ich nichts, das hätte alles geändert.“
Am Abend erfuhren Marietta und Marco aus den Medien von der Ernennung ihrer Kundin zur Richterin im anstehenden aufsehenerregenden Anti-Mafia-Prozess.
Michaela Swoboda
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 14058