Ein Sommermärchen

Jedes Kind hatte früher einmal einen Zauberkasten. Und wenn es keinen hatte, dann hat es sich doch immer einen gewünscht. Heute scheint so etwas ja aus der Mode gekommen zu sein. Ich könnte nicht einmal genau sagen, wann das war, aber es hängt wahrscheinlich mit dem Aufkommen  des Computers und des Internets zusammen.

Doch zurück zu meiner Geschichte: Damals war ich im Ferienlager und es gefiel mir leidlich gut. Ich mochte zwar die täglichen Wanderungen und Ausflüge, aber je mehr ich mit den anderen zusammen war, entpuppte sich ihr kindisches Gehabe. Das ging mir gehörig auf die Nerven und es trübte auch meine ansonsten durchaus schönen Erinnerungen: das frische Grün und die schattenspendenden Bäume bei den Waldwanderungen. Die Naturerlebnispfade und die eine oder andere Stadtrallye – oder besser gesagt: Städtchenrallye. Natürlich war das das erste Mal, dass ich die Schönheiten der Provinz kennenlernte. Damals war ich zehn oder elf.

Aber es tat sich noch etwas auf, was ich, wenn man es altmodisch ausdrücken wollte, durchaus als „Aufbruchstimmung“ beschreiben konnte. Ich erahnte eine schöne, erfolgversprechende Zukunft, die sich aus imaginierten Welten speist. Das Erwachen der eigenen Jugend, der Bildungshunger, das Fernweh und natürlich das erste, schüchterne Interesse am anderen Geschlecht. Dieses Gefühl tat sich in einigen Momenten auf und es machte mich auch ein bisschen stolz, wenn ich die Geschichten aus früheren Zeiten las. Ich wusste nicht, ob es heutzutage noch möglich wäre, solche Abenteuer zu erleben und irgendwie kamen mir die Gleichaltrigen, die vielleicht 15 Jahre vor mir in diesem Alter waren, viel reifer, viel „erwachsener“ vor.

Wie gesagt, fand ich das Gehabe der anderen kindisch, und als die langersehnte Nachtwanderung anstand, war ich schon vorher aufgeregt. So etwas Spannendes hatte ich davor noch nicht gekannt. Die Enttäuschung kam aber, als die anderen anfingen, Kindergartenlieder zu singen. So kann man die Stimmung auch ruinieren …

Nach einigen Tagen fiel mir aber eine Erzieherin von einer anderen Gruppe auf. Sie gefiel mir sehr gut und sie spielte abends vor ihrer Gruppe immer Gitarre. Leider wäre es für mich unmöglich gewesen, sie anzusprechen, da sie eine Autoritätsperson war und zu einer anderen Gruppe gehörte. In den nächsten Tagen plagte mich immer wieder ein ungutes Gefühl, das von einer vagen Verliebtheit, aber auch dem Schmerz der Unmöglichkeit geprägt war.

Eines Tages aber, als es besonders heiß war, gingen meine Zimmerkameraden zum Fußballspielen, ich aber blieb alleine im Zimmer und las am Schreibtisch ein Buch. Da klopfte es auf einmal an der Tür. Es war die von mir bewunderte Erzieherin und fragte, ob sie sich kurz ausruhen dürfe, da es ihr schwindlig sei und sie es nicht mehr auf ihr Zimmer schaffen würde. Ich war zunächst baff, dann bot ich ihr aber an, sich in mein Bett zu legen, und sie nahm mein Angebot an.

Sie legte sich in voller Montur auf das Bett, lediglich den Hosenknopf öffnete sie und machte ein Nickerchen. Andächtig schaute ich ihr beim Schlafen zu und überlegte, was ich zu ihr sagen oder womit ich sie beeindrucken könnte. Da entdeckte ich den Zauberkasten im Schrank, den ein früherer Gast dagelassen hatte. Eifrig las ich mich durch die Spielanleitung und entdeckte bald einen Zaubertrick, den ich lernen wollte und, sobald die Erzieherin aufgewacht wäre, ihr zeigen wollte. Es war der Trick, wie man ein Kaninchen aus dem Hut zaubert. Einen Hut hatte ich keinen und erst recht kein Kaninchen. Wie sollte das also funktionieren? Hektisch suchte ich nach einem anderen Trick. Da hörte ich eine Stimme „Du suchst wohl nach einem Zaubertrick, nicht wahr?“, sagte die Erzieherin und schaute mich verdutzt an. „Da gebe ich dir einen Rat: Mach nicht mit bei dem, was deine Gleichaltrigen als „erwachsen“ ansehen, und begib dich auf die Suche nach dem, was dich in deinem Innersten am meisten bewegt, schreib es auf und warte, vielleicht fünf, zehn Jahre und begib dich dann nochmals auf die Suche und du wirst sehen, dass du dann diese Zeit mit anderen Augen sehen wirst.“ Da mir das Herz noch zu stark klopfte, brachte ich keine Antwort heraus. In diesem Moment erkannte ich die ganze Magie dieses Moments. Dass mir so etwas Unwahrscheinliches geschah, mit dem ich nie und nimmer gerechnet hätte. Als ich versuchte zu antworten, musste ich tief Luft holen. Aber ich brachte keinen einzigen Laut heraus. Also versuchte ich es nochmal. Und nochmal. Plötzlich sprang die Tür auf und die lärmenden Zimmergenossen kamen zurück. Von der Erzieherin keine Spur. Ich merkte, dass ich eingenickt war und das Ganze eine Traumphantasie war.

Von der Erzieherin nahm ich in der nächsten Zeit nichts mehr wahr. Es war möglich, dass sie und ihre Gruppe schon abgereist waren. Ich behielt aber die Worte aus dem Traum in Erinnerung und versuchte mich „fünf oder zehn Jahre später“ wieder daran zu erinnern. Als ich das später tat, kam mir der Ausflug fast märchenhaft vor: Welche tollen Abenteuer wir erlebt hätten und wie aufregend das Ganze doch gewesen sei. In diesem Moment wurde ich mir aber auch bewusst, dass dies nur die Arbeit der Phantasie gewesen ist, die der Realität auf die Sprünge geholfen hat …

Michael Bauer

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