Edgars Spiegelbild
In einer Nacht, als Amelie schon längst friedlich in ihrem Bettchen schlummerte, stellte sich Edgar vor den großen Spiegel im Vorzimmer. Er machte das Licht an, zog sein T-Shirt aus, betrachtete sich und versuchte dabei so objektiv wie möglich zu sein. Seit geraumer Zeit hatte er es vermieden, sich und insbesondere seinen Körper genauer anzublicken, zwar war er bemüht, sauber und gepflegt auszusehen, doch hatte er nie einen Blick zu viel riskiert. Er musterte den Menschen, der vor ihm stand. Er war ihm völlig fremd.
Edgar erinnerte sich noch gut an frühere Zeiten, Zeiten vor Laura, in denen er fast schon eine gewisse Eitelkeit an den Tag gelegt, in denen er sich gern selbst angesehen hatte. In denen er sich gemocht hatte. Hier stand nun ein abgemagerter, alter Mann, der in absehbarer Zeit eine Glatze haben würde, dessen Gesicht eingefallen war und dessen Augen müde und blutunterlaufen waren. Ungläubig beäugte er sein Spiegelbild wie einen Fremden, er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es war, jung zu sein, vor Kraft zu strotzen und … und zu lächeln. Er wusste nicht mehr, wie er aussah, wenn er lächelte.
Natürlich konnte er die Mundwinkel hochziehen, er konnte seine Zähne zeigen, er konnte so tun als ob. Er versuchte es. Sein Spiegelbild spannte die Gesichtsmuskeln an und was er sah, war bemitleidenswert, das war nicht er, das war nicht der lebensfrohe Edgar, das war ein geprügelter, alter Hund, der nicht mehr wusste, wie man wedelt.
Zuerst ließ ihn dieser Gedanke wütend werden, er hob seine Faust und wollte gegen den Spiegel schlagen, doch auf halbem Wege hielt er inne, überlegte einen Augenblick und fing an zu kichern. Die Vorstellung, wie er mit dem Schwanz wedelte, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, er prustete laut los und hielt sich die Hand vor den Mund, um Amelie nicht zu wecken. Ihm liefen die Tränen die Wangen hinunter, sein ganzer Körper schüttelte sich vor Lachen, er ging in die Knie und hoffte, dass er den Harndrang zurückhalten konnte.
Nach einigen Minuten hatte er sich beruhigt, er ließ sich nach hinten auf seinen Allerwertesten plumpsen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er kicherte immer noch vor sich hin, als er den Kopf hob und sich erneut im Spiegel betrachtete. Aus diesem Blickwinkel konnte er nur die obere Hälfte seines Körpers sehen, doch für ihn reichte das vollkommen.
Er konnte Leben und Freude erblicken, er konnte jemanden sehen, den er vor langer Zeit einmal gekannt hatte. „Hallo!“, sagte Edgar mit all der Wärme, die er noch in sich hatte. Und er lächelte.
Constanze Scheib
Auszug aus dem Roman: Lauras Parfum, 2014
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