Wieder „Single“
Ein Mann um die fünfzig steht an einer Wand, hält eine Tafel mit der großen Nr. 2518 mit beiden Händen vor die Brust. Man sieht nur sein Brustbild: Dreitagebart, Stoppelglatze, blauweiß-gestreiftes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Der Hintergrund ist unscharf.
„Guten Abend! Ich bin Insasse 2518 im größten österreichischen Gefangenenhaus. Wir sind fast eine Million Bewohner hier in der psycho-sozialen Haftanstalt ‚Zur Einsamkeit‘, mit Filialen in der ganzen Welt. – Nein, wir sind nicht hinter Mauern eingesperrt, wo denken Sie hin – es ist eine offene Anstalt!“
Die Kamera geht zurück, man sieht ein etwas verschlamptes Wohnzimmer, einen Wandverbau mit TV und Büchern, vis-à-vis eine Couch, daneben ein Tisch mit vier Sesseln. Der Mann geht zum Tisch, wo einige Zeitungen liegen, eine Kaffeetasse mit Rand, ein Schneidbrett mit Brotkrumen, ein fettiges Pfandl auf einer Zeitung, eine Gabel und ein Löffel. Der Mann dreht die Tafel um – vorne ist ein Hochzeitsfoto mit lachenden Gesichtern – und hängt sie an die Wand. Dann setzt er sich an den Tisch, legt die Unterarme auf die Platte und verschränkt die Finger:
„Wir haben ja den modernen Strafvollzug; und die meisten wissen gar nicht, warum sie gestraft werden – sie haben ja nichts getan. Diese Idioten – genau deshalb sind sie ja hier, weil sie nichts getan haben! Das war ja auch mein Verbrechen: Ich habe 25 Jahre nichts getan! Nichts, um meiner Frau, die ich ja aus Liebe geheiratet habe, das Gefühl von Wärme, Lebensfreude und Geborgenheit zu geben. Immer war nur Arbeit und Überstunden und Sparen wichtig – das mit dem schönen Leben, füreinander da zu sein, sich an den sogenannten kleinen Dingen zu freuen und so weiter – das hatte ja noch so unendlich viel Zeit! Zuerst muss eine Wohnung her – wenn man mit zwei Koffern in Untermiete anfängt, ist das ein langer Weg. Dann die ganze Einrichtung, das Leben wird nicht billiger, die Frau in den ersten Jahren beim Kind – als Alleinverdiener muss man da ganz schön strampeln. Ja, mit dem ersten Halbtagsjob der Frau ging es etwas leichter, aber der Kindergarten kostet auch was, und der alte VW ist ebenfalls nicht umsonst – doch schön langsam läuft es besser.
Und das Zusammenleben hat sich auch eingelaufen – nämlich auseinander. Ganz unmerklich ist aus der eingleisigen Strecke eine zweigleisige geworden, weil die Gewohnheit, das viele Schuften und der Egoismus und die Gedankenlosigkeit eine Eigendynamik entwickelt haben. Was der Körper verlangt, holt man sich in einem grausam monotonen Ritual. Dann umdreh’n und schlafen – wie schön. Dass die Frau, die einen mehr geliebt hat als sich selbst, die alles getan hat, um bei dir zu sein, ihr ganzes Leben nur mit diesem einen Ziel und Inhalt, die so viele Nächte auf dich gewartet hat, bis du endlich heimkommst, die von ihrem ohnehin nicht üppigen Wirtschaftsgeld monatelang ein paar Euro abgezwickt hat, um dir goldene Manschettenknöpfe zu kaufen, die so lange wie ein Gebrauchsgegenstand ganz selbstverständlich da war, dass diese Frau mit einem jungen Körper und einem Herz voll ungenützter Liebe nun mit großen, leeren Augen stundenlang jede Nacht neben dir liegt und sich verzweifelt fragt, ob das alles ist, was sie noch vom Leben erwarten kann, und was sie falsch gemacht hat, dass sie so lieblos behandelt wird – was heißt behandelt – ignoriert wird! Lieblos – das ist das Wort – ohne Liebe! Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern lieblos.
Experten sagen, dass sogar eine negative Zuwendung besser ist als Gleichgültigkeit und Weggeschobenwerden. Wenn man mit jemandem streitet, nimmt man ihn wenigstens ernst, man kann seine Sicht der Dinge, seine Gefühle vorbringen – es ist nicht unmöglich, sich zu versöhnen, sich erschöpft anzusehen und in einem langen Atemzug zu erinnern, dass man viel zu verlieren hat, … und sich schlussendlich zu fragen, warum man sich gegenseitig so ankeift? Na ja, das wäre ein unwirklich schönes Happyend in einem Film. Genau: unwirklich! Weil meistens dominiert das langjährige unnachgiebige Betonieren der eigenen Standpunkte! Aus die Maus! Aber wenigstens fragen hätt’ ma sollen!
Robert Müller
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