Juniorchef
Im Sommer 1989 absolvierte ich ein Praktikum in einer kleinen Feuerfestfirma in Gijón, in der Provinz Asturien, an der nordspanischen Atlantikküste. Ich arbeitete meistens im Labor. Am Anfang machte der Juniorchef mit mir eine Führung durch die Werkhalle. Die Firma war wirklich sehr klein, nur eine Handvoll Leute arbeiteten an den Maschinen, nicht mehr als fünfzehn. Zwischendurch sagte der Juniorchef, der Anfang dreißig war und ganz nett, zumindest zu mir: „They hate me.“ Er meinte die Beschäftigten. Üblicherweise sprachen wir spanisch, aber er sagte den Satz auf Englisch, da er annahm, keiner der, „seiner“ Arbeiter würde ihn verstehen.
Nachdem er das gesagt hatte, achtete ich natürlich auf die Leute. Sie sahen wirklich sehr missmutig drein, niemand grüßte, nicht einmal durch ein Kopfnicken. Andererseits stellte der Juniorchef auch keinen Arbeiter vor, sagte zum Beispiel nicht: „Das ist Miguel, er bedient die kleine Doppeldruckpresse.“ Er sprach nur über die Presse. Es kann durchaus sein, dass er manche Namen der Beschäftigten gar nicht kannte.
Drei Jahre später war diese Feuerfestfirma pleite, weil sie viel zu klein war, um kostengünstig produzieren zu können. Der Juniorchef war dann kein Juniorchef mehr, sondern jemand, der durch Beziehungen einen schlechtbezahlten Job als kleiner Angestellter ergattern konnte.
Johannes Tosin
(Text und Foto)
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24153