Alles Müll

Müll bleibt übrig, wenn alles verwertet ist. Müll ist etwas Entbehrliches, oftmals vermeintlich. Heutzutage wird so viel weggeworfen wie nie zuvor, man spricht aber nicht mehr nur von Müll, sondern von „Wertstoff“. Dinge werden produziert, verbraucht oder gebraucht, manchmal ein Leben lang, aber meist nur für wenige Sekunden oder gar nicht. Vieles entsteht lediglich um der Produktion willen. Wir leben in einer Zeit, die überflüssige Dinge hervorbringt um ihrer selber willen.
Ich persönlich verbinde mit dem Wort Müll noch etwas anderes.
Meine Vorstellungen gehen in jene Zeit zurück, als noch keine organisierte Müllabfuhr existierte. Es gab aber einen ausgewiesenen Platz außerhalb des Dorfes, auf den man den Abfall brachte, um, wenn das ursprüngliche Niveau des Bodens erreicht war, Erde darüberzubreiten und auf diese Art und Weise wieder eine Nutzfläche zu schaffen. Bauschutt und Verrottendes war Aufschüttmaterial.  In den Haushalten fiel jetzt aber mit rasender Geschwindigkeit Müll an. Die neue Zeit hielt Einzug. Spraydosen, Plastiktuben, Kunststoffverpackungen kamen in die Häuser und man wusste nicht, wohin damit. Im Herd verbrennen ging nicht, also schmiss man sie auf das Müllfeld. Das Gleiche geschah mit alten Schuhen, Kleidung, Haushaltswaren, Elektrogeräten und so weiter. Man fing auch an, die Sachen nicht mehr zu verwenden, bis sie unbrauchbar waren, sondern man ersetzte sie schon vorher durch neue. Zudem gewöhnte man sich an, die Wohnungen zu entrümpeln, Neues und Modernes anzuschaffen, endgültig die alten Zöpfe abzuschneiden, wenigstens in Form von Gebrauchsgegenständen. Die unsichtbaren alten Zöpfe sind bekanntlich schwerer abzuschneiden.

Es wurden regelmäßige Fahrten zur Sandgrube mit dem Zugkarren notwendig. Mein Bruder übernahm diese Aufgabe. Das Wegschaffen des alten Zeugs schien ihm nicht nur Freude zu bereiten, sondern er suchte sogar selbst nach wegwerfbaren Gegenständen, sortierte aber das Falsche aus, wie sich später herausstellte. Meine Mutter hatte, da sie im Laden stand, nahezu nie Zeit, die Fuhren zu kontrollieren und abzusegnen. Meinem Vater mussten sie vollends verborgen bleiben, weil er grundsätzlich alles aufheben wollte. Einmal geriet auf diese Art die geliebte Kamelhaardecke meiner Mutter unwiederbringlich in die Sandgrube. Es war ein Mitbringsel ihres Bruders aus dem Krieg gewesen. Als sie den Verlust bemerkte, war es um die Decke bereits geschehen.
Ich begleitete meinen Bruder auf den Fahrten und fand das aufregend, zumal es gewöhnlich am Abend geschah. Bei hereinbrechender Dunkelheit war der unwirtliche Ort besonders gruselig. Hatten wir alles weggeworfen, suchten wir auf ekligem und unsicherem Untergrund nach brauchbaren Dingen, die wir wieder mit nach Hause nahmen. Ein besonderer Reiz ging vom Müllplatz aus, wenn ein Feuer entfacht wurde, um den Abfall zu dezimieren und zu desinfizieren. Die Feuer loderten an verschiedenen Stellen und man musste Acht haben, dass die Flammen nicht auf angrenzende Bäume übergriffen. Feuer war für mich mit äußerstem Schrecken besetzt, nicht aus eigener Erfahrung, sondern weil sich die Erinnerung an den Werkstattbrand 1957 in das Gedächtnis meiner Mutter so tief  eingebrannt hatte, dass sie dieses Schreckgespenst ständig beschwor, etwa bei einem Gewitter, beim Ertönen der Sirene, beim Kauf von Zündhölzern durch Kinder. Feuer war für sie extreme Lebens- und Existenzgefahr, allerdings sagte meine Mutter oft: Viel habe ich mitgemacht, den Weltkrieg und das Abbrennen der Werkstatt, aber die Geburt von Zwillingen ist mir erspart geblieben.

Das Abbrennen des Müllplatzes zählt zu meinen stärksten Erinnerungen. Stinkender, beißender Geruch erfüllte die Abendluft und brannte in den Augen. Die Hitze breitete sich aus und es wurde einem gefährlich heiß, bis man sich abwenden und das Gesicht mit der geöffneten Jacke schützen musste. Trotzdem schaute ich immer wieder auf die einzelnen Brandherde. Seltsam zischende Geräusche entstanden. Am aufregendsten aber war es, wenn Spraydosen in der Hitze mit einem dumpfen Ton zerbarsten. Meinen Ohren ist erstaunlicherweise noch das ganze Konzert dieser Müllverbrennung gegenwärtig. Ängstlich und trotzdem fasziniert schlich ich umher, beobachtete, wie das Feuer Holzteile und Rupfen mit schmatzenden Geräuschen verzehrte. Kunststoff verformte sich, schmolz zusammen, nach einem letzten Aufbäumen. Bewegung entstand in den toten Gegenständen, als wollten sie noch einmal aufbegehren, bevor sie im Schlund des Feuers für immer verschwanden. Hatten wir noch Spraydosen in Reserve, flogen sie gezielt in die Flammen, um den faszinierenden Ton beim Zerbersten noch einmal zu hören. Reflexartig ging ich in Deckung. Diesem Abenteuer beizuwohnen, war für mich unersetzlich. Geliebte Fernsehsendungen wie Daktari konnten dagegen nicht bestehen. Was konnten Fernsehlöwen schon Interessantes bieten angesichts dieses Feuerbrausens?
Gleichaltrige verstanden das nicht, fanden es sogar eklig, sich dort herumzutreiben. Deren Eltern hielten es vollends für verantwortungslos, aber meine Mutter hatte durch ihr Geschäft keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, und vertraute der Vorsehung. Zu ängstlich sollte man nun auch wieder nicht sein.

Es gab auf dem Müllplatz ein Heer von Ratten, die über das Feld huschten. Mir grauste furchtbar, ich schaute aber trotzdem von der Ferne zu, wie sie umherflitzten. Aus Angst, eine würde auf mich zukommen, stieg ich auf die Stufen des Transformatorhauses, dessen weiß gestrichene Blechtür beschmiert und rostig war.  Dies war die Heimat der Ratten, das war schnell klar. Im Dämmer musste ich aufpassen, nicht von ihnen angeknabbert oder gar angefressen zu werden, wie es die alten Männer aus den Kriegstagen erzählten. Ich fasste grundsätzlich nichts an, um den Ratten keine Gelegenheit zu geben, an mir hochzuklettern. Am liebsten wäre ich weggelaufen, blieb aber trotzdem vor Grauen wie angewurzelt stehen. Wenn es dunkel wurde, wurde der Müllplatz lebendig. Ratten über Ratten, große, kleine, dünne, fette. Mit ihren spitzen Schnauzen schnüffelten sie am Grund, während sie zwischendurch vorsichtig umherblickten. Ein einziges Geräusch genügte, und sie huschten weg.
Doch sie waren auch unerschrocken und mutig, weil sie so viele waren. Ich hatte Angst, schaute ständig an meinem Körper hinab, versteckte meine Hände in den Taschen und hatte bei der kleinsten Berührung oder einem Windhauch das Gefühl, schon klettere eine Ratte an mir hoch. Als sich dann das Feuer ausbreitete, flohen die Ratten und liefen um ihr Leben. Gemeinerweise legte man die Feuer so, dass es für sie kein Entrinnen gab. Die Fluchtwege waren abgeschnitten. Die Ratten erlitten den Flammentod. Jetzt taten sie mir schon wieder leid, waren sie doch Opfer eines hinterfotzigen Mordes geworden. Irgendwie hatte ich nun das Gefühl, auch Ratten hätten Rücksicht verdient. Die Rattenbekämpfer waren noch echte Kriegserfahrene, die wussten, wie man mit Ungeziefer umgehen muss. Nach vollendeter Tat herrschte ausgelassene Stimmung und Siegesbewusstsein. Das war mir zuwider. Mit Grauen angefüllt lief ich heim, verkroch mich in mein Bett, hatte bei geschlossenen Augen ständig die Ratten vor mir, wie sie liefen und tollten und schließlich im Feuer verbrannten. Ich konnte diese Bilder lange nicht loswerden. Immer wieder tauchten sie aus dem Nichts auf und quälten mich. Ekel überkam mich, ich glaubte, ihr widerliches nasses und glattes Fell auf der Hand zu spüren. Deswegen verbarg ich die Hände in den Ärmeln und schlief mit dem Kopf unter der Decke, aber auch das half nicht. In meinen Träumen suchten mich die Ratten heim. Ich sah ihre breiten Hinterleibe mit den langen Schwänzen an Böschungen hochklettern und sah sie auf riesigen Bäumen herumturnen. Angst hatte ich davor, dass sie sich auf mich fallen lassen könnten. Deutlich erinnere ich mich an eine Zeit, in der ich diese Traumbilder überhaupt nicht mehr loswurde. Ich konnte aber weder darüber reden noch sie wegzaubern. Sie blieben einfach, bis sie mit der Zeit verblassten und von anderen, nicht minder schrecklichen abgelöst wurden. Sie hatten ihren Ursprung in Erlebnissen, denen ich mich wider besseres Wissen nicht entzogen hatte.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15003