Birkengeheimnis
Bei dem Begriff Birken denke ich nicht in erster Linie an Cechov und die anderen russischen Autoren. Vor allem habe ich einen abgewetzten Schuhkarton vor Augen, in dem meine Mutter ihre Feldpostkarten gesammelt hat.
In melancholischen Abendstunden holte sie ihn hervor, zog einzelne Karten heraus und las vor. An ihren Inhalt kann ich mich nicht mehr erinnern, genausowenig an einzelne Karten.
Nur eine Einzige hat mich von Anfang an fasziniert; sie war aus Birkenrinde und stammte von der Ostfront, also vom Russlandfeldzug.
Ich weiß nicht, ob der Absender sie wegen Papiermangels gefertigt und verschickt hat. Auf jeden Fall war sie korrekt auf Postkartenformat zurechtgeschnitten, ordentlich beschriftet und adressiert, und sie erreichte meine Mutter aus der Ferne des Kriegsschauplatzes. Die Buchstaben waren dunkel und gleichmäßig nach rechts geneigt.
Kam sie von einem Verehrer oder einem ihrer Brüder?
Jedenfalls vermochte die Karte noch Jahrzehnte später meine Mutter zu verzaubern und an eine Zeit des Glücks zu erinnern, obwohl in den 40iger Jahren so vieles auf den tiefsten Abgrund zusteuerte.
Claudia Kellnhofer
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 15022