Die Krise 1 - Die Vernissage
Es war wieder einmal so weit. Vielleicht noch nicht so schlimm wie damals 1929, aber immerhin. Die Wirtschaftssysteme des raschen Profits waren auf Grund gelaufen, ausgelöst durch gewagte, verantwortungslose Spekulationen. Nun sollte das gestrandete Schiff wieder flott gemacht werden. Die Politik, bislang bloß zum Leuchtturmwärter degradiert, wurde von ihrem Ausguck abberufen und zum Kapitän bestellt, um Befehl zu geben, aus den ohnehin schon geschändeten Staatskassen Milliarden von Steuergeldern herauszupumpen, welches man den Steuerzahlern in staatsstrategisch lukrativer Absicht wohlweislich längst abgenommen hatte. Mit diesem Geld sollten sowohl die Lecks der leeren Spekulantenkassen ordentlich, wie auch die löchrigen Börsen der Bürger ein wenig gestopft werden. Die Frage danach, ob man also ein guter Verlierer wäre, konnte daher an Zynismus kaum noch überboten werden und nur wenige waren in der glücklichen Lage, darauf zu antworten, dass sie, dank ihres Humors, sogar noch dann lachen konnten, wenn sich das Blatt einmal gegen sie gewendet hatte. Solchen Menschen wäre ohnehin nur am Wettbewerb gelegen, am Reiz der Herausforderung und an der Lust, die sie dabei empfunden hatten. Schließlich konnte man ja nicht immer nur gewinnen, daher konnten jene, die stets gewannen, es sich leisten, menschliche Größe zu demonstrieren, indem sie einem überlegenen Konkurrenten lächelnd zum Sieg gratulierten.
Zu dieser Sorte Mensch gehörte Rembert Mirando nun wirklich nicht. Er zählte jedoch auch nicht zu jener, der ein veritabler Verlust immerhin nur ein weinendes, zumindest aber auch ein lachendes Auge bescherte. Übertriebener Ehrgeiz war bislang nie seine Sache gewesen, obwohl er sich mit der Rolle des Verlierers nur schwer anfreunden konnte. Im Gegenteil. Es ärgerte ihn maßlos, wenn das Glück an eine fremde Tür geklopft hatte und nicht an die eigene, und er würde sich eher die Zunge abbeißen, als freiwillig die eigene Schuld einzugestehen, wenn ihm einmal etwas nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Rembert Mirando entstammte einem Arbeiterhaushalt. Seine Leistungen in der Schule sind nicht so herausragend, dass er eine Klasse überspringt. Und schon gar nicht kann man von ihm behaupten, dass er zu den Begabten gehört hätte. Eines aber hatte er sehr bald herausgefunden, dass dieses Leben nicht fair war und dass einem absolut nichts geschenkt wurde. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er für sich die Methode gezielten Selektierens nützlicher Freunde, investierte da und dort ein wenig in seinen eher verhaltenen Ehrgeiz, um damit den für die Öffentlichkeit notwendigen und glaubwürdigen Willen zum beruflichen Aufstieg zu untermauern.
Darüber hinaus beanspruchte er für sich jene gängige Meinung, welche über Menschen aus dem Arbeitermilieu besagte, dass Leute wie er durchaus die Fähigkeit zur Entwicklung von Qualitäten besäßen, die einem auf dem Weg zur Spitze unbedingt dienlich wären. Und dazu zählten Stress- und Konfliktresistenz, frühe Selbstständigkeit vielleicht, auf alle Fälle jedoch ein gesundes Selbstbewusstsein. Präziser gesagt stellen diese Eigenschaften Faktoren dar, die erfahrungsgemäß die notwendige Grundlage dafür bieten, spezifische Anforderungsprofile für gewisse Machtpositionen zu nähren. Schließlich entstammten zahlreiche berühmte Machthaber einem derartigen Milieu. Das war ebenso bekannt, wie auch die Tatsache in der endlosen Geschichte der Menschheit bewiesen hatte, dass viele davon ihre Macht leider oftmals weidlich missbraucht haben, missbrauchen und künftig missbrauchen würden. Um also die eigene Entwicklung nach dem Vorbild milieubedingten, scheinbar natürlichen erworbenen Machtstrebens einer Person aus den unteren Reihen derart voranzutreiben, erschien es Rembert Mirando völlig legitim, seine Lebensplanung sehr sorgfältig in Angriff zu nehmen mit dem Ziel, auf den Weg zu den Sternen der Macht nicht vorzeitig auf den Steinen dorthin hart aufzuschlagen.
Also beschloss er, in die Politik zu gehen, um dadurch wenigsten einen kleinen Vorgeschmack seines ungestillten Machtstrebens, wenn auch in etwas kleinerem Rahmen, auskosten zu können. Aber Macht haben heißt auch Verantwortung tragen, auch wenn es manchmal bloß gilt, ohnehin nur scheinbar Verantwortung zu übernehmen, weil man zufällig in der dafür vorgesehenen Position ist, welche man zwar kraft seines Amtes zu tragen hat, sie aus verschiedenen Gründen zu tragen jedoch oft gar nicht imstande ist. In solchen Fällen macht man eben das Beste daraus.
Rembert Mirando war ein unscheinbares, eigentlich völlig normales Kind gewesen. Einerseits hatte er weder an Gitterstäben wichtiger Gebäude gerüttelt, um dort hineinzugelangen, noch hatte er sonst irgendwelche hochtrabenden Karrierepläne bereits im Sandkasten geschmiedet. Aufgrund dieser wohl unbedeutenden Ausgangsposition hatte sich sein Leben bis zu seinem Eintritt in die Politik eher als eine Laune des Schicksals und der widrigen Umstände gezeigt, niemals zur richtigen Zeit am richtigen Platz mit den richtigen Eigenschaften und den richtigen Personen gewesen zu sein.
Dieser Umstand sollte sich jedoch rasch ändern, als er auf einer Vernissage des Stadtkulturamtes dem einflussreichen Unternehmer und physischen Schwergewicht Denis Escortin vorgestellt worden war, einem Mann, dem nie die Glut seiner Zigarre auszugehen schien. Ob er dem Herrn Kommerzialrat den Kandidaten für den Bundeskongress, Herrn Mirando, vorstellen dürfte?, lispelte der Parteivorsitzende in leicht gebückter Haltung Escortin ins rechte Ohr. Bitte, wenn es unbedingt sein muss, antwortete dieser, und schnitt eine unmotiviert bulldoggenartige Grimasse. Sein Gesicht war hochrot und aufgedunsen. Auf seinem beinahe kahlen, aber riesigen Schädel glänzten zahllose Schweißtropfen wie Morgentau im künstlichen Sonnenlicht der kleinen Niedervoltlampen, die teilweise auf die ausgestellten Ölgemälde, teilweise aber auch auf die Besucher und das riesige Buffet gerichtet waren.
Mirando begann sogleich geübt zu katzbuckeln, eine Methode, derer er sich seit Längerem schon erfolgreich bedient hatte, hüstelte kurz einmal verlegen und nahm schließlich einen Anlauf, sich vor diesem so hochangesehenen Vertreter der heimischen Wirtschaft mit gewichtiger Miene in Szene zu setzen.
Er, begann Mirando, freue sich, ihn auf diese Weise kennenlernen zu dürfen. Man habe ja schon viel von ihm gehört. Von seinen Erfolgen, meinte er. Und wer kannte ihn nicht? Escortin! Die Betonflotte! Kies und Schotter!
Und dabei lachte er furchtbar dämlich. Und was Escortin von diesem Bild hielte, wenn man fragen durfte? Dabei richtete er sich vor der über ihnen hängenden grünen Impression, einem in dominantem Oliv gehaltenen Ölgemälde mit einigen roten und schwarzen von fingerdicker Sepia hingeschleuderten Farbapplikationen, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf.
Ein Murmeltier, das gerade Männchen machte, konnte es nicht besser gemacht haben als Mirando eben jetzt. Kommerzialrat Escortin betrachtete ihn gewohnt herablassend und desinteressiert von oben bis unten. Schwer atmend klemmte er die mächtige Zigarre zwischen seine kurzen, knackwurstartigen Zeige- und Mittelfinger und nahm die Zigarre aus dem Mund. Er lächelte mitleidig und klopfte ein wenig Asche in den bereitgestellten Aschenbecher auf dem stangenartigen Nirostagestell ab.
So etwas, junger Freund, wie das hier, pflege ich in Festmetern in meinem Keller zu lagern, entgegnete Escortin laut auflachend. Wissen Sie, wie viel Geld ich im Laufe der Jahrzehnte dafür ausgegeben habe? Millionen sag ich Ihnen! Mirando hielt den Atem an. Ehrfürchtig starrte er auf Escortins goldenen Siegelring an dessen kleinem Finger der linken Hand, der wohl kaum auf einen anderen dieser gewaltigen Pranke gepasst hätte. Ah, entfuhr es Mirando und ein Gefühl in seinem Bauch signalisierte ihm, dass mit diesem Herrn nicht gut Kirschenessen sei. Vor allem aber ahnte er, dass dessen Erfahrungshorizont bezüglich des offensichtlich verschwenderischen Umgangs mit gängigen Zahlungsmitteln sich mit dem seinen nicht würde decken können.
Mirando reagierte sofort und verfiel in angebrachte Demutshaltung eines Gehaltsempfängers. Alles nur für einen guten Zweck, sagte Escortin gepresst. Man müsse solche Sachen kaufen. Es musste einem ja nicht gefallen. Schließlich geschähe es nicht zuletzt, um einem guten Zweck damit zu dienen. Vor allen Dingen aber meinem – guten Zweck, fügte er hinzu, und lachte dabei verschleimt, hustete auf und schluckte hinunter, um die Cohiba sofort wieder in sein breites Maul zu stecken und dicke Wolken vor sich her zu paffen.
Man sagte, Escortin wäre einer, der einem behilflich sein könnte, in jeder Lage. Mirando wusste das und er suchte verzweifelt nach einem geeigneten Andockmanöver an ihn. Schließlich standen unmittelbar Wahlen bevor und er würde Geld für seine Kandidatur benötigen, viel Geld. Der Parteivorsitzende hatte ihm den Auftrag erteilt, Escortin an Bord zu ziehen, für die Partei, heute und jetzt, sonst wären seine eigenen Tage wie auch jene Mirandos gezählt. Und dann diese Peinlichkeit. Nicht einmal eine richtige Antwort hatte er auf seine Frage bekommen. So etwas hätte er in Festmetern im Keller! Pah! Was er zu diesem Bild sagen würde, wollte er von ihm wissen, sonst nichts. Nein, man musste anders vorgehen, überlegte er.
Escortin hatte sich kurzerhand von Mirando abgewandt, als ob er ihn nicht mehr interessierte, sah sich im Ausstellungsraum um und tat, als wäre er niemandem hier drinnen Rechenschaft darüber schuldig, was er gerade dachte, oder mit welchem entsetzlichen Gestank er der hier sonst so sterilen Raumnote seinen individuellen Stempel aufdrückte.
Die anwesenden Damen hielten sich angeekelt, doch so unauffällig wie nur möglich, parfümierte Papiertaschentücher vor ihre gepuderten Nasen in der Hoffnung, dieses grauenhafte Rauchgerät würde irgendwann einmal von ganz alleine ausgehen. Escortin aber war ein geübter Raucher.
Rembert Mirando hopste nach dieser ersten Demütigung wie ein ungeschickter Detektiv hinter ihm her, jedoch immer durch ein paar Schritte Respektabstand von ihm getrennt und lauerte wie ein Luchs darauf, mit Escortin ein neuerliches Gespräch beginnen zu können. Aus einer Gruppe schwatzender, aufgedonnerter Gattinnen der hiesigen Oberschicht weniger an den Bildern interessierter Herren löste sich eine Dame mittleren Alters und steuerte direkt auf Escortin zu. Escortins Frau, Anica. Ehemals blond, jedoch professionell nachgefärbt, mit kurzer Nutriajacke, offen, Seidenschal um den Hals, den sie in einem fort immer wieder spielerisch um den rechten Mittelfinger ihrer rechten Hand wickelte. Sie rief ihrem Gemahl zu, dass es alle hören konnten, ob ihm das Bild gefiele? Sie fände es faszinierend. Dieses Grün! Also, jenes Bild, wo er eben gestanden hätte, wäre doch bezaubernd! Im Salon würde sich das ausgezeichnet machen, und ob er es kaufen werde? Und ob er schon die anderen gesehen hätte? Also, sie würde das grüne kaufen. Wer der Herr hinter ihm wäre, wollte sie von ihrem Hasen wissen? Ob er ihn ihr nicht vorstellen möchte? Sie deutete mit ihrem umwickelten Finger hinter sich, gerade auf Mirando, der eben dabei war, seinen Abstand zu Escortin zu verringern.
Escortin sah sich bloß behäbig um, als wäre eine Wende seines Kopfes um seine Achse von kaum dreißig Grad schon wer weiß was für eine sportliche Herausforderung. Das sei der Herr Dingsda, Liebling, aber sie möge ihm verzeihen, er könne sich seinen Namen nicht merken, sagte er. Der junge Mann möchte doch einmal näher kommen, sagte Escortin, er wolle ihn seiner Frau vorstellen.
Mirando folgte der Aufforderung nur zögernd. Zuvorkommen reichte er Frau Escortin seine Hand, stets leicht nach vorne geneigt, und wagte kaum, sich aufzurichten. Er pflanzte sich vor ihr auf und nannte artig seinen Namen. Wie? lachte sie, er möge ihn noch einmal sagen, es wäre so laut hier drinnen. Rembert Mirando stand der Schweiß auf der Oberlippe. Er versuchte es noch einmal. Mirando wäre sein Name, sagte er diesmal lauter als zuvor und spürte, dass er rote Ohren bekommen hatte, fügte jedoch gleich hinzu, sie hätte wirklich einen ausgezeichneten Geschmack. Auch der Herr Bürgermeister hielte das Bild dort für außerordentlich gelungen. Zu ihrem Gatten gewandt sagte sie, sie hätte sofort gefühlt, dass dieses Bild etwas Besonderes sei. Er würde es doch für sie kaufen? Wo doch grün die Farbe der Saison wäre, setzte sie hinzu. Dabei zog sie ihre ohnehin im Normalzustand bereits stark zusammengekniffenen Augenlider noch enger zusammen und lachte unangenehm hart heraus, während sie mit einem kleinen Röcheln immer wieder Luft holte, um neuerlich zu diesem klirrend kalten Gelächter anzusetzen.
Alle im Raum hatten mitbekommen, worum es gegangen war, und der Bürgermeister fühlte sich verpflichtet, da von ihm die Rede gewesen war, zu den dreien hinüberzugehen. Herr Mirando hätte Recht, liebe Frau Escortin, ein gutes Bild, meinte er. Die Gemeinde überlege, ob sie es ankaufen solle. Aber sie wisse ja, und er tat eine abfällige Geste, man wäre jetzt mitten in der Krise, sie würde das verstehn? Er lachte kurz auf. Und das würde das Wählervolk nicht gutheißen, jetzt, wo ohnehin alles knapp wäre, angefangen vom Gas bis zum Geld im eigenen Börsel. Und dazu noch die Kurzarbeit! Manche hätten gar keine Arbeit mehr. Er könnte ihr sagen, für ihn als Bürgermeister wäre das keine leichte Sache. Es wäre, und das müsste man hier einmal dezidiert feststellen, es wäre ihnen schon einmal wesentlich besser gegangen. Da müsse die Kultur auch einmal ein bisserl warten.
Und sein Blick streifte die blasse, dünne, schwarzhaarige Künstlerin Eva Vanin, in ihrem ausgefallenen, hinten tief ausgeschnittenen bodenlangen Kleid, die mit einer Schar älterer Herren, mit denen sie Sekt trank, an einem der kleinen runden Tischchen stand. Einer von ihnen, Direktor Franke, legte liebevoll seinen Arm um ihre kaum vorhandene Taille.
Wenn man noch genauer hinsah, ließ sich feststellen, wie seine zittrige Hand Zentimeter um Zentimeter von dort weiter nach unten in Richtung ihres unscheinbaren flachen Pos hinabglitt. Sie ließ es geschehen, rauchte eine Zigarette dabei, und hielt in der anderen Hand locker das Sektglas. Offensichtlich genoss sie die Situation, in der sie sich befand.
Ach, er wäre der neue Mandatar, sagte Frau Anica Escortin verwundert, und sah Rembert Mirando dabei tief in die Augen. Grad’ vorhin hätte der Herr Stadtrat über ihn gesprochen. In den höchsten Tönen hätte er ihn gelobt, müsse er wissen. Er wäre der neue Wind in der Partei, mit dem es wieder bergauf gehen sollte. Mirando, sonst so schlagfertig, tat etwas verlegen. Ja, so sagte man. So hoffte man, setzte er rasch noch lachend hinzu. Frau Escortin hängte sich bei ihm ein, um ihn bewusst etwas nach der Seite hin zu drängen. Der Bürgermeister war mit dem qualmenden Escortin angeregt plaudernd weitergegangen, ohne den übrigen Bildern noch weitere Beachtung zu schenken. Was er denn beruflich mache?, fragte Frau Escortin. Er wäre – er sei im Stadtkulturamt tätig, sagte er schließlich. Welche Ausbildung er hätte und ob er studiert hätte?, bohrte die Escortin weiter. Nein. Es – wäre ihm damals nicht möglich gewesen, stotterte Mirando. So, es wäre ihm nicht möglich gewesen, das sei interessant. Aber wenn sie ihn übermorgen ins Café Scheer einladen würde, würde es ihm doch möglich sein?
Selbstverständlich! Völlig perplex sagte er zu. Mirando verstand nichts mehr. Er sollte – mit Frau Escortin? In ein Café? In einer Kleinstadt? Wo alle alles sofort wussten? Unmöglich. Jetzt wand er sich wie ein Wurm um eine passende Ausrede herum. Aber es fiel ihm keine ein. Eigentlich sollte er hingehen. Wenn sie die Gattin eines einflussreichen Mannes war, warum eigentlich nicht, wenn dieser schon nichts von ihm wissen wollte? Vielleicht führte der Weg nach oben eben über Anica Escortin?
Er sah sich ihre in auffallend glänzenden Seidenstrümpfen steckenden, etwas stärkeren, bananenförmigen Unterschenkel an. Er dachte an ihren feisten, mehr oder weniger festen Hintern und daran, dass sie es wohl sehr gerne machen würde. Vielleicht sogar mit ihm. Und sie war ein Weib, dachte er, ein Weib, nicht so eine Gespensterheuschrecke wie diese – diese Künstlerin dort hinten bei den alten, geilen Böcken, die ganz bestimmt nicht nur wegen deren Bilder um sie herumstanden, sondern weil sie die Leichtlebigkeit suchten, die sie repräsentierte, das Wildhafte, das zum Abschuss Freigegebene.
Und alle – alle waren sie doch noch immer ein klein wenig Jäger geblieben, in ihrem Innersten zumindest, auch wenn sie in geheizten, weich gepolsterten Autos durch die Gegend fuhren, Natur meist nur durch die Windschutzscheiben konsumierten und gewohnt waren, die liebliche Landschaft ausschließlich von der Terrasse eines Haubenlandgasthofes aus zu betrachten. Aber man hatte auch irgendwie Angst und einen gewissen Respekt vor dieser Biologie, vor dem Wilden, dem Ungezähmten, das in einem selbst jederzeit durchbrechen könnte. Gepaart mit der Vorliebe für fettreiche, süße, gekochte und fleischhaltige Kost, was ihnen, den einstigen Jägern und Sammlern, in dieser Form erhalten geblieben war.
Vielleicht lag darin der Grund, sich manchmal so völlig willenlos dem Fastfood hinzugeben.
Natürlich, wenn sie es wünschte, lachte Mirando verlegen, als er seine kleine Abwesenheit bemerkt hatte. Ja, wenn ihr Gatte nichts dagegen hätte … sie sollte ihn nicht falsch verstehen … Er solle ihren Gatten aus dem Spiel lassen, ja? Das wäre eine Sache zwischen ihr und ihm, fuhr ihn Frau Escortin beinahe zornig an. Ihren Denis hätte das gar nicht zu interessieren. Seine einzige Aufgabe ihr gegenüber wäre es einzig und allein, den Versorger zu geben. Und, er solle sich gefälligst mehr um seinen Betrieb kümmern, das könne er besser.
Dabei kniff sie eines ihrer geschlitzten Lider auf und zu in der Hoffnung, Mirando würde verstanden haben. Und er hatte verstanden!
Sie und ihr Gatte wären sehr verschieden. Ihr Gerechtigkeitsgefühl sei äußerst ausgeprägt, erklärte sie Mirando. Ihres Gatten Status hingegen wäre ihr ungemein wichtig, und das wiederum würde sich bei ihm in Kauflust niederschlagen, die sie für sich zu nutzen verstünde. Man müsse immer beide Seiten sehen. Sie lachte schallend. Er sollte sich merken, Menschlichkeit wäre eine Haltung, wie sollte sie es besser sagen? Übertrieb man sie, wäre sie bloß noch ein Werkzeug der Willkür wie auch des Gnadenaktes. Und wem nützte das schließlich? Und jetzt möge er sie bitte entschuldigen. Man sähe sich demnächst, raunte sie Mirando zu, und öffnete ihre Sehschlitze so weit wie möglich, um sie gleich darauf wieder in ihre alte Position zu bringen, woraufhin sie, trotz ihres nicht allzu geringen Gewichtes, scheinbar schwerelos hinüber zur Gattinnengruppe schwebte.
Solche Gruppen wurden gewöhnlich durch gemeinsame Rituale, Mythen und Emotionen zusammengehalten, was ihnen häufig zu einer Art Binnenmoral verhalf, um ihr manchmal so plötzliches, im Grunde oftmals unerklärliches, aggressives Auftreten nach außen hin nachhaltig zu unterstützen, wenn es darum ging, unerwünschte Personen davon abzuhalten, sich zwischen sie zu drängen, wie es eben jetzt gerade Stefanie Raymundo in ihrer gewohnt selbstbewussten Art versuchte. Stefanie war eine Freundin der Künstlerin, vielleicht ein wenig mehr, niemand wusste es so genau und sie war als Besitzerin einer Geschenkboutique bekannt, mehr nicht. Aber hübsch war sie, schlank, brünett, auffallend anders gekleidet mit einem wippenden Hüftschwung, der auffiel.
Die Gatten und der Bürgermeister stoppten augenblicklich ihre Debatten und starrten auf die soeben auf die Gruppe der Gattinnen zuschreitende ungewöhnlich attraktive Gestalt. Die Gruppe begann sich sofort zu formieren, ringförmig, eine Menschenmauer gegen den an Jugend, Elan und Ausstrahlung weit überlegenen Feind von außen. Köpfe neigten sich vornüber, zusammen, flüsterten. Hände umschlossen den rechten und linken Partner und hielten zusammen, was mit allen Mitteln zusammengehalten werden musste. Sie wäre nie in dem Geschäft gewesen, sagte eine der Gattinnen. Oh doch, einmal wäre sie dort gewesen, sagte eine andere. Sie hätte etwas für ihre Nichte gesucht. Einen barockisierten Bilderrahmen habe sie gekauft. Sie wäre eigentlich ganz nett gewesen, diese Frau Stefanie, habe sie gefunden, meinte eine Dritte bedenkenlos.
Wie auf Kommando standen die Gattinnen mit einem Male wieder gerade und straften die Sprechende mit bösen Blicken. Zu der? Da fuhr sie schon eher in die Stadt, als dass sie dort was kaufte, sagte eine andere und blickte vorsichtig über ihre eigene Schulter, um zu sehen, wie weit die Eindringende schon vorgerückt wäre. Sie würden nie hier im Ort einkaufen. Man würde schon lieber in den Gewerbepark fahren. Dort wäre man anonymer. Hier würde man doch jeden sofort erkennen. Und wenn man was anhätte, was man hier gekauft hatte, wüsste jeder hier auch gleich, was es gekostet hätte. Eben, sagte die erste. Drum kauften sie gar nicht erst hier!
Die kluge Stefanie, auf ihrem Direktkurs hin zur weiblichen Oberschicht der vereinigten Kirchenbankdrückerinnen des Ortes, roch den Braten sofort, als sie die Phalanx des Gattinnenkollektivs vor sich formieren sah, und improvisierte klugerweise eine scharfe Linkskurve, in deren Auslaufphase sie direkt auf Rembert Mirando zusteuerte, der schon seit Wochen hinter ihr her war und den sie bis jetzt eigentlich kaum beachtet hatte. Heute aber sollte er Gelegenheit bekommen, sich zu beweisen. Genug dumme Anspielungen hatte sie ja bereits über sich ergehen lassen müssen. Erst neulich, als er zwischen zwei Gemeinderatssitzungen so rein zufällig in ihren Laden gekommen war, mit seinem dämlichen Grinsen, und sie auf der Leiter gestanden hatte, um einer Kundin eine Vase herunterzureichen, da hatte er gemeint, wenn das Übrige an ihr auch so zum Anbeißen aussähe wie ihre Beine, dann würde er öfter herkommen, dieser Affe! Aber bitte, wenn er es unbedingt wollte, sollte er hier und jetzt haben, was er brauchte.
Da kam ihr Mirando auch schon süßlich anschleimend entgegen und flötete freudig überrascht, oh, das Fräulein Stefanie wäre auch hier! Das sei aber eine Überraschung. Leider gäbe es keine Leiter hier, die sie besteigen könne, aber ihr aufreizendes Dekolleté schiene ihm diesmal ein würdiger Ersatz für die fehlenden … Stefanie Raymundo fiel ihm sofort unfreundlich ins Wort, indem sie sagte, sie glaube nicht, dass das hier und heute angebracht wäre, und ob er das nicht auch fände? Auf derartige Anmache wäre sie überhaupt nicht scharf, und ob er verstanden hätte, fragte sie gereizt.
Das hatte fürs Erste gesessen. Mirando zog den Schwanz ein und blies zum Rückzug, etwas rot im Gesicht, in welchem sein ewig dämliches Lächeln erstarrt zurückgeblieben war. Der Bürgermeister und der dicke Escortin standen zufällig in ihrer Nähe. Mirando tat einen Schritt näher zu ihnen hin. Stefanie Raymundo rückte unauffällig nach.
Sie hätten ja schon viele Ausstellungen hier gehabt, begann der Bürgermeister wichtig, die meisten Künstler glauben, sie müssten ihre Arbeiten unbedingt der Zeit anpassen. Dadurch gestalteten sie das ganze Theater noch schriller, noch effektvoller, seinetwegen noch multimedialer, wenn man so wollte, dabei hätte es das alles schon einmal gegeben, betonte er.
Escortin, dem zur Freude aller endlich die Zigarre ausgegangen war, nickte dazu nur dumpf und starrte auf den Boden. Es schien ihm völlig egal zu sein, was Künstler so im Allgemeinen alles anstellten, um zu Ruhm zu gelangen. Er war ein Mann des raschen Profits und hatte sich nie mit solch unnützen Gedanken abgegeben. Kaufen konnte man vieles, verkaufen auch. Mehr interessierte ihn nicht.
Er fände alles dermaßen übertrieben, wenn das Blut so aus den Schusswunden, aus den Knochen und Fleischfetzen brechen würde, wie manche es darstellten. Gott sei Dank könne man das nicht auch noch hören, sonst verstünde man hier herinnen vor lauter Brüllen und Jammern sein eigenes Wort nicht mehr, lachte der Bürgermeister, begeistert von sich und seinen Ausführungen. Ja, alles würde irgendwie … so … verfremdet, ja, verfremdet dargestellt. Er wüsste auch nicht, wieso, sagte er, und Rembert Mirando nickte eifrig bei jedem Satz, den der Bürgermeister in den Raum stellte. Aber die Kunst hätte auch etwas Kritisches, bemerkte er noch rasch. Der Bürgermeister sah ihn fragend an. Ja, ergänzte Mirando rasch, Galerien und Museen bezögen sich neuerdings wieder auf die alten Utopien, (das hatte er irgendwo gelesen) und vor allem auf deren Stars. Man zeige daher international großes Interesse an frühen Arbeiten mancher Künstler und Künstlerinnen. Und in Krisenzeiten hätte kritische Kunst vielleicht wieder so etwas wie Konjunktur erlangt.
Norbert Johannes Prenner
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