Die Nuss
Ich war noch sehr jung.
Aber egal wie alt ich damals auch gewesen sein mag, manche Dinge begreift man erst, wenn man „erwachsen“ wird. – Andere Dinge dafür nie wieder.
Es geschah an einem heißen Tag im Sommer. Die Sonne hatte über die Erde gelächelt als kannte sie nichts Böses, denn nur wenig Wolken hangen als weißwachende Gesichter am Himmel. An jenem Tag besuchten mein Vater und ich seinen Bruder, den wir lange Zeit nicht mehr gesehen hatten, und so fuhren wir mit dem neuen Automobil hinaus aufs Land.
Während der Fahrt wagte ich weder von etwas zu erzählen noch mich zu erkundigen, wie lange wir denn unterwegs wären, da es damals nicht üblich war, den Vater mit Nebensächlichkeiten zu belästigen, weswegen rege Stille zwischen uns herrschte.
Gegen Ende der Fahrt hin machte mich mein Vater jedoch aufmerksam auf die Landschaft, die sich gleich auf meiner Fensterseite erstrecken würde.
„Sieh, Sohn“, bedeutete er, und sodann sah ich nach rechts:
Zuerst erblickte ich bloß einige Bäume, die in rasender Geschwindigkeit an uns vorbeiliefen, aber hernach, nachdem alle vorüber waren, klaffte ein weiter Landstrich auf, der sich bis zum Horizont ausbreitete, und bestückt war mit einem Volk aus Nussbäumen. Reihe an Reihe wachten sie im Wind, der über ihre Häupter hinwegzog, und starr beäugten sie hinter dem Zaun das schnelle Automobil, das die staubige Straße hinaufjagte. Die Plantage war riesig, und erst als mein Vater sie im folgenden Gespräch erwähnte, entdeckte ich zwischen den Beinen der Bäume die Arbeiter, die wie Ameisen unter den mächtigen Kronen umherliefen.
„Mein Bruder hat hier gearbeitet“, erwähnte mein Vater: „Es war wohl gleichzeitig sein Verderben.“
Trotzdem ich meinen Onkel lange Zeit nicht mehr gesehen hatte, erinnerte ich mich doch daran, dass er ein kräftiger Mann gewesen war. Umso mehr wunderte ich mich über die Aussage meines Vaters.
„Er schrieb mir – neulich“, begann mein Vater plötzlich, als hätte er meine Gedanken gehört: „Anscheinend war es der Regen gewesen. Der künstliche natürlich – der aus den Wassersprinklern. Durch den Wind und die Nässe, denen er ausgesetzt war … -“, er räusperte sich: „- das vertrug sein Körper nicht. Sklavenarbeit!, hab ich ihm gesagt, sei das, Sklavenarbeit! Du kennst sie ja, die Plantagen in Amerika – die mit den Negern – so etwas.“
Inzwischen wanderte das Nussvolk an uns vorüber und wir bogen von der Straße auf einen Schotterweg ab. Demnach mussten wir gleich angekommen sein.
„Jetzt schmerzen ihn die Gelenke oder Glieder – was weiß ich – er schreibt, er kann sich kaum noch rühren – jedenfalls. Starr ihn ja nicht an! Hörst du?“
„Ja, Vater“, antwortete ich ihm, als wir ausstiegen.
Wir kamen durch ein Tor in den großen Garten meines Onkels mit glattrasiertem Rasen und in Form geschnittenen Büschen. Man hätte meinen können, es wären hunderte Gärtner am Werk gewesen, so zahm wie die Natur auf diesem Grundstück war. Während ich noch über den Garten staunte, und das Knirschen des Kieses auf dem angelegten Weg meinen Schritt begleitete, rief ein Mann von Weitem: „Bruder!“
Ich sah zum Haus, das in der Sonne blitzend weiß erstrahlte, und entdeckte meinen Onkel auf der Veranda in einer Hängeschaukel sitzend. Als wir herankamen, begrüßten sich die beiden Männer und mein Vater stellte mich seinem Bruder vor: „Vielleicht kannst du dich nicht mehr erinnern: mein Sohn“, präsentierte er mich und schob mich vor sich hin.
„Es ist lange her“, antwortete sein Bruder, während er mich musterte: „Du bist gewachsen.“
Und vor mir saß ein Mann, von dem ich schon so viel erfahren hatte, dass ich eine genaue Vorstellung besaß, doch dieser Mann da vor mir, der erfüllte sie nicht. Was ich sah, war ein Mann in den besten Jahren seines Lebens, doch sein Körper war bereits müde und erschlafft, wie bei einem Greis.
Schwerfällig hoben sich seine Arme für eine Umarmung, dabei schien er aber glücklich. Der Schmerz kam nachher und löste sich in Form eines Aufstöhnens.
Mein Vater ignorierte die Qualen, unter denen sein Bruder litt, und sagte stattdessen: „Was für einen schönen Garten du hast.“ Dabei wandte er seinen Blick gewählt um und betrachtete zufrieden das Grundstück, als gehörte es ihm.
„Nicht wahr?“, antwortete sein Bruder.
„Hat es dich von der Plantage in die eigenen vier Wände getrieben?“
„Meine Frau ist wohl dafür verantwortlich. Da ich die Arbeit auf der Nussplantage beenden musste, wegen meiner … Man überließ mir das Haus und den Garten. Meine Frau -“, er lächelte: „- sie versucht, alles auf Vordermann zu bringen.“
Da fragte mein Vater, wo seine Frau denn sei.
„Meine Frau?“, wiederholte mein Onkel und meinte, dass sie in der Stadt unterwegs sei, um einzukaufen. „Vielleicht werdet ihr sie noch erwischen.“
„Das wäre schön“, antwortete mein Vater knapp.
„Wenn ihr wollt, können wir auch hineingehen.“
„Nein, nein“, blockierte mein Vater: „Wir werden ohnehin nicht so lange bleiben.“
Sie unterhielten sich weiter, als hätten sie einander nichts zu sagen. Später redete mein Vater über die Arbeit: „Du weißt, wie wichtig meine Arbeit ist“, bekräftigte er.
Mein Onkel hatte bloß genickt, denn es war ihm schwer zu reden. Ein anderer hätte vielleicht gemeint, es wäre ihm leid gewesen, sich mit meinem Vater im seichten Hin und Her zu unterhalten, aber ich erkannte genau, dass wir vor uns einen körperlich gebrochenen Mann sitzen hatten. Es schmerzte mich, und so verlor ich das Gespräch, bis mir irgendwann klar wurde, dass sie aufgehört hatten zu sprechen.
Es war das Ende unseres Besuches, und tatsächlich, erst zum gewissenhaften Schluss fragte mein Vater, als sich sein Bruder erhoben hatte, um für den Abschied vor ihn zu treten. „Wie geht es dir?“
Mein Onkel hatte ihn bloß angesehen, und erst nach einigen Momenten diese Frage mit einer knappen Antwort gewürdigt.
„Dann wünsche ich dir gute Genesung“, sagte mein Vater etwas verunsichert in seinem rechten Sinne: „Denn die Gesundheit ist das Wichtigste im Leben.“
Der Weg durch den Garten schien zurück deutlich länger zu sein, so die Autofahrt. Vielleicht lag es daran, dass mein Geist zutiefst zerrüttet durch die Zeichnung meines Vaters war.
Doch ich war sein Sohn, und mein Vater war stets im Recht.
Wie froh bin ich heute noch, dass ich zurückgerannt bin. Kurz vor dem Gartentor war ich einfach umgekehrt und war noch einmal zu meinem Onkel gelaufen, um ihm zu danken. Dafür, was er mich gelehrt hatte.
Denn dem letzten Satz meines Vaters war er mit einem „Nein“ entgegengetreten.
„Nein“, hatte er geantwortet und ihn umarmt: „Das Wichtigste im Leben ist die Zufriedenheit.“
Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com
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