Titellos
Das Dorf, von dem ich erzählen möchte, ist kein besonderes.
Man könnte es sogar als „ein wenig verschlafen“ bezeichnen, eingeschneit im Wandel der Zeit. Aber ich möchte weniger über das Dorf an sich berichten, sondern vielmehr über die Kinder, die darin lebten. Es handelt sich dabei um ganz gewöhnliche Kinder, die vormittags in die Schule gingen und sich nachmittags draußen auf dem Dorfplatz versammelten, um miteinander zu spielen.
Die Geschichte begann an einem 1. Advent, als die Schulglocken läuteten und die Kinder aus ihren Klassenräumen stürmten, um draußen zu spielen, wie sie es jedes Mal taten. Der erste Schnee fiel vom Himmel herab und küsste sacht die Wangen der Kinder, dass diese rot wurden, während das Lachen derselben den Platz mit einer herzlichen Wärme erfüllte.
Alles war wie immer.
Scheinbar …
Sie alle hatten es im ersten Moment gar nicht bemerkt, weder die aufmerksamen noch die unaufmerksamen, doch stand da wahrhaftig – mitten auf dem Dorfplatz – ein Klavier, schwarz und einsam im sanften Schneegestöber. In seinem weißen Umfeld, erschien es den Kindern einem dunklen Auge gleich. Ein Auge, das sie unheimlich anstarrte, womöglich mit bösen Absichten.
Keines der Kinder wagte es, näher heranzutreten – unruhiges Gemurmel ging umher, Gewisper und Geflüster.
Da trat ein kleiner Junge hinter dem Klavier hervor. Seine Haare waren schwarz wie das Holz des Instruments, seine Haut weiß wie die Tasten. Er trug einen pelzigen Mantel, der bis hin auf den Boden fiel, und irgendetwas – so wirkte es auf die Kinder – schien ihn mit dem dunklen Auge zu verbinden. Tatsächlich setzte er sich auf den Hocker davor und begann zu spielen …
Zuerst langsam. Einzelne Noten – winzig und leise. Doch als sodann die kleinen Finger zu den tieferen Tasten liefen, brauste ein klingendklängend Sturm jedweder Töne aus dem Inneren des Klaviers – eine Melodie, abstrakt und ungestüm.
Die Kinder ringsum fürchteten sich vor dem, was sie da hörten und sahen. Sie beschlossen daher, den fremden Jungen und sein schwarzes Monster in Ruhe zu lassen, und sich wieder dem eigenen Spiel zu widmen.
Der Tag verstrich rasch und die Nacht zog über das Dorf. Die Kinder verabschiedeten sich voneinander und gingen nach Hause – der unheimliche Junge klappte den Deckel über seine Tasten und ging dorthin, wohin niemand wusste. Vielleicht sollte der Spuk am darauffolgenden Tag ein Ende haben und alles so sein wie immer …
Am nächsten Morgen jedoch stand das Klavier an derselben Stelle und, nachdem die Kinder aus der Schule kamen, saß auch der unheimliche Junge wieder dort und spielte seine Melodie.
Heute hörte man sie friedfertiger.
Dennoch ließen die Kinder den Jungen in seiner grotesken Welt allein und spielten ihr Spiel in der eigenen.
So verwehte die Zeit des Advents, ein Tag glich dem anderen, keine Veränderung zog einher …
Und dann war es endlich soweit: Die Sonne, am Morgen des 24. Dezembers, stieg empor, und die Kinder eilten auf den Dorfplatz, um die Zeit bis zu Heilig Abend ein letztes Mal miteinander zu verbringen. Heute war schon keine Schule mehr und darum – so erklärten es sich die Kinder – saß auch noch niemand beim schwarzen Klavier in ihrer Mitte.
Vormittags war der unheimliche Junge nie da gewesen.
Sie spielten, so herzhaft wie niemals zuvor, während Schnee von den seidenen Wolken herabfiel und das schwarze Klavier mit einer dünnen Schicht überzuckerte.
Dann, als die Kirchenglocken zur Mittagsstunde läuteten und die Kinder normalerweise Schulschluss hätten, horchten alle auf.
Und es begegnete ihnen die Stille. Eiskalte Stille.
Unschlüssig hörten die Kinder auf zu spielen und blickten hinüber zum Klavier. Doch kein kleiner Junge saß dort und spielte seine Melodie. Das dunkle Auge, das gar nicht mehr so dunkel schien, stand einsam und verlassen da, und sein Blick war traurig.
Zumindest empfanden es die Kinder so. Sie alle schwiegen, befangen und beschämt.
Da trat eines aus ihren Reihen hervor und näherte sich dem Instrument. Die anderen zögerten zuerst, aber nach ein paar verstrichenen Augenblicken folgten einige, und gleich darauf alle, bis jedes Kind um das Klavier herum stand. Nach wie vor sagte niemand etwas. Und niemand getraute sich, eine der verschneiten Tasten niederzudrücken.
Tränen glitzerten, der Schnee fiel unaufhörlich, aber die Melodie kehrte nicht zurück.
Denn der Junge war fort.
Da löste sich aus der Erinnerung ein Funken, der zu einem gewaltigen Feuer könnte auflodern, ein kleiner Funken, der große Hoffnung in sich barg.
Die Hoffnung, dass der Junge nächstes Jahr wieder kam, um seine Melodie auf dem schwarzen Klavier zu spielen, und alles so war wie immer …
Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com
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