Von Münze und Zigarre III
Die Donau ruhte wie eine große, weiße Schlange in der Stadt, dieselbe entzweiend.
An ihren Ufern stand ein Junge mit einer Zigarre im Mund. Schwer hing sie ihm zwischen den Lippen, die streng er zusammenzwickte (dabei auch sein rechtes Auge unwillkürlich zugedrückt war). Seinen Blick setzte er auf der gegenüberliegenden Seite aus. Dazwischen: Fluten silberner Strömungen, die all den Schmutz hinab gen Süden und irgendwann weiter gen Osten spülten – irgendwohin.
Bäh, entkam es dem Jungen mit der Matrosenmütze auf einmal und erlöste seinen angespannten Mund von der durch seinen angesammelten Speichel befeuchteten Zigarre. Eigentlich bräuchte ich Feuer, meinte er zu sich selbst und überlegte, woher er welches bekommen könnte. Vor ein paar Monaten wäre das noch kein Problem gewesen, erinnerte er sich und spähte weiter hinüber.
Eine Brücke verband die beiden Seiten der Stadt miteinander. Sie hatte die schwere Zeit der letzten Jahre überdauert – als eine der letzten.
Ein kleines Mädchen mit einer Fliegerkappe am Kopf überquerte gerade dieselbe. Von dem Friedhof seiner Eltern zurückkehrend, war ihm der Junge mit der Matrosenmütze schon von weitem aufgefallen. Als es losgegangen war, hatte der Junge noch nicht dort gestanden.
Wie eine Statue kam er ihm vor, aber als der Blick desselben den seinen traf, entstand eine zweite Verbindung zwischen den beiden Ufern des reißenden Stroms.
Neugierde wurde geweckt.
Und so kam es, dass sich das Mädchen mit der Fliegerkappe und der Junge mit der Matrosenmütze begegneten …
„Was machst du da?“, fragte das Mädchen mit der Fliegerkappe.
„Ich sehe hinüber“, antwortete der Junge mit der Matrosenmütze, ohne sich ablenken zu lassen.
„Und warum tust du das?“, fragte das Mädchen weiter.
Der Junge überlegte kurz, wunderte sich, weshalb ihn die Sonne auf einmal so blendete und erwiderte: „Ich weiß auch nicht.“ Dann hob er erneut die Zigarre an, und steckte sie sich in den Mundwinkel. Abermals verzog diese Geste sein halbes Gesicht.
Das Mädchen kicherte: „Was ist das denn?“, erkundigte es sich.
„Luxus“, meinte der Junge.
Daraufhin beäugte das Mädchen die Zigarre genau und, nachdem es mit dem Prüfen fertig war, entgegnete es: „Wirklich? Ich glaube nicht, dass das Luxus ist“, – jetzt hob es seine Silbermünze hoch und demonstrierte sie stolz – :„Das ist Luxus!“
Da wandte der Junge mit der Matrosenmütze endlich seinen Blick vom gegenüberliegenden Ufer ab und musterte das Dargebotene: „Und wenn schon“, erwiderte er, seinen Neid unterdrückend, während er die abermals zu schwer gewordene Zigarre aus dem Mund nahm. „Dann ist sie eben alles andere.“
„Alles andere?“, fragte das Mädchen erstaunt wie verwirrt: „Was bedeutet das?“
„Weißt du, dass du nervst?“, reagierte der Junge und warf seinen Blick erneut hinüber: „Sie ist bloß kein Luxus, weil ich kein Feuer habe.“
„Feuer?“, wiederholte das Mädchen mit der Fliegerkappe sich wundernd: „Feuer ist gefährlich“, resignierte es, da es ihn an den Tod seiner Eltern erinnerte. „Ich habe Feuer!“, fiel dem Mädchen da ein, woraufhin es seine Streichholzschachtel hochhielt, entzückt.
Der Junge traute seinen Augen kaum.
„Damit kann man Feuer machen!“, freute das Mädchen mit der Fliegerkappe sich.
„Ich weiß!“, sagte der Junge mit der Matrosenmütze: „Gib sie mir!“, verlangte er.
„Aber die habe ich mir verdient“, verteidigte sich das Mädchen und hielt die Streichholzschachtel schützend an seine Brust: „Ich musste dafür arbeiten.“
„Und für die Münze nicht?“, konterte der Junge.
Das Mädchen aber schüttelte den Kopf: „Die gab’s geschenkt.“
„Wie-auch-immer“, meinte er: „Gibst du sie mir jetzt, oder nicht?“
Das Mädchen überlegte.
„Wenigstens ein Streichholz?“, versuchte es der Junge.
Sein Gegenüber lächelte und nickte schließlich.
Immerhin hatte es ja sieben in seinem Besitz.
Nachdem das Mädchen mit der Fliegerkappe dem Jungen mit der Matrosenmütze eines der sieben Streichhölzer geschenkt hatte und denselben nach wiederholtem Hin und Her dasselbe auch an der Schachtel entzünden ließ, hielt der Junge das brennende Streichholz selbstsicher an seine Zigarre, die wieder in seinem Mund steckte. Kurz glühte das Ende, dann erstarb das rote Leuchten abrupt, gleichzeitig erlosch auch das Streichholz.
„Hat es funktioniert?“, wollte das Mädchen mit der Fliegerkappe, das den gesamten Vorgang gespannt mitverfolgt hatte, wissen.
Der Junge besah die Zigarre, drehte und wendete sie, und kam rasch zu dem Schluss, dass es nicht funktioniert hatte. „Gib mir noch eins“, erwiderte er nur.
Das Mädchen jedoch verzog das Gesicht: „Nein“, entgegnete es: „Du hattest schon eines!“
„Na und? Das hat eben nicht funktioniert. Ich brauche ein anderes“, erklärte ihm der Junge und griff nach dem Mädchen. Dasselbe wich mit einem entschlossenen „Nein!“ zurück.
Der Junge resignierte, wandte sich ab, dachte nach. Irgendwann meinte er: „Aber deine Streichhölzer sind ohne meine Zigarre nutzlos.“
Das Mädchen musterte ihn forsch: „Aber deine Zigarre ist ebenso nutzlos ohne meine Streichhölzer“, konterte es.
„Richtig. Lass‘ uns also um das Eine wie um das Andere spielen“, schlug der Junge listig vor.
„Und wie?“, wollte das Mädchen wissen.
„Ganz einfach. Du besitzt doch diese Münze“, sagte der Junge und wies auf dieselbe in der Hand des Mädchens hin: „Wir werfen sie und wetten. Kopf oder Zahl. Der Gewinner erhält den Besitz des anderen.“
Das Mädchen erwog das Risiko. Schließlich meinte es: „Und meine Münze?“
„Die interessiert mich nicht“, erwiderte der Junge schlicht.
Und damit waren sie beide einverstanden.
Die Besitztümer wurden weggesteckt, die Silbermünze blieb das Einzige in der Kinder Hände.
„Ich möchte werfen“, wandte der Junge mit der Matrosenmütze zuletzt ein.
„Nimm sie mir aber nicht weg“, entgegnete das Mädchen mit der Fliegerkappe, und überreichte die Münze.
„Nun gut“, läutete der Junge das Ritual ein: „Ich werfe, du sagst an. Kopf oder Zahl?“
„Kopf“, entschied sich das Mädchen mit der Fliegerkappe aufgeregt.
Die Donau rauschte – der Junge warf.
Elegant hatte er sie mit seinem Daumen hochgeschnippt – die Technik war ihm von seinem Großvater bekannt gewesen – nun drehte und drehte sich der Silberling in der Luft wie ehemals das Riesenrad im Prater oder die Schallplatte im Keller der Franzosen. Gebannt folgten die Blicke der beiden Kinder seinen Weg hinauf und wieder hinunter, als der Junge mit der Matrosenmütze sie auf einmal schnappte und auf seinen Handrücken klatschte. Vorsichtig hob er die Hand, die Münze trat hervor ins Licht …
Das Ergebnis lautete: Zahl.
„Hab‘ ich gewonnen?“, erkundigte sich das Mädchen gespannt.
„Nein“, erwiderte der Junge: „Deine Wahl war Kopf. Damit ist meine automatisch Zahl“, erklärte er: „Ich habe gewonnen“, endete er stolz: „Deine Streichhölzer gehören mir.“
Das Mädchen mit der Fliegerkappe begegnete dem Jungen mit der Matrosenmütze mit einem bösen Blick: „Das ist nicht fair“, sagte es beleidigt: „Sie gehören doch mir.“
„Jetzt nicht mehr“, bestimmte der Junge: „Du hast sie in einem fairen Spiel verloren.“
„Das war kein Spiel, sondern Zufall“, jammerte das Mädchen und holte widerwillig die Streichholzschachtel hervor.
„Zufall ist fair“, erläuterte der Junge bloß.
„Zufall ist Chaos!“
„Chaos ist fair.“
Das Mädchen sah mit Tränen in den Augen auf die Stadt hin, die blind ihren Blick erwiderte. Dann reichte es dem Jungen mit der Matrosenmütze die Streichholzschachtel, die gerne und hastig entgegengenommen wurde.
„Jetzt ist Zeit für Luxus“, freute sich der Junge, die kühle Luft der Donau aktiv einatmend. Erst nach einigen Augenblicken des Verweilens, kehrte er sich ein letztes Mal zu dem Mädchen mit der Fliegerkappe um, um ihm zu sagen, dass es fortgehen solle, da es nun störe.
„Luxus ist das sicherlich nicht“, schniefte daraufhin das Mädchen.
„Das ist mir egal“, erwiderte der Junge mit der Matrosenmütze nur.
Und das Mädchen, in Tränen ausbrechend, lief davon.
Wohin das Mädchen mit der Fliegerkappe jetzt auch lief, ein wahres Entkommen vor dem Kreislauf der Dinge schien mit jedem weiterem Schritt unmöglicher zu werden.
Die Szene endete.
Zuletzt bloß verzog sich das ruhige Gesicht des Zurückgebliebenen unter der Matrosenmütze zu einem Lächeln. Denn in des Jungen Hand befand sich immer noch die Silbermünze.
Das Mädchen mit der Fliegerkappe hatte sie einfach vergessen, oder sie war ihm nicht mehr wichtig gewesen.
Triumphierend zückte er nun eines der verbliebenen sechs Streichhölzer aus der gewonnen Schachtel, bereit einen weiteren Versuch zum Entfachen der Zigarre zu wagen, und griff in seine Tasche, um dieselbe hervorzuholen.
Die große, weiße Schlange vor ihm züngelte harsch, denn zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass die Zigarre fort war.
Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com
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