Von Münze und Zigarre IV

Wien war nicht auf sieben Hügeln erbaut worden.

Der Junge mit der Matrosenmütze wusste das allerdings nicht.

Wahrscheinlich hatte er auch noch nie darüber nachgedacht.

Ihm schien lediglich bewusst zu sein, dass die Stadt die Stadt war und er Teil einer Skizze, die er nicht überblickte. Es lag nicht an der Größe seines Körpers oder der seines Geistes …; wenn er das also verstanden hatte, bedeutete das schon viel. Weshalb die Dinge nun so waren oder ob es andere Dinge gab, die diese wiederum hätten ändern können, interessierte ihn nicht. Diese Straßen, jene im Hier und Jetzt; wo? – na im Dort und Da! – hießen ihn >Willkommen<, da gewohnt des Kindes Augen an ihren Anblick, und im Sonnenuntergang hatte es sogar etwas Romantisches so zwischen all den toten Gebäuden verlorener Ideen.

Der Junge mit der Matrosenmütze schleppte sich missmutig nach Hause. Der Tag hatte ihm Aufstieg und Fall beschert, unglücklicherweise auch in dieser Reihenfolge.

Die ihm geschenkte Zigarre: gestohlen!

Gestohlen von einem Mädchen mit einer Fliegerkappe auf dem Kopf. Der Junge schämte sich so sehr! Der Streichhölzer hatte er sich entledigt. Im hohen Bogen geworfen, hatte sie die weiße Schlange Wiens gefressen. Nur ein kleines Plätschern hatte die Schachtel von sich gegeben, die zuvor so große Wellen geschlagen.

Die Silbermünze hingegen hielt er immer noch in seiner Hand.

Manchmal spielte er mit seinen Fingern damit, ließ sie dahin- und darübergleiten, manchmal musterte er sie einfach. Wie wertlos sie ihm erschien im Gegensatz zu seiner Zigarre.

Wertvoller mag einem immer das erscheinen, was man nicht besitzt.

Wenn er nur gewusst hätte, dass er mit dieser Münze fünf derselben Zigarren beim richtigen Anbieter hätte kaufen können …

Aber er war nur ein Junge – mit einer Matrosenmütze auf dem Kopf.

Was konnte er schon wissen?

Auf seinem Weg begegnete er einem alten Bettler, der dort bei der Kirche sein Plätzchen (sowie später vermutlich auch sein Grab) hatte. Ausdruckslos beäugten sie einander, der eine so im Dasitzen, der andere so im Vorübergehen.

Einer der beiden warf dem Anderen eine Silbermünze hin.

Da nimm, dachte derselbe, ohne je einen weiteren Gedanken an das silberne Tauschmittel zu verlieren. Die Geschichte war für ihn beendet.

Wien lag im Schatten seiner selbst. Die Sonne benetzte nur mehr die Gipfel der höchsten Gebäude mit ihrem dünnen Licht, alles darunter füllte sich langsam, aber stetig mit Dunkelheit.

Vorbei am einsamen Reiterdenkmal des Heldenplatzes, den ehemals so schönen Gärten und berühmten Museen, trieb es den Jungen in Richtung Schönbrunn, wo einst die Affen laut durch die Nächte geschrien hatten, anstelle deren Toben nun ein stummes Loch klaffte, das jegliche Geräusche in seiner Umgebung verschluckte.

Lediglich die eigenen Schritte folgten den Klängen der nächsten …

Zumindest zu Beginn. Denn irgendwann spuckte das schwarze Loch einen Schatten aus, in Gestalt eines Fremden, der auflauernd auf jemanden zu warten schien. Im Zwielicht vermochte der Junge mit der Matrosenmütze das Gesicht desselben nicht auszumachen; – aus Angst verlangsamte er stetig sein Tempo.

Irgendwann blieb er deswegen sogar stehen.

Die beiden Figuren betrachteten einander, jener stumm, jener gebannt. „Lassen Sie mich in Ruhe“, sprach der Junge zögerlich, doch mutig.

Der Fremde lächelte.

Daraufhin wich der Junge ein Stück zurück. Wohin konnte dieser Tag noch führen? Der Fremde antwortete mit einer entgegenkommenden Bewegung, wobei er etwas an der Wand entlangschabte – kurz durchzuckten Funken die Finsternis! – und dasselbe Etwas fing wie durch Zauberhand an zu rauchen.

Es handelte sich um eine Zigarre.

Der Fremde hatte sie sich tatsächlich ohne Streichhölzer entzündet. Genüsslich paffte dieser nun, blies eine große Rauchschwade in die Richtung des Jungen mit der Matrosenmütze, schmunzelte.

„Genuss“, sprach der Fremde leidenschaftlich. Dem Akzent nach war er ein Russe. „Das ist Genuss“, wiederholte derselbe und demonstrierte vielsagend die rauchende Zigarre als wäre sie ein Schatz. Es folgten ein weiterer Zug, Rauch – der Fremde hob ab, um zwischen fernen Sphären zu schweben – ein gelassenes Lächeln  …

„Probiere einen Zug!“, bot er dem Jungen mit der Matrosenmütze an: „Hier, Bursche, nimm!“, versuchte er: „Nimm und lerne“, und der Bursche nahm.

Unsicher hielt er sie in den Händen. Seine Finger schienen auch zu klein für das große rauchende … Ding. Irgendwie roch sie komisch. Der Junge verzog das Gesicht und der Russe musste lachen. Daraufhin nahm sich der Junge mit der Matrosenmütze zusammen.

„Kein Genuss für kleinen Mann?“, fragte noch der Russe, als der kleine Mann die Zigarre ansetzte und tatsächlich an dem rauchenden Rohr zog, bis ihm die Ohren rot wurden.

Der Russe verstummte – der Junge hustete und prustete.

Trotzdem zog er ein zweites und drittes Mal an dem rauchenden Ding. Fürsorglich klopfte ihm der Russe währenddessen auf den Rücken, als gelte es hier etwas Wichtiges zu gewinnen oder zu beweisen.

Insgesamt betrachtet waren es aber nur ein Russe und ein Junge mit einer Matrosenmütze auf dem Kopf, rauchend im nächtlichen Wien; ähnlich einer väterlichen Szene in etwa.

Hätte sie jemand gesehen, hätte man sich vielleicht gewundert. Vielleicht wäre man aber auch einfach nur an ihnen vorbeigegangen, sie keines zweiten Blickes würdigend.

Wer weiß das schon?

Es ging ja niemand vorbei.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

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