Die Klavierstunde
Der Kalender zeigt Dezember neunzehnhundertdreiundsechzig. Ein Freitag, wieder einmal. Immer wieder ein Freitag, an dem man, gut verschnürt, mit Schal und Wintermantel, die Tasche unter den Arm geklemmt, losmarschiert, in Richtung Musikschule. Die magische Uhrzeit, in der man seine Stunde eingeteilt bekommen hat, lautete, man musste sie wiederholen, Freidoch umma drei, also, Freitag, fünfzehn Uhr. Um diese Zeit läuten immer die Kirchenglocken und erinnern an die Leiden Jesu. So auch an diesem Freitag.
Aus der fernen Stadt hat s i e offensichtlich ohne größere Schwierigkeiten hierher gefunden. Auf einem Motorroller. Ein Puch hundertfünfundzwanzig, in vergilbtem Grasgrün, am Gepäckträger ein Reservereifen befestigt. Hatte was, das Ding da hinten drauf. War ein echter Hingucker für den Buben. Drei Jahre später sollte sie ihn gegen ein VW-Cabrio tauschen, in Silbergrau, mit schwarzem Verdeck. Toll! So eines hatte man von Matchbox, in Miniatur. S i e ist jedenfalls die Klavierlehrerin, und gleichzeitig auch die Leiterin der Musikschule des Ortes. Blond, vollschlank, Mitte vierzig, mit Brille und einem seltsamen Dialekt. Sie verlangt den Oswes (den Ausweis) von einem, ehe die Unterrichtsstunde beginnt. Man kriegt einen Stempel und einen Krakel hinein. Meist in Rot. Rot ist keine wirklich willkommene Farbe, besonders wenn es sich um Schulisches handelt, das weiß man bereits. Sie sagt ooch (sic!) anstatt auch, und neen (sic!), wenn sie nein meint. Aber man gewöhnt sich daran.
Die Musikschule ist im Westflügel jener Schule untergebracht, von der bereits die Rede war. In diesem Teil des Gebäudes befinden sich auch einige Dienstwohnungen, in welcher nicht nur sie, sondern auch jener Lehrer, der lieber Politiker sein wollte, ihre Bleibe haben. Der Politikus hat Familie. Sie lebt allein. Interessant für alle in der Gemeinde.
Der Weg in die Musikschule dauert normalerweise zehn Minuten, wenn man nicht trödelt. Weil aber die Angst vor der Klavierstunde derart groß ist, nimmt man einen Zickzack-Kurs durch die Straßen, der einen zunächst über eine Brücke führt. Unter dieser Brücke fließt ein Bach, und der führt Hochwasser, wegen der spontanen Schneeschmelze, und das Anfang Dezember. Das Wasser ist braun und zeigt viele Strudel, die die Fantasie anregen, wie es denn so wäre, wenn man von einem erfasst und hinuntergezogen würde, in die Tiefe. Zahllose Albträume bearbeiten dieses Thema schon längst und führen immer wieder zum selben Schluss, man fällt in diese braune Brühe und ersäuft jämmerlich. Danach erwacht man schweißgebadet, holt erst mal Luft und schläft dann beruhigt weiter. Es ist ja nur ein Traum. Nebenan schnarchen die Eltern. Alles in Ordnung.
Wenn man also diese Brücke passiert hat, kommt man an einer Buchhandlung vorbei, faszinierendstes Geschäft im Ort. Zumindest in dem Alter. Gleich in der ersten Auslage ist eine elektrische Spielzeugeisenbahn aufgebaut, mit Tunnels und so, und wenn man Glück hat, ist sie eingeschaltet. Dann fahren zwei Züge, meist eine grüne E-Lok und eine Dampflok auf zwei Gleisen durch zwei mit grüner Rasenstreu getarnte, felsenartig naturgetreu nachempfundene Tunnels aus Karton. Um dort alles genauestens zu inspizieren, benötigt man mindestens fünf Minuten, inklusive der Zeit, in der man sich vorstellt, selbst in einer dieser Lokomotiven zu sitzen, oder noch kühner, selbst eine solche Eisenbahn zu besitzen, was allerdings völlig ausgeschlossen ist. Nicht einmal dran denken, sagt der Vater immer. Oder er bläst seine Wangen auf, schlägt mit der Hand kurz drauf, sodass die Luft lautstark wie ein Furz durch den Mund hinausfährt, und sagt, dort fliegt sie.
Dann muss man aber weiter. Die Rathausuhr hat schon dreiviertel geschlagen. Jetzt kommt man an der Zuckerbäckerei vorbei. Dort liegen schon die roten Säckchen mit allerlei Naschzeug für den Nikolaus- und Krampustag bereit. Aus manch einem Säckchen ragt eine Weidenrute heraus, mit einem roten Samtmascherl drauf und einem samtgrünen Drahtteufelchen mit einem roten Gesicht und einem langen Schwanz. Das sind die interessanteren. So eines hätte man gern. Aber zum Zuckerbäcker geht man erst, nachdem die Folter mit dem Klavier vorbei ist und das junge Leben wieder Sinn macht.
Den langen Gang über den Hauptplatz begleiten einen bange Gedanken. Die Hände werden feucht, der Mund trocknet aus, das Herz beginnt schneller zu schlagen. Was wird heute wieder sein? Was wird sie heute wieder sagen? Wird sie wieder herumbrüllen? Man hätte üben sollen, ja, sicher. Aber wegen der Spielzeugkiste, deren Inhalt wichtiger ist als das blöde Klavier, hat man es immer wieder vergessen, oder gerne vergessen wollen. Schule ist ohnehin schon genug.
Das Schulhaus ist schon in Sicht. Jesus Christus hat für uns gelitten. Und dieses Leiden beginnt nicht erst am Kreuz von Golgatha.
Lieber Gott, lass diese Stunde an einem vorübergehen, und warum lässt du das zu?, betet man inständig, und gib, dass der Zuckerbäcker heute nicht wieder dieselben Katzensäcke mit demselben Inhalt hat, von dem man ohnehin schon alles doppelt und dreifach besitzt. Den roten Kreisel mit der blauen Spitze, die Plastikarmbanduhr mit den drei Kügelchen drinnen, die man in die Löcher kriegen muss, und die Gummischleuder aus Kunststoff, die immer gleich bricht, wenn man den Gummi zu stark spannt und eben sonst so alles.
Und dann steht man unweigerlich vor den Treppen, die zur Garderobe führen und steigt diese mit mulmigem Gefühl im Bauch nach oben.
Ob der gefährliche Schulwart, der unberechenbare, irgendwo auf den Gängen ist, und kontrolliert, ob man die Hausschuhe anhat? Manchmal wirft er mit dem Besen, dem großen, breiten und man muss schnell die Stiegen hinauflaufen, sonst erwischt er einen und man fängt eine Ohrfeige. Geschafft! Er ist noch im Turnsaal beschäftigt, man hört das Geklapper seines Besens und der Mistschaufel.
Heilige Jungfrau Maria, lass nie den dritten Stock kommen! Man riecht schon den Zigarettenrauch. Immer, wenn einer gerade Klavier spielt, macht sie eine Zigarettenpause auf dem Flur und sagt, übe gefälligst, ich höre alles. Dann kommt sie nach zehn Minuten wieder in das kleine Zimmer mit der schrecklichen Topfpflanze, die mit ihren Blättern den gesamten Raum vereinnahmt wie ein Riesenkrake. Es ist ein Fikus oder so ähnlich, den sie mehr liebt als alles andere, und während man spielt, zupft sie immer die alten Blätter ab und spielt bei den neuen Geburtshelfer, indem sie sie aus ihrem Blätterkokon herausschält. Genau, den liebt sie mehr als ihre Klavierschüler, bis auf eine vielleicht, oder zwei, weil die so toll spielen, und ihre selbstgeknüpften Teppiche, die liebt sie auch.
Und manchmal bleibt sie eine Viertelstunde weg, um eine Reihe zu knüpfen, oben, in ihrer Wohnung und man muss üben, bis sie wiederkommt. Und dann schimpft sie ohnehin nur. Und die Frau Klavierlehrerin riecht schrecklich nach Zigarettenrauch und Alkohol, weil sie draußen auf dem Gang so viel raucht und auch immer Schokoladenbonbons, die mit Schnaps gefüllt sind, isst.
Ihre Finger sind runzelig und gelb, und sie stinken nach Tschik. So sagt zumindest die Schwester immer, die, die immer alles weiß und selber so toll ist, und die viel besser Klavier spielt als man selbst, und neben der man immer schlechter dasteht und die einem oftmals eine knallt, wenn man ihr auf die Nerven geht und zu ihr sagt, du Duttelsau. In der Wut, versteht sich, weil man neidisch ist auf sie und weil man das irgendwo aufgeschnappt hat. Der Vater hat gelacht und die Mutter auch. Also kann es nicht so schlimm gewesen sein, denkt man. Aber sie, die Schwester, versteht keinen Spaß, und man kriegt zwei ordentliche Watschn dafür, wenn man nicht aufpasst. Einmal nimmt man ihr eine Erdbeere weg und isst sie schnell, ehe sie sie einem wieder wegnehmen kann. Daraufhin setzt es eine Watschn, infolge der man mit der Nase auf die Tischkante stößt und sich die Nase bricht. Alles ist voll Blut und man kriegt geschimpft, nicht sie, weil man so sekkant ist und einem da eben leicht die Hand ausrutscht. Seit dieser Zeit ist sie leicht verbogen, die Nase.
Aber jetzt weiß man immerhin auch, was ein Tschik ist. Auf einem Finger trägt die Klavierlehrerin einen goldenen Dukaten zu einem Ring verarbeitet, so mit Verzierungen, wie ein Geländer rundherum.
Schließlich steht man endlich vor dieser verdammten Tür. Aber das Kindervokabularium kennt diesen Ausdruck noch nicht. Und wenn, dann nur vom Religionsunterricht und dass es was ist, was man nicht sagen darf. Denn die Verdammten sind die in der Hölle, sagt der Kaplan immer. Dessen ist man sich aber gar nicht mehr so sicher. Durch die Türe hört man das Geklimper eines ihrer Schüler. Plötzlich hört man von drinnen schreien: Fis!, und man zuckt vor Schreck zusammen.
Wird es bei einem selbst auch bald so weit kommen? Die Knie werden weich. Aber man muss jetzt endlich klopfen, denn es ist bereits Punkt drei auf der Ganguhr. Herrrein!, brüllt sie und es hört sich an, als sei man nicht willkommen. Das Herz ist nicht mehr zu beruhigen. Eine zittrige, feuchte Hand bemüht sich, die Klinke der Türe zu drücken, sie vorsichtig zu öffnen, um sich, so lautlos und unauffällig wie möglich, in die Folterkammer zu zwängen.
Die Schülerin drinnen, hochrot im Gesicht, atmet erleichtert auf. Die ersehnte Ablöse ist da. Man würde alles geben, um an ihrer Stelle zu sein, auch sein bestes Rennauto. Aber Mädchen machen sich nichts aus Rennautos, höchstens aus Puppen, heißt es. Der Schülerwechsel geht formlos vonstatten. Nun sitzt man auf dem verhassten schwarzen Folterstockerl. Herunter, zu hoch! Die Klavierlehrerin schraubt ihn missmutig herunter. So, jetzt, aufsitzen. Den Oswes. Da, bitte. Das Hausübungsheftchen! Hier. So, die Tonleiter. Was für eine Tonleiter? Na die, die sie aufgeschrieben hat. Wo steht das? Da oben. D-Dur. Wie geht die?
Zaghafter Beginn, wie das denn so gehen könnte. Fis, du Trottel! Noch einmal von vorn. Mit den zittrigen Fingern, den feuchten, geht das gar nicht so einfach. Sie schlägt einem die Hände von den Tasten. Schreibt etwas ins Heft. Nichts Gutes, wird vermutet. Etwas, damit der Vater wieder was zum Meckern hat. Dann die Etüde. Czerny, Vorschule der Geläufigkeit. Beiläufigkeit, ätzt die Schwester, die blöde, immer, weil sie älter ist und gescheiter, und immer alles besser kann. Weiter als drei Takte sind nicht drin.
Da schmeißt sie den Klavierdeckel auf die kleinen Finger. Autsch! Tränen trüben das Notenbild. Der Deckel wird wieder geöffnet. So, jetzt übst du das, du Faultier!, schreit sie, zündet sich eine Zigarette an und geht auf den Gang hinaus. Ich höre alles, ruft sie noch von draußen herein. Jetzt erst rinnen die Tränen so richtig fett und kugelig über die Wangen.
Die Mutter weiß von alldem nichts und ist weit weg. Vielleicht gerade einkaufen? Hoffentlich vergisst sie die Bensdorp-Schokolade nicht, die blaue? Also dann, Note für Note wird heruntergespult bis – was ist das für ein Ton? Hoffnungslos sucht man in der Umgebung dieser Note eine ähnliche, die man vielleicht schon einmal gespielt hat und jetzt nur nicht gleich erkennt? Aber es findet sich keine. Nochmal von vorne. Doch vor der großen unbekannten Zweischlagnote ist wieder Endstation.
E!, schallt es von draußen herein, E wie Esel! Die Tränen hängen wieder tief. Fehlt nicht viel, sie zu wecken. Wie lange wird es noch dauern, bis man wieder vor seiner Spielkiste sitzen darf? Man muss doch noch den einen Kran fertig bauen. Der Metallbaukasten ist ein sinnvolles Spielzeug für dieses Alter, sagt der Vater. Alles muss immer sinnvoll sein. Klavierspielen ist nicht sinnvoll.
Jetzt setzt sie sich neben einen und zählt laut mit. Ens, zwe, dre! Doch der verflixte Ton an dieser Stelle lässt sich nicht bezwingen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu erklingen. Sitz gerade! Die kantige Ecke eines hölzernen Lineals fährt einem unsanft in den Rücken. Man schnellt empor in die Idealstellung und verharrt in dieser Position, ohne erneut zu wagen, wieder in sich zusammenzusinken und einen Katzenbuckel zu machen.
Mist!, sagt sie, das ist lauter Mist. Was ist mit der Sonatine? Was soll schon mit der Sonatine sein? Her mit dem Heft. Seite fünf muss das gewesen sein, die Seite, die ohnehin schon so vollgeschmiert ist mit ihren Kugelschreiberhinweisen, Vorzeichen, lauter, leise, cis, du Trottel und so weiter, dass man die Noten kaum mehr sieht.
Aber aus Clementis Sonatine wird leider nichts. Noch einmal von vorne.
Jetzt steigen die Tränen wieder in die Augen, bis man erblindet. So geht es noch weniger.
Die Klavierlehrerin nimmt das Sonatinenalbum und schlägt es einem mit derben Händen unsanft auf den Kopf. Schoo, dass d‘ rooskommst, damit ich dich nicht länger sehen muss!, schreit sie hysterisch und wirft das Heft hinterher, das sich im Flug in seine einzelnen Seiten aufzulösen beginnt.
Man darf das alles aber nicht zu Hause erzählen, sonst schimpfen wieder alle mit einem und das Aufgabenheftchen mit den grauslichen Bemerkungen kann man auch irgendwo verstecken. Dann hat man zumindest eine Woche lang Ruhe. Und eine Woche ist schon eine kleine Ewigkeit.
Der Schulwart rumort jetzt im Obergeschoß, aber man ist schon draußen aus dem verhassten Bau und eilt in der kalten Luft, befreit im Herzen, dass die Folter nun für dieses Mal vorüber ist, über den Hauptplatz, dem einzigen positiven Ziel des Tages entgegen, der Konditorei, mit ihren Schaumspitzen, Kaugummis, Katzensäcken, Kokosstangerln und Akim- und Tibor-Heftchen, die der Vater zu besitzen strengstens verboten hat, denn er ist auch der Direktor der Volksschule und nimmt jedem solche Heftchen ab, wenn er eines erwischt, denn es sei Schund, sagt er.
Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung
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