Es war erst gestern
Ich bin in eine frostige Zeit hineingeboren worden. Es war ein großartiger Tag! Oder etwa nicht? An jenem Sonntag meiner sehnsüchtig erwarteten Geburt war es überwiegend stark bewölkt, und das bei weiterer Neigung zu mehr oder weniger starken Schneefällen im Laufe des Tages. Die Temperaturen lagen zwischen minus zehn und minus fünfzehn Grad. Kein ideales Klima zum Ankommen! Gegen vier Uhr vierzig durfte ich das diffuse Licht dieser Welt erblicken, wenn der Bericht jenes Krankenhauses stimmt, in dem der Geburtsschein ausgestellt wurde. Um sieben Uhr sechsundzwanzig hätte man hingegen den Sonnenaufgang beobachten können, wäre es nicht total bewölkt gewesen.
Sie, die Sonne, hatte also an diesem Tage nicht viel zu tun und war bereits um sechzehn Uhr einundfünfzig wieder hinter dem Horizont verschwunden. Zurückgelassen hatte sie eine klirrend kalte Nacht, eine erschöpfte Mutter und ein quäkendes Bündel. Und während die einen den Kampf um die Ausrottung der Kinderlähmung fortsetzen, gewinnen andere einen internationalen Klavierwettbewerb, etwa der junge Friedrich Gulda in Genf und der Grazer Alfred Brendel in Wien.
Im Volkstheater gibt man ein Stück von Sean O’Casey, symbolistische Abrechnung mit dem Krieg und seinen Schuldigen, in der wieder einmal der liebe Gott als Urheber allen Übels herhalten muss, ohne sich dagegen wehren zu können. Aber erstaunlicherweise kippt die Stimmung, und der Dichter kommt letztendlich zu dem Schluss, es wäre doch die Menschheit selbst, die für ihren selbstinszenierten Jammer verantwortlich ist. Im Kino kann man Gary Cooper in „Schiffbruch der Seelen“ sehen. Diese Welt ist ein Narrenhaus. Und ich bin in sie hineingeboren.
Und während ich den ersten Tag meines Lebens hinter mich brachte, amüsierte sich, laut Medienberichten, Ernst Happel (ein bekannter Fußballer, nach dem ein Stadion in Wien benannt ist) als „Wassermann“ in Montevideo bei dreißig Grad im Schatten, was ihn dazu veranlasst hatte, in die kühlenden Fluten des nahe gelegenen Meeresstrandes zu tauchen. Mich hat man vermutlich die nächsten Tage in einer alten verzinkten Blechbadewanne gesäubert, in der Dienstwohnung meines Vaters, mit „fließend“ Kaltwasser.
Damit scheint meine Frage an mich, was kann schon großartig an diesem Tag passiert sein, für mich beantwortet. Ach ja, und dass ich geboren worden bin eben.
Man hat mich von Anfang auf darauf aufmerksam gemacht, stets an die Freuden des Lebens zu denken, die es in meinem Leben ja irgendwann einmal auch gegeben haben muss, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Aber – wenn ich darüber genauer nachdenke, bestanden solche grundsätzlich aus sehr kurzen Momenten. Etwa sonntags, wenn man endlich einmal die neuen Schuhe anziehen durfte, die zwar steif waren und überall gedrückt, aber wunderbar geglänzt haben. Man musste höllisch darauf aufpassen, dass sie an der Spitze vorne nicht gleich abgestoßen wurden. Diesen Zustand hat der Herr Papa mit Argusaugen beobachtet und wehe, wenn man die Beine nicht entsprechend gehoben hat – dann war ein Donnerwetter fällig. Man könne nicht jeden Tag so etwas kaufen und andere wären auch noch da, die immer Schuhe brauchen und so weiter. Die Freude am neuen Schuhwerk war also begrenzt aber immerhin latent vorhanden. Ähnlich verhielt es sich mit dem Vergnügen an dem neuen Anzüglein, in das man gesteckt wurde, ausschließlich am Sonntag, versteht sich, dessen Sakkoärmel immer etwas zu lang waren, damit das Ding in weiser Voraussicht möglichst auch noch die nächsten Jahre passte.
Da kam dann ja auch irgendwann einmal unweigerlich der erste Schultag. Spannend, ja, durchaus. Freude hat er jedoch nicht hinterlassen. Das Drama begann damit, dass jeder zur „Feier des Tages“ ein Bild zur Ansicht vor sich liegen hatte. Darauf war ein Zug abgebildet. Vorne die Lok, dann folgten drei Waggons. Die Frage lautete, wo ist die Mitte dieses Zuges? Bereits hier zeigte sich eine bereits ausgeprägte Kompliziertheit individueller Gedankengänge, indem ich die Lok in meine Berechnungen mit einbezog und daher das ganze Gefährt rein hypothetisch als eine untrennbare Einheit betrachtete. Demnach also lag die Mitte des Zuges für mich nicht im zweiten Waggon, was angeblich logisch gewesen wäre, wie ich hinterher erfuhr, nein, sondern exakt zwischen zweitem und drittem Waggon. In der Mitte des Zuges, hatte es geheißen. Es lagen also, meiner Vermutung zufolge, links von der Mitte die Lok und der erste Waggon, rechts von der Mitte die zwei anderen Waggons.
Denkste! So wäre das nicht gemeint, hatte die Frau Lehrerin milde lächelnd gemeint und flugs mit ihrem Rotstift – Rotstift!, der sollte damit für alle Zukunft unser aller ständiges Disziplinierstäbchen sein, den mittleren der drei Waggons gekennzeichnet. Verdammt! So summierte sich langsam aber stetig Enttäuschung um Enttäuschung, und genau von da an habe ich diesen Verein schon gehasst. Freude war es also nicht, was ich bis dahin und von da an empfand.
Nach vier langweiligen Jahren kam man in die nächste Anstalt. Die Begeisterung darüber war nicht sonderlich gewachsen. Die einzelnen Gegenstände wurden mehr, und schwieriger. Die Aufgaben komplizierter und mengenmäßig unverschämter. Die Zeit zum Träumen und Spielen immer kürzer. Ich selber wurde größer und pubertärer. Zeitgleich mit diesem Phänomen entwickelten sich die eigenen Probleme ungehindert direkt proportional zur Körpergröße. So weit, so gut. Doch da! Unerwartet und unaufhaltsam, erreichte urplötzlich (diese Wortneuschöpfung gab es zu dieser Zeit noch nicht) eine neue Volkskultur in Gestalt unzivilisiert anglophiler Rockmusik inklusive dazugehöriger Modefummel das darüber zutiefst verstörte Vater- und Mutterland, welche die Vorstellungen gelebter Ordnung bislang relativ problemlos miteinander kommunizierender Generationen ziemlich ins Wanken brachte. Erzkonservativen Funkbetreibern zum Trotz drangen diese krankhaften Auswüchse jugendlichen Irreseins via röhrenbetriebener Empfangsgeräte quasi unaufhaltsam bis in die hintersten Winkel bis dato wohlausgestatteter und -bewachter Jugendzimmer.
Plakativ und höchst anschaulich unterstützt durch die periodische Muss-unbedingt-haben–Fandruckschrift „Bravo“, die die singenden oder Gitarre zupfenden Musikgöttinnen und -götter in für deren Konsumenten viel zu langen Abständen darin abkonterfeiten und lebensgroß, zum Ausschneiden und An-die-Wand-Hängen, ablieferte und dadurch bislang normierten Vorbildgalerien absolut den letzten Wind aus den Segeln nahm. In demselben offiziellen Sprachrohr, welches die herkömmliche Musikgeschichte völlig über den Haufen zu werfen drohte, fand sich ebenso die Ikonografie irrer Klamotten im Kanon außergewöhnlicher Jeansmode, Hosen also, mit im unteren Beinbereich unvorstellbar flatternd flügelartig erweiterten Endröhren mit eingelegter Doppelfalte und Kettchen dran, bunt unterlegt, bis hin zu Miniröcken, die in ihrer unglaublichen Kürze den vor lüsternen Blicken stets geschützten Bereich intimen „Darunters“ absolut durch nichts mehr zu verheimlichen vermochten. Tja, und dann waren da noch die Songs, um die es eigentlich in der Hauptsache ging, mit ebenso bemerkenswerten Texten wie etwa:
Die kommt einfach daher, so bunt. Ein bunter Vogel. Egal, wo sie hingeht. Die ist echt bunt. Ein Regenbogen. Ja, wie ein Regenbogen. Sie fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Wenn sie hier ist, bleiben Farben in der Luft. Farben, überall. So kommt sie daher. In allen Farben einfach. Sie ist – wie ein Regenbogen, ja, wie ein Regenbogen.
Hast du sie je in Blau gesehen? Schau dir den Himmel an da vorne, und ihr Gesicht, weiß wie Segeltuch, so fahl und blass. Hast du je eine Frau gesehen, die schöner war als sie?
Und in Gold? Hast du sie einmal in Gold gesehen? Wie eine Prinzessin aus dem Märchen, was? Nach allen Seiten strahlt sie ihre Farbenpracht aus, wie die untergehende Sonne. Jetzt sag´ schon, hast du je eine schönere Frau gesehen?
Oder den hier:
Mach dir keine Sorgen darüber, was sein wird, meine Güte. Ich hab keinen Stress, echt, bin nicht in Eile. Ich kann mir jede Zeit der Welt nehmen, Baby. Bin ich jetzt rot geworden? Meine Zunge wird immer schwerer. Ich bin außer mir und krieg einen trockenen Mund. Aber ich bin echt high, Wahnsinn, und immer wieder versuch ich´s, dir zu sagen, bleiben wir die Nacht zusammen, ja? Ich brauche dich. Ich brauche dich mehr als je zuvor. Verbringen wir die Nacht zusammen, jetzt gleich, ok?
Ich fühl´ mich so gut, wow, ich kann´s nicht verbergen, Baby, kein Scheiß. Enttäusch mich jetzt nicht, ok? Lass mich nicht hängen. Was könnten wir für Spaß haben, wenn wir´s ganz einfach treiben, drunter und drüber, was sagst du? Verbringen wir die Nacht zusammen. Ich brauch dich, mehr als je zuvor. Bleiben wir die Nacht über zusammen, jetzt gleich. Komm, lass uns die Nacht zusammen verbringen, Baby, jetzt.
Ich mein, das passiert mir ja nicht jeden Tag, Baby, lass uns die Nacht zusammen verbringen, komm, keine Ausreden, ja? Ich erfülle dir jeden Wunsch, alles, was du dir je erträumt hast, Baby. Und jetzt bin ich mir sicher, du willst mich auch glücklich machen. Oh Baby! Wir wollen die Nacht zusammen sein, ja? Lass uns die Nacht zusammen sein, Baby, jetzt, ganz einfach zusammen sein. Ich brauch dich. Ich brauch dich mehr als je zuvor. Ich mach alles, was du willst. Und ich weiß, das willst du auch für mich tun. Bleiben wir die Nacht zusammen, von jetzt an, Liebes. Ich brauche dich, mehr, als du denkst. Ich will dir alles geben, und du willst mir alles geben.
Oder diesen:
Ich kann einfach keine Befriedigung finden und ich versuch´s und versuch´s, und versuch´s und versuch´s, ich find einfach keine. Egal, wenn ich mit meinem Wagen fahre und dieser Typ im Radio mir mein Hirn zuknallt mit all seinem unnötigen Info-Scheiß, der meine Fantasie anregen soll, das gibt mir nichts.
Wenn ich vor meinem Fernseher sitze und dieser Typ dann kommt und mir erzählt, wie weiß meine Hemden sein könnten, so einer kann doch kein richtiger Kerl sein, der raucht ja nicht mal die gleiche Zigarettenmarke wie ich. Das alles gibt mir nichts.
Ich kann einfach keine Befriedigung finden. Kein Mädchen schenkt mir Beachtung. Da kann ich machen, was ich will, ich finde ganz einfach keine. Wenn ich um die ganze Welt fahre, hier was mache und dort was anstelle, oder versuche, irgendein Mädchen aufzureißen, und wenn die dann sagt, Baby, komm vielleicht nächste Woche noch mal wieder.
Dann siehst du, ich hab ganz einfach Pech. Ich kann einfach keine Befriedigung finden.
Das gibt mir alles nichts, ich sag´s euch, das gibt mir alles nichts. Ich kann keine Befriedigung finden und ich versuch´s, ich versuch´s, ich versuch´s und ich versuch´s. Ich find einfach keine.
Und noch einen:
Heut hab ich sie an der Rezeption gesehen, mit einem Glas Wein in der Hand und ich wusste, sie würde sich mit ihrem Typen treffen, und – zu ihren Füßen einer, der sie anbetet. Aber du kannst ganz einfach nicht immer kriegen, was du willst. Du kannst nicht immer kriegen, was du gerade willst. Du kannst es nicht kriegen. Aber wenn du dich anstrengst, kriegst du manchmal, was du brauchst.
Ich ging zur Apotheke runter, um dein Rezept einzulösen. Dort stand ich in der Schlange mit Jimmy, und, Mann, sah der kaputt aus und ich sage, du kannst nicht immer das kriegen, was du willst. Du kannst nicht immer kriegen, was du willst. Echt, du kannst nicht immer das kriegen, was du gerade willst.
Und genau so war´s. Zumindest der letzte Refrain hat mir direkt aus dem Herzen gesprochen und – wenn ich ehrlich bin, haben wir alle nicht so richtig mitgekriegt, worum es in den Texten eigentlich ging. Hauptsache war, die Musik war laut und schrill. Es war eben unsere, auch meine Musik, die mir niemand streitig machen konnte. Der strenge Papa war schwer zu bewegen, eine dieser verrückten „Glockenhosen“ für den unwürdigen Sohn zu erwerben, so eine, wie sie eben jetzt die Popstars trugen, und ebenjener Sohn regte sich auch noch auf, weil er sich überdies seit Neuestem strikt dagegen wehrte, endlich einmal zum Frisör zu gehen. Lange Haare, kurzer Verstand und ähnliche Sprüche musste so einer über sich ergehen lassen.
Ja, es war in der Tat ein Martyrium! Ausschließlich durch die inständige Intervention der gütigen Mutter, die meinte, der Dingsda, Sohn aus bestem Hause und allgemein anerkanntes Vorbild, hätte auch schon eine, konnte er dazu bewegt werden, dafür endlich einige Scheine locker zu machen, damit man nicht zum Außenseiter verdammt würde. Jedoch, auch wenn schon aus den Radios und über die Plattenspieler andauernd der lautstarke Ruf nach „Satisfaction“ erklang, geschlechtsspezifische Angelegenheiten wurden mehr oder weniger mit den Klassenkameraden auf dem Schulhof ab- oder aufgeklärt. Aufgeklärt wurde man offiziell nicht, man hatte ja vom Herrn Kaplan ein kleines Büchlein bekommen, mit einem blassen sommersprossigen Bürschlein auf der Titelseite drauf, welches schuldbeladen die blauen Äugelein senkte, in dessen kümmerlichen bildlosen vierzig Seiten bloß andauernd von Selbstbefleckung die Rede war. Und davon, dass man ein Bursch zu sein hätte. Ein Held. Schon wieder. Vorbildlich, und vor allem korrekt zu den Mädchen.
Und obwohl die Heldenfriedhöfe noch vom letzten Krieg übervoll waren, hörten sie nicht auf, diesen Helden immer wieder in einem zu fordern. Doch die neuen Helden sahen anders aus. Und sie waren anders. Sie hatten lange Haare, T-Shirts und enge Hosen an, und hielten sich an einer E-Gitarre fest. Die alten Helden schienen tot. So ein neuer Held wollte man schon lieber werden. Und erst als man am eigenen Leibe, durch Zufall wohl, erfahren hatte, was es mit der Selbstbefleckung auf sich hatte, begann man zu verstehen, um welches Thema es sich eigentlich handelte, wenn Erwachsene in Anwesenheit Jugendlicher plötzlich leiser zu sprechen begann, kicherten und tuschelten. Dann war, wie man im Laufe der Zeit herausbekam, oftmals die Rede davon, was in mehr oder weniger milden Nächten so alles hinter vorgezogenen Gardinen abging.
In anderen Kulturen werden die jungen Männer und Frauen zumindest in Form eines Fruchtbarkeitsfestes in die Geheimnisse des Menschseins, des Mann- und Frau-Seins eingeführt. Uns drückte man ein Büchlein in die Hand, das wohl den frommen Wunsch des guten Gelingens implizierte. Wie der Akt der Fortpflanzung in der näheren Umgebung tatsächlich abgelaufen sein könnte, ist grundsätzlich unvorstellbar und nicht nachvollziehbar. Die meisten von uns haben das alles nur als unnötigen Ballast, über den man nicht spricht, empfunden und wahrgenommen, und es bedurfte unserer ganzen Improvisationskunst, aus dieser unnatürlichen Situation im Laufe der Jahre eine natürliche werden zu lassen.
Norbert Johannes Prenner
(bearbeiteter) Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung
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