Stammtischgebet
So einen kleinen Knick, den haben wir schon verkraftet, damals. Kleine Delle gekriegt, der Aufschwung, die Konjunktur und alles. Wegen dem Bisschen Öl und so. Aber sonst – nein, da sind wir die Alten geblieben, nicht? Kein Problem! Da gab’s noch Tauschhandel, Schwarzmarkt und so. Mein Gott! Aber dann – immer bergauf, haben wir gesagt, nicht? Und alles hat man sagen können, nicht? Und was ist jetzt? Jetzt sitzen sie wieder da an allen Ecken und strecken die Hände aus, nicht? Haben wir nicht geschuftet vierzig Jahre lang? Jetzt wollen die da alles geschenkt! Vielleicht gar unsre Wohnungen, nicht? Unsere Autos? Unsere Frauen, nicht? Sind ja alles Männer, die da kommen. Beinahe jedenfalls, nicht?
Wohin mit denen, fragt man sich? Geht ihnen ja gut bei uns. Warum auch nicht? Sind alle voll, unserer Regale. Volle Schüsseln, nicht? Was haben wir denn schon gehabt, danach, damals? Nichts! Aber jetzt – sollen wir wieder alles hergeben, wegen denen? Schon einmal sind welche gekommen, als Gäste, hat man gesagt, nicht? Nur nicht so zahlreich. Zum Arbeiten. Damals hat’s wenigstens noch Arbeit gegeben, nicht? Aber heut’? Und jetzt die hier? Wo soll man denn die hin? Stehen bloß rum. Warten auf Zuwendungen, nicht? Übersiedler waren das damals, aber immerhin. Hatten was drauf! Zumindest Muskelschmalz, nicht?
Aber die hier? Was kann denn so einer schon können, muss man sich fragen, nicht? Kann der was? Weiß der, was das heißt, zupacken, nicht? Is’ ja alles industrialisiert worden seither. Und da waren wir, nicht? Wir haben das alles großgezogen. Ohne uns wäre das alles nichts geworden, nicht? Jeder hatte da seinen Käfer, nicht? Manche schon einen Mercedes oder so. Modernste Technologien, nicht? Wettbewerbsfähige Forschung und Entwicklung, nicht? Zehnprozentwachstum, nicht?
Und heute? Was is’ heute? Nichts! Wird alles in die da reingebuttert, nicht? Tja, ein Wunder war’s, sagt man heute, ein Wunder, nicht? Und was ist jetzt? Na? Ein blaues Wunder! Wir erleben grad’ unser blaues Wunder. Direkt aus’m US- Standard ins Nichts katapultiert. Nur sagen darf man nichts.
Was woll’n die überhaupt hier? Was stell’n die sich vor? Vielleicht auch noch Vollbeschäftigung, wie? Wie soll das gehen, wenn überall abgebaut wird, nicht? Überall diese Computer? Wer braucht uns denn noch? Wir sind ja alle Auslaufmodelle sind wir, nicht?
Und überhaupt, pfh!, Landwirtschaft – wo gibt’s denn heut’ noch Landwirtschaft? Könnten ja in der Landwirtschaft arbeiten, die da. Aber’s gibt ja keine mehr! Alles künstlich. Wird ja alles künstlich hergestellt, nicht? Strukturwandel ist das. Und Dienstleistungen? Was sollen die sonst machen?
Die versteht ja keiner. Wer versteht denn die, nicht? Ach früher, Gotteswillen, war ja kein Malheur, mal eine kleine Rezession so zwischendurch. Aber jetzt? Jetzt? Jetzt is’ nur mehr Rezession, nicht? Was kriegst’n du heute für dein Geld? Nix! Oder? Damals hatten wir die Taschen voll, ums gute Geld, beim Einkauf. Aber heute? Unsere alten Leitbetriebe sind marod, nicht? Die meisten gibt’s gar nicht mehr.
Ja, Essensbuden, die schießen aus dem Boden wie die Pilze! Die brauchen wir! Wer braucht die, nicht? Alles von überall her. Nix Bodenständiges, nicht? Nur sagen darf man nichts.
Der soziale Frieden, hat es immer geheißen. Was ist mit dem heute? Der ist hin, nicht? Unsere Staatsunternehmen, nicht? Alles hin. Weg! Verramscht, nicht? Dein Paket musst du dir neuerdings vom Nachbarn abholen, nicht? Da musst du Glück haben, wenn der überhaupt daheim ist. Und alles so teuer! Weltwirtschaftskrise ist das, nur sagt’s keiner, nicht? Vorkriegsboom ist das. Müssen froh sein, dass es überhaupt noch was gibt, nicht? Angebots- oder Nachfragekräfte! Lachhaft das alles, nicht? Nur sagen darf man nichts.
Flexibles Arbeitsangebot! Firmenpleiten! Wo du hinschaust, Pleiten! So sieht’s aus, nicht? Und da wollen die zu uns? Wissen die überhaupt, was hier läuft? Nein, das wissen die nicht! Und es sagt ihnen auch niemand. Ein paar machen dabei Sonntagsgesichter und reiben sich die Patschhändchen, wenn sie ein paar Löffel Suppe ausschenken dürfen, nicht? Dann haben sie schon ein reines Gewissen und können vor lauter Sozialsein gar nicht mehr gerade gehen, nicht? Aber die werden auch noch schön dreinschauen, wenn’s umkippt. Wenn die alle Hunger kriegen, und es gibt nichts mehr, nicht? Dann heißt’s wieder: Löhne gering halten! Dann werden wieder soziale Bündnisse geschmiedet, zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften und den staatlichen Preiskontrolleuren, nicht? Dann werden wir bald wieder einen Marshallplan brauchen. Dann sind die vierzig glorreichen Jahre endgültig vorbei, nicht? Nur sagen darf man nichts.
Und unsere Jungen? Sollen die sich gar einschränken müssen wegen denen? Dürfen die jetzt keinen Spaß mehr haben? Nur, weil die keinen Spaß verstehen? Wir haben schließlich das kleinbürgerliche Leben endlich überwunden, nicht? Sollen die jetzt wegen denen von vorne anfangen? War das alles umsonst? Wir haben uns emanzipiert, nicht? Sollen wir uns jetzt wieder unterwerfen, wegen den paar da? Wollen die uns unseren Nonkonformismus madig machen, nicht? Uns unpatriotischen Umstürzlern vielleicht am Zeug flicken? Mit ihren Vorschriften etwa, nicht? Unsere geliebte bürgerliche Dekadenz unterwandern? Unsere kulturelle Zusammenhörigkeit unterbinden, nicht? Unsere Stammtische abschaffen und in Teestuben verlegen? Wollen die uns unsere sexuelle Revolution unter ihren Gebetsteppich kehren, nicht? Wollen die uns vielleicht noch unsere Musik verbieten und durch ihr Vierteltongewinsel ersetzen? Nur sagen darf man nichts.
Oder – sollen wir durch die vielleicht wieder zum Organisationsmenschen werden, nicht? Vielleicht wieder die grausige Einsamkeit des autonomen Einzelnen in einer entseelten Welt spielen, nicht? Jetzt, wo wir das alles mühsam überwunden haben? Wissen die überhaupt, was unkonventionell bedeutet? Wissen die, was kreativ sein heißt? Wissen die, was Gesellschaftskritik ist? Wissen die, wie es ist, seine eigene Meinung zu sagen, ohne gleich dafür ausgepeitscht zu werden? Soll das alles vergeblich gewesen sein, nicht? Sollen wir uns jetzt wegen denen wieder irgendeinem Willen unterwerfen? Sollen wir wegen denen wieder Regeln aufstellen müssen? Für alle Lebensbereiche, und stereotyp irgendwelche Strophen heruntermurmeln, nicht? Und nur wegen denen schon wieder einmal nicht sagen dürfen, was man sich denkt, wie damals, nicht? Und dann wieder das Dilemma, dass nicht alle gleich sind, nach sechzig Jahren Demokratie? Und müssen wir das wirklich ertragen, dass ein paar Fanatiker in dunklen Hinterzimmern planen, uns irgendwann an den Kragen zu gehen, während sie am Tage um Mietzinsbeihilfe Schlange stehen, nicht? Nur sagen darf man nichts.
Und sollen unsere Frauen vielleicht wieder schamhaft die Blicke zu Boden richten, wenn ein Mann sie ansieht, nicht? Und dass sie ihren Schmuck nicht herzeigen dürfen? Und sie sich in Tücher hüllen müssen, dumpfe Symbole der Rückständigkeit, des vorsätzlichen Belästigungsschutzes, nicht? Damit haben die ihre Frauen aus der Öffentlichkeit gerückt, hört man. Wollen wir das bei unseren Frauen hinnehmen? Nur sagen darf man nichts.
Und dass wir wochenlang am Tag nicht essen und trinken dürfen, nicht? Und das, bei unserer ausgeprägten Ess- und Trinkkultur, nicht? Und schließlich sind wir ein Weinland, nicht? Und woll’n die uns gar unseren Wein nehmen, nicht? Das wär ja noch schöner! Und wir werden denen schon zeigen, wo bei uns die andersrum Veranlagten hinkommen, nicht? In die Hölle nicht, aber auf die Fußgeherampeln! So schaut’s aus, nicht? Aber sagen darf man nichts. Und überhaupt – die können doch nicht einfach Dirndlkleid und Lederhose anziehen! Das wär fesch, nicht? Und mitpaschen dürfen sie auch nicht. Das dürfen ja wir aus dem Nachbarort schon nicht, nicht? Und unsere Lieder singen? Das sollen sie schon eigentlich gar nicht. Die haben das nicht zu können, nicht? Weil die – die wissen nicht einmal, wie man ein WC benützt. Weil die glauben, man muss auf die Klobrille steigen dabei. Solche sind das, nicht? Und Taschentücher – das kennen die gar nicht. Weil’s dort nur heiß ist, und man sich nicht schnäuzen muss. Und die sollen uns einmal erhalten? Nicht? Und wegen solchen wird das Fußballmatch abgesagt, und wir kriegen vielleicht sogar noch Ausgangssperre, nicht? Nur sagen darf man nichts.
Ihre Jungen, sagen die, die hätten ein Jugendproblem. Und dass sie anfällig wären, für Extreme, und was sie da alles anrichten. Das alles, das wäre nur ein Jugendstreich, nicht? Da danken wir schön! Und dass sie alle so empfindlich wären, sagen die, wenn man sie verarscht, nicht? Dabei schreien die gerade danach, verarscht zu werden, nicht? So ernst, wie sich die nehmen, nicht? Und dass sie keinen Spaß verstehen, nicht? Das sieht man! Aber die können nicht wissen, wie empfindlich wir sind, nicht? Meiner Seel’, was haben wir nicht schon alles ertragen müssen? Und? Haben wir uns dagegen gewehrt? Haben wir? Und noch dazu mit solchen Mitteln – gewehrt? Das hätten wir versuchen sollen, nicht? Nur sagen darf man nichts.
Und alles bloß, weil wir uns so postkolonial verhalten, ihnen gegenüber, nicht? Da muss einer sich ja in seine eigene Welt zurückziehen. Da muss sich einer ja in sein Schneckenhaus verkriechen. Nur sagen darf man nichts.
Aber wir pfeifen auf ihren Ehrenkodex und ihre Stammesregeln! Weil wir haben unsere eigenen Dingsda, nicht? Und überhaupt, alles wäre ohnehin nur ein humanitärer Imperativ gewesen, dass sie hätten kommen sollen, nicht? War alles nur ein PR-Gag. Aber dann – jetzt – ab jetzt wird wieder hingeschaut! Jetzt schauen die auch nicht mehr weg, die, die vorher dafür gewesen sind, nicht? So wie die, die nie dafür waren, und die ja auch immer hingeschaut haben, nicht? Jetzt heißt es Hand auf, und geschworen – für die Ewigkeit – und ob man da bleiben darf und ein guter Mensch werden will, oder nicht! Nicht? Nur sagen darf man nichts.
Und bei all dem, was da passiert, muss man bloß ruhig bleiben, sagen alle. Und sie hätten alles im Griff, sagen sie, nicht? Aber, sag ich, bei all dem, was da passiert – man traut sich ja bald nicht mehr aus dem Haus wegen denen – wenn da einer keine Angst kriegt, dann hat er keine Fantasie, nicht? Nur sagen darf man nichts! Prost!
Norbert Johannes Prenner
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