Der Streik
Es war ein Tag wie der andere. Dr. Erich Perner und der Redakteur Carl Hofbauer saßen bei Kaffee und Zeitung im Bräunerhof. Beide schienen sehr vertieft in ihre Blätter. Ab und zu hob einer den Kopf, um zufrieden in die Runde zu schauen, um vertrauten Gästen einen wohlwollenden Blick zuzuwerfen oder um eben nur ein paar Worte miteinander zu plaudern. Ober Franz war seine obligate politische Ansprache längst, unmittelbar bei deren Ankunft, losgeworden. Jetzt spähte er umsichtig im Lokal umher, immer darauf bedacht, etwaigen Wünschen seiner Gäste sofort nachzukommen. Gemessenen Schrittes, versteht sich, denn nichts war ihm so zuwider wie ein hudelnder Kellner.
„Ach ja“, seufzte Erich, „denen fällt auch nichts Neues ein“, und hoffte insgeheim, dass sein Gegenüber wenigstens nachfragen würde, was gemeint sei. Carl jedoch las unbeirrt in seiner „Tagespost“ weiter. Ein Geiger hatte neben der bildhübschen Pianistin Aufstellung genommen, breitete seine Noten am Pult aus, stimmte kurz und gab den Auftakt zu einem bezaubernden, dezent intonierten Operetten-Potpourri. Ja – Alt-Wien war eben Alt-Wien. Was sollte es denn sonst sein?
Die Musik vermittelte eine Stimmung wie in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Lediglich die Kleidung der Gäste und die der Musiker wären nicht ganz zeitgemäß gewesen. Schließlich dauerte die mangelnde Gesprächsbereitschaft seines Gegenübers offensichtlich auch Carl zu lange. „Was sagst du, Erich?“, fragte er so, als hätte er Erichs Worte nicht verstanden. Erich sah von seiner Zeitung auf. „Lateinamerikanische Komödien, mein ich.“ „Versteh nicht!“ Jetzt nahm sich Erich mehr Zeit. „Ich sagte, die jährlich spielplanmäßigen Operettenrevolutionen, Carl, und ihre ständigen Revolten gegen Diktatoren und die bewaffneten Konflikte werden mittlerweile bagatellisiert, findest du nicht?“
Carl dachte kurz nach „Weiß nicht“, brummte er. „Die Amerikaner mischen sich kaum mehr ein“, stellte Erich fest, beinahe enttäuscht, „da ist doch was faul dran. Castro hat vor zwanzig Jahren versucht, die US-Zuckerbarone zu enteignen. So einen Spuk hat man damals mit dreihundert Mann Infanterie bereinigt, aber wenn sich die Amerikaner heutzutage aufmucken trauen, stehen die Russen sofort Gewehr bei Fuß und Washington zieht den Schwanz ein. Blöd werden sie sein, sich in die kubanische Innenpolitik einzumischen, oder sich gar zwischen Nicaragua oder die Dominikanische Republik zu stellen, was?“
Aber Carl hatte nur Augen für die entzückende Pianistin und schien sich für Erichs Darstellung der Weltpolitik kaum zu interessieren. „Sie hat rehbraune Augen!“, raunte er Erich zu. Dieser richtete seinen Blick nach oben, verzog seine Mundwinkel, und nach einigem Kopfschütteln meinte er: „Siehst du dich auch hin und wieder in den Spiegel, Mann? Die ist zwanzig – höchstens!“ „Ekelhaft nüchterner Mensch! Schauen wird man ja wohl noch dürfen?“, protestierte Carl.
„Seit Castros Machtübernahme herrscht in Kuba nur mehr das Chaos“, begann Erich ein zweites Mal. „Kannst du das nicht mit dem Herrn Franz besprechen“, seufzte Carl selig und himmelte die Pianistin an. „Der Geiger ist virtuos, wirklich, aber sie…“, schwärmte er, und wandte sich nun doch Erich zu, um genauer nachzufragen. „Noch einmal, bitte! Was ist da unten los?“, fragte er Erich. „Ich sagte, auf Kuba herrscht das Chaos, total! Ein Haufen Arbeitslose, verwahrloste Plantagen, radikale Straßenszenarien – die berühmten Sozialrevolutionen – alles bloß Romantik! Der Castro bereitet, ohne es zu wissen, den Boden für die Kommunisten vor, und wenn die Amis nicht aufpassen mit ihrer Lateinamerika-Politik, wird die Volksdemokratie vor ihren Toren demnächst Wirklichkeit, würd ich sagen.“ Carl hatte sein Kinn auf eine Hand gestützt. „Ja, eh“, meinte er abwesend. „diese Fingerl! Dieses G’sichterl! Einfach süß.“
Tags darauf im Pressehaus in der Bankgasse. Aufgeregt erklärte Redakteur Willi Schiedl den Kollegen, wie man strategisch vorgehen wolle, und zwar nicht um jeden Preis ein neues Presserecht zu erkämpfen, sondern eines, das auf echter Demokratisierung bestehen sollte, proklamierte er eindrucksvoll im Plenum der Journalistengewerkschafter, was ihm auch einigen Applaus einbrachte. „Was wir brauchen“, rief er, „ist eine dringende Imageänderung, verehrte Anwesende! Es kann nicht sein, dass wir Presseleute von der Politik als potenzielle Staatsfeinde behandelt werden! Immerhin stellen wir in unserer unabhängigen Meinungsbildung eine ganz wesentliche Institution der Demokratie dar, vergessen wir das nicht! Und was uns der Minister vorgeschlagen hat, ist eine gewisse Selbstkontrolleinrichtung der Presse, die wir in Form eines Presserates verwirklichen sollten. Dazu gibt es mittlerweile ja bereits eine konstruktive Verhandlungsgrundlage. Es ist ein Komitee nominiert worden, welches heute wieder einmal mit den Herausgebern verhandeln soll. Wie man uns überdies mitgeteilt hat, ist die kommunistische Fraktion ziemlich sauer darüber, dass sie keine Vertretung hat und weder im Verband, noch im Presserat eine haben wird. Dazu möchte ich eigentlich nicht mehr sagen als das, denn das Problem spricht für sich selber!
Und nun, verehrte Kollegen, darf ich Sie ersuchen, mir in den oberen Sitzungsraum zu folgen, wo in Kürze die Verhandlungen beginnen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!“ Als der Applaus geendet hatte, strömte die träge Masse der Teilnehmer langsam hinauf in den dritten Stock, wo bereits ein Buffet hergerichtet worden war. Zuerst wurden kleine Brötchen gereicht, dazu gab es diverse Säfte, aber auch leichte alkoholische Getränke. Für die Pause stand Gulaschsuppe in großen Behältern auf Warmhalteplatten bereit.
Eine elektrische Klingel ertönte, erst einmal, dann noch einmal und schließlich ein drittes Mal. Die Doppeltüren zum Saal wurden geöffnet und die Journalisten eingelassen. Als jeder einen Sitzplatz gefunden hatte, nahmen die Verleger Kommerzialrat Grünewald, Diplomingenieur Weigelt, Dr. Straubinger und Fritz Faustmann auf der linken Seite des langen Tisches vor ihnen Platz, Willi Schiedl von der „Kleinen Österreichischen“, Peter Bauer vom „Tagblatt“ und Georg Winkler von der „Tagespresse“ auf der rechten Seite.
Es wurde langsam ruhig im Saal. Manfred Weigelt verlas die Tagesordnung und ging auf die Punkte ein, die man nun gemeinsam näher besprechen wollte. Willi Schiedl sollte die Standpunkte der Journalisten darlegen und durfte als erster Redner näher auf die Wünsche der Gewerkschafter eingehen.
Der nächste Sprecher war Fritz Faustmann vom Herausgeberverband. Beide Seiten tasteten vorsichtig ihre Positionen ab. Es kristallisierte sich jedoch bald heraus, dass die Herausgeber lediglich über Standesfragen und Urheberrechte diskutieren und von den Forderungen, etwa seitens der Journalistengewerkschaft nach höheren Löhnen, offensichtlich nichts wissen wollten. Die Journalistenseite reagierte verbittert und wollte die Herausgeber zu Verhandlungen darüber zwingen.
„Wir lassen uns nicht erpressen, meine Herren!“, rief Faustmann plötzlich, „Ihre Forderungen werden langsam aber sicher unverschämter denn je!“, und Grünewald, Weigelt und Straubinger riefen: „Nicht mit uns, meine Herren! Mit uns nicht!“ „Wir haben Ihnen längst signalisiert, dass diesbezüglich von Verhandlungen nie die Rede gewesen ist, das haben Sie wohl vergessen, wie?“, schrie Kommerzialrat Grünewald in den Saal und der sichtlich nervöse Dr. Straubinger fügte ein wenig gedämpfter hinzu: „Und wir weigern uns, solche auch nur in irgendeiner Form aufzunehmen, damit wir uns gleich verstehen!“
Aber auf Gewerkschaftsseite wollte man nicht verstehen. Kurzum, die Sitzung wurde abrupt beendet. Beide Seiten verließen beleidigt den Saal. Im Parterre scharten sich die Gremien um ihre Standesvertreter und diskutierten heftig, was nun zu tun sei. „Die glauben doch nicht, dass wir uns das so gefallen lassen!“, rief Peter Bauer vom „Tagblatt“ zornig. „Das muss endlich eine Aktion zur Folge haben, die sie nicht so schnell vergessen werden, Herrschaften!“, forderte Willi und die Kollegen gaben ihm sofort Recht. „Mit keinem Wort ist über die Vordienstzeiten gesprochen worden, das war doch ausgemacht, oder?“, fragte Georg Winkler. „Ausgemacht war gar nichts. Ich habe ja gar nicht mit ihnen vorher sprechen können, weil sie sich im Präsidialzimmer verbarrikadiert haben“, antwortete Willi und machte eine abfällige Handbewegung. „Was heißt hier Vordienstzeiten? Da wäre noch einiges auf den Tisch zu bringen gewesen!“, warf ein anderer ein, „die Neuberechnung der Grundgehälter zum Beispiel, oder, was ist jetzt mit der Erhöhung der Ausgleichszulage? Das ist mit keinem Wort bis jetzt auch nur erwähnt worden!“
„Genau!“, und „So eine Schweinerei!“, riefen einige. Vor den Türen gingen Saalordner auf und ab. Hochgradig nervös reagierten sie auf jedes lautere Wort, das hier unten gesprochen wurde und insgeheim wünschten sie, alle schon längst wieder draußen zu haben. Doch die Sektionsleiter benutzten die Gelegenheit der Anwesenheit aller, hier sofort ein Streikkomitee zu gründen, dem Journalisten aller Wiener Tageszeitungen angehören sollten. Und wenn es tatsächlich zu einem Streik kommen sollte, musste er von allen unterstützt werden, das war klar. Sogar die Sektion der Grafiker hatte sich solidarisch erklärt.
Am folgenden Tag versammelten sich die Gewerkschafter neuerlich in der Bankgasse. Diesmal wurden heiklere Punkte mit den Herausgebern angesprochen und – auch teilweise verhandelt. „Na also“, flüsterte Dr. Perner Carl Hofbauer zu, beide hatten in der letzten Reihe des Sitzungssaales Platz genommen, „es geht ja langsam!“
Und auch Kommerzialrat Grünewald atmete erleichtert auf, dass man sich ein wenig nähergekommen war und man seine Positionen trotzdem nicht völlig aus den Augen verloren hatte. Es war zwar nicht alles Wonne und Heiterkeit, doch niemand dachte heute mehr an Streik. Es kam also zur Abstimmung, in welcher der Herausgeberverband den verhandelten Punkten zustimmen sollte. Da neigte Grünewald seinen hochroten Kopf Faustmann zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Im Saal wurde es unruhig, denn die Journalisten hatten den Eindruck, als wollte Grünewald die Sache absichtlich verzögern. „Was ist jetzt? Macht endlich!“, raunte Willi Peter Bauer zu und spürte, wie seine Hände unbewusst die Aktenmappe umklammert hielten. Plötzlich stand Faustmann auf und sagte: „Meine Herren! Wir Herausgeber sind uns in einigen Punkten noch nicht so ganz einig. Wir ersuchen Sie daher, in unser aller Interesse, uns noch etwas Zeit zu geben, um in diesen Punkten noch beraten zu dürfen. Wir danken Ihnen!“, nahm seine Mitschriften unter den Arm, stand auf, mit ihm auch Grünewald, Straubinger und Weigelt, woraufhin die vier ganz einfach den Saal verließen.
Zurück blieb eine vorerst schweigende Menge völlig überrumpelter Journalisten. Dann brach eine Welle der Empörung los. „Die Herrschaften halten uns wohl für komplette Idioten!“, schrie Bauer in die Menge. „Es reicht! Das ist das Zeichen für den Ausstand!“, brüllte Winkler und hob die geballte Faust in die Höhe. Es mochte eine Weile gedauert haben, bis man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte. Willi Schiedl, der dazwischen kurz den Saal verlassen hatte, war zurückgekommen und versuchte, beide Arme hocherhoben, die Ruhe wiederherzustellen, was auch gelingen sollte. „Verehrte Kollegen“, rief er außer Atem, „Man versucht, von ungenannter Seite, hier eine Verzögerung eines etwaigen Streiks zu erreichen! Ich kann euch jetzt nicht sagen, von wem ich das erfahren habe. Tatsache ist …“ „Was soll denn das heißen? Wir sind die Gewerkschaft, zum Donnerwetter, und wir werden selber entscheiden, ob gestreikt wird oder nicht! Ich möchte wissen, wer sich da einmischen will!“, empörte sich Peter Bauer lautstark. Alle stimmten ihm zu.
Willi Schiedl geriet zunehmend in Bedrängnis. Hofbauer, Karner, Perner und Gruber von der „Kleinen Österreichischen“ bemerkten, in welch bedenkliche Situation sich ihr Willi da gebracht hatte. „Also, das war nicht sehr g’scheit von ihm“, sagte Carl besorgt zu Erich. „Warte, ich versteh nichts!“, unterbrach ihn dieser. Aber Willi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wartete ab, bis sich die Aufregung gelegt hatte. „Also gut“, sagte er schließlich, „der Faustmann hat mir im Vertrauen gesagt, nicht als Herausgebervertreter, möchte er betonen, quasi als Vermittler, unter Ehrenkodex ….“ „Die wollen uns ja nur mundtot machen, wann begreifst du das endlich?“, rief ein Vertreter der Sektion Drucker und Papier zornig. „Jetzt wart einmal, Kollege“, bat Willi ganz ruhig, „es – sie wollen darüber noch einmal intern darüber beraten, versteht ihr? Danach wird man uns informieren, wie sie sich endgültig entscheiden werden.“ „Na prima! Es bleibt also alles so, wie es war, oder täusche ich mich da?“, war zu hören und, „Wenn jetzt nicht bald was passiert, trete ich aus.“
Nun schien der Karren endgültig verfahren. Carl Hofbauer war inzwischen nach vorne gelaufen und nahm Willi an der Schulter. „Hör zu, machst du jetzt gemeinsame Sache mit dem Grünewald oder mit der Sektion? Pass auf, dass dir nicht die Felle davonschwimmen, mein Lieber! Sieh dich um, die mögen dich!“, fügte er grantig hinzu. „Aber was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Willi verzweifelt. „Streiken, du Narr! Worauf warten wir denn noch? Beschissen haben sie uns oft genug! Geht das bei dir da oben endlich hinein?“, reagierte Carl zornig und tippte mit seinem Zeigefinger auf Willis Stirn. Willi fuhr empört zurück. Die Umstehenden lachten. „Jetzt sei auch noch ein bisserl angerührt, du Mimose!“, schimpfte Carl, „tu was! Wozu hast du dich aufstellen lassen?“ Willi hatte verstanden. Wenn er jetzt nicht reagierte, wäre das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hatte, für immer verspielt.
Punkt zwölf legten alle Tageszeitungen die journalistische Arbeit nieder und verhinderten damit die Freitagsausgabe. Alle, bis auf eine Tiroler und eine Vorarlberger Zeitung, die sich rasch Hilfskräfte geholt hatten, um ihre Ausgabe trotz allem zu bringen. Ansonsten hielt man sich überall hundertprozentig an die Streikparole. Erstaunlich war auch, dass die Herausgeber erst gar nicht versuchten, die Angestellten zur Produktion zu zwingen. Auch die APA stand hinter der Gewerkschaft. „Nun gilt es, die Nachrichten an die Fernschreiber zu unterbinden!“, riet Carl Hofbauer umsichtig, „damit uns nicht ein paar Vorzugsschüler in den Rücken fallen! Ich kenne jemanden in der Agentur!“, sagte er verschmitzt und hob seine Brauen vielversprechend. Erich, der ihn genau beobachtet hatte, lachte höhnisch: „Da steckt doch ein Weib dahinter, gib’s zu! Wenn wir dich nicht so gut kennen würden. Wenn das die Erni erfährt, gibt’s was mit der Teigwalze!“
Trotz der ernsten Lage waren die Umstehenden leicht zu einem Lachen zu bewegen. Carl rannte die Treppen der Redaktion hinunter und hielt ein Taxi an. „Austria Presseagentur, aber rasch!“, rief er dem Fahrer zu. Dort angekommen, musste er erst mühsam den Portier davon überzeugen, dass er selbst Journalist und in einer dringenden Mission unterwegs sei. „Zur Frau Hahn will ich, hören Sie!“, sagte Carl. „Moment, na hallo hallo, bleiben S’ da, ich muss erst anrufen!“, hielt ihn der übereifrige Portier am Mantel fest. „Ach was, lassen S’ mich in Ruhe, Sie Wachter, Sie verkappter! Wir sind ja hier nicht beim Militär!“, schubste ihn Hofbauer zur Seite und lief zum Lift. „Bleiben Sie stehen!“, rief ihm der aufgeregte Portier nach, „Stehen bleiben, sag ich!“
Da fuhr Carl bereits in den fünften Stock hoch, rannte um die Ecke, schnurstracks zum Büro von Frau Hahn. „Herein!“, hörte er eine forsche Stimme und stand schon im Zimmer der Redakteurin Elfriede Hahn. „Ah da schau her, der Herr Hofbauer! Dass du dich wieder einmal anschauen lässt! Was ist? Ist jemand hinter dir her?“, fragte Frau Hahn lachend und schüttelte ihm die Hand. „Dieser Beamtenstaat ist irgendwann mein Ende, Elfi!“, keuchte Carl und küsste sie sanft auf die Wange. „Jetzt setz dich erst einmal hin, du bist ja völlig devastiert! Da schau, das Hemd hängt dir auch heraus, Carli, Carli! Du wirst langsam alt!“, stellte sie lächelnd fest. „Na ja, wenn man so einen Scheißberuf hat!“, antwortete Carl, noch immer außer Atem. „Aber, hör zu, euer Telefon…“
„Was ist damit?“, fragte sie. „Das müssen wir verhindern, ich mein, dass von hier aus telefoniert wird. Es gehen immer noch Nachrichten hinaus in die Redaktionen. Wo ist denn hier bei euch die zentrale Telefonzelle im Haus?“ „Unten, im ersten Stock.“ „Kann man die nicht – du weißt schon?“ „Könnte man schon. Aber den Schlüssel hat der Sekanina in Verwahrung. Den müsste ich erst organisieren“, lachte sie, „und ich bin mir ganz sicher, dass er ihn freiwillig nicht herausrückt!“ „Dann bitte organisiere, ja? Tu’s für den Verband, für die Kollegen, aber tu es, ich flehe dich an!“, bat Carl inständig. „Also gut, für die Allgemeinheit. Warte hier!“
Die Hahn stand auf und eilte hinüber ins Chefbüro. „Herr Doktor, wir haben ein Problem!“, sagte sie zum Abteilungsleiter. „Nun? Was gibt’s, liebe Frau Kollegin?“ „Wie Sie wissen, befinden sich sämtliche Zeitungen für unbestimmte Zeit im Ausstand. Ich brauche Sie ja nicht darauf hinweisen, dass sich die APA längst angeschlossen hat.“ „Nun ja, ich habe zugestimmt, wenn auch mit Vorbehalt“, sagte Doktor Sekanina zögernd. „Über unsere Telefonleitung werden aber immer noch Meldungen an die Redaktionen durchgegeben. Der Gewerkschaftsabgesandte ersucht, dies für die Dauer des Streiks zu unterbinden. Ich möchte Sie höflich ersuchen, im Namen aller selbstverständlich, dass das für die Dauer des Streiks so veranlasst wird!“
„Wie Sie sich das vorstellen, verehrte Frau Hahn. Wir sind nicht in allen Angelegenheiten eine geschlossene Gesellschaft, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ „Wir brauchen den Schlüssel für die Telefonzelle, Herr Doktor.“
Sekanina wand sich wie ein Wurm, begann herumzudrucksen und suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. Frau Hahn wusste, dass sich der Schlüssel wie immer an seinem Platz an Sekaninas Schlüsselbrett befand und hatte ihn längst schon im Visier. Ein Schritt, ein Griff – und der Schlüssel verschwand in ihrem Ausschnitt. „Das … das … also ich muss schon sehr, bitten, Frau Kollegin! So geht das nicht! Also wirklich! Glauben Sie nicht, dass das keine Folgen haben wird für Sie!“, rief Dr. Sekanina völlig aufgebracht. „Doch, das glaube ich, und – vielen Dank, Herr Doktor!“, sprach’s, und war auch schon draußen auf dem Flur.
Sie eilte über eine Nebenstiege hinauf in ihr Büro, wo Hofbauer sie schon ungeduldig erwartete. „Was ist?“, rief er ganz aufgeregt, „hast du ihn?“ Frau Hahn sah ihn spöttisch an und sagte: „Nerven haben wir keine mehr, Herr Redakteur, was?“, und lachte. „Natürlich hab ich ihn, und jede Menge Ärger auch, damit du’s nur weißt. Das wird Folgen haben für Sie!“, äffte sie Sekanina nach und verdrehte die Augen. „Aha! Na, Hauptsache, es kann nicht telefoniert werden“, atmete Carl erleichtert auf. Da läutete ihr Telefon. Sie hob ab, hielt die Muschel mit der Hand zu und flüsterte: „Der Sekanina, psst! Ja, Herr Doktor? Ich weiß Herr Doktor – aber besondere Umstände machen das erforderlich – auch dass man mich fristlos entlassen kann – ja Herr Doktor – bin mir völlig im Klaren darüber. Guten Tag, Herr Doktor!“
Sie legte auf und setzte sich erst einmal. „Zigarette?“, fragte sie Carl. „Ich doch nicht, danke! Höchsten eine Zigarre.“ „Da bist du falsch bei mir“, sagte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, tat sehr entspannt und rauchte in vollen Zügen. Nach einer kurzen Nachdenkpause sagte sie plötzlich: „Ich weiß nicht, ob das klug war, was wir da gemacht haben? Carl, wir müssen den Fernschreiber lahmlegen, sonst hilft das alles nichts!“ „Meinst du? Und wie?“, fragte Carl. „Komm mit, ich brauche einen starken Mann!“ „Und der steht hier vor dir!“, gab er sich selbstbewusst.
Die Hahn kicherte. Auf dem Weg ins Parterre überredete sie einen ortskundigen Mitarbeiter, ihnen bei der Umsetzung ihres Planes zu helfen. Dieser führte sie zur Anschlussstelle des zentralen Postkabels. „So, da ist es!“, sagte Herr Bauer. „Na, alsdann, worauf warten Sie?“, fragte Frau Hahn ungeduldig. „Sie haben leicht reden. Haben Sie so etwas schon einmal herausgezogen?“, fragte Bauer.
Carl musterte das dicke Kabel mit einigem Respekt. „Dann wollen wir einmal“, sagte Bauer. Zu dritt packten sie den ungemein großen Stecker und zogen und rüttelten mit aller Kraft, bis er endlich aus der Dose heraußen war. „Kinder, ich bin total erledigt!“, stöhnte Carl und hielt sich den schmerzenden Rücken.
„Carli! So kenn ich dich ja gar nicht!“, lachte Hahn schadenfroh, „erst mimst du den starken Mann, und jetzt?“
Herr Bauer schmunzelte, hielt sich jedoch dezent im Hintergrund. „Also, dann -Operation beendet!“, triumphierte Frau Hahn. Bauer sperrte die Türe wieder ab. „Elfi, ich muss weiter. Es war mir ein Volksfest. Wir hören voneinander, gell? Wiedersehen Herr Bauer, und – vielen Dank auch!“, verabschiedete sich Carl und küsste die Hahn kurz auf die Wange.
„Bitte, bitte, es war mir ein Vergnügen, Herr Redakteur“, rief sie ihm nach, da hatte Carl bereits die Türe Richtung Ausgang hinter sich zufallen lassen. Elfriede Hahn schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. „Herr Bauer, Sie schauen so nachdenklich aus! Ist irgendwas?“, fragte sie. „Also, das, was wir hier angestellt haben – ich würd sagen, erfüllt einige Tatbestände des Strafgesetzes.“ „Gehn S’, machen Sie sich keine Sorgen. Man wird uns schon nicht den Kopf abreißen. Und überhaupt, es weiß doch keiner, oder wissen Sie etwas?“ „Da haben Sie auch wieder Recht. Na dann, schönen Tag noch!“, sagte Bauer und ging zum Lift.
Am Haupteingang eilte Hofbauer am Portier vorbei. „Ha! Jetzt hab ich Sie! Legitimieren Sie sich! Glauben S’, ein jeder kann da bei uns ein- und ausgehen wie er will, lieber Herr?“, fuhr ihn der Portier an. Carl eilte an ihm vorbei. „Ja, Sie mich auch!“, schleuderte er ihm entgegen und war schon auf dem Trottoir. „Unverschämtheit!“, rief der Portier erbost. Carl lief so schnell er konnte zur nächsten Telefonzelle, um Erich in der Redaktion anzurufen.
„Hallo? Ja! Auftrag ausgeführt! Mehr noch, wir haben den Fernschreiber liquidiert – ja, genau! Jetzt geht nix mehr, glaub mir. Was sagst du? – wer? – der Präsident? Der soll nur bitten, ha ha ha! Mit dem Grünewald setzen wir uns so schnell nicht mehr zusammen, das versprech ich dir. Ich werde den Willi schon weichmachen! Wie? Das is’ mir wurscht, ob er an einem länger dauernden Streik nicht interessiert ist, verstehst du? Der Streik dauert, so lange er eben muss, basta!“, schrie Carl atemlos ins Telefon, „und die Herren von der Bundesregierung werden so lange warten, bis wir unsere Forderungen durchgebracht haben, so schaut’s aus! Und dann werden wir ja sehen, wer hier am längeren Ast sitzt, nicht wahr?“
Am nächsten Tag lag ein Schreiben des ÖGB-Präsidenten an alle Redaktionen vor mit dem Ersuchen, die noch offenen Wünsche mit der Herausgebervertretung so rasch wie möglich zu verhandeln. Die Herausgeber würden sich verpflichten, einen für die Journalisten befriedigenden Abschluss anzustreben, hieß es darin wörtlich. Zähneknirschend musste Carl Hofbauer die Entscheidung Willi Schiedls zur Kenntnis nehmen, als dieser der Beendigung des Streiks am nächsten Tag, zwölf Uhr, zugestimmt hatte.
Immerhin konnten die Journalisten mehrfach mit dem Ergebnis der neuen Verhandlungen zufrieden sein, denn sie hatten eine Erhöhung der Mindest- und Ist-Gehälter erreicht und auch einige materielle Forderungen durchsetzen können. Alles in allem wog der ideelle Erfolg, den die Aktion nach sich gezogen hatte, schwerer, als man je zu hoffen gewagt hatte. Für existenzielle Anliegen auf die Barrikaden gehen zu können, und dies nicht bloß für ein paar Stunden, sondern für die Dauer eines Produktionstages und länger – das war schon was!
Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Zeitroman „Das ungeteilte Vertrauen“ – in Entstehung
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