Ein gefährliches Alter
Ja, das haben Sie, Fräulein. Sie sind nicht richtig alt. Und richtig jung sind Sie auch nicht. Genau im Kinderkrieg-Alter, um genau zu sein. Also wir suchen etwas Bleibendes, Dauerhaftes, Beanspruchbares, etwas Lohnendes, etwas Kalkulierbares.
Nein, so haben sie es natürlich nicht gesagt, eh klar. Aber gemeint. Und ich hab weder gesagt, dass ich kein Fräulein bin, noch dass es sie einen feuchten Dreck angeht, ob ich einmal auch Mutter sein will oder nicht. Noch nicht. Die können mich mal.
So bin ich also wieder auf der Suche nach etwas Bleibendem, Dauerhaftem, etwas, was mich beansprucht, aber nicht zu sehr, etwas, was mein Leben finanziert, etwas Kalkulierbarem. Und außerdem möchte ich gerne wissen, ob ich einmal Mutter sein werde oder nicht. So verschieden sind meine Fragen also gar nicht von jenen, die in den Köpfen derer kreisen, die ich verachten muss.
Ich komme folglich zu dem zwingenden Schluss: Ich bin in einem gefährlichen Alter.
Wohin mit mir? Erst einmal ab in das Gewohnte, die vier eigenen Wände, es sind zwar tatsächlich viel mehr, aber da hat sich wohl jemand die genaue Zählung ersparen wollen. Oder es waren damals wirklich nur vier Wände, in denen die Menschen gewohnt haben, als diese Floskel entstanden ist. Nein, das mit dem Fokussieren ist nicht so einfach. Vielleicht war es damals leichter, als die Menschen tatsächlich noch in vier Wänden wohnten, also von exakt vier Mauern begrenzt waren, nicht mehr. Weniger geht sowieso nicht. Und die waren sicher nicht so hoch wie heutzutage, das kommt noch dazu.
Es kommt heute sicher niemand vorbei, das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist zwar Freitagabend, übrigens der Abend nach dem fünfzehnten Vorstellungsgespräch in diesem Halbjahr, aber wer soll denn da vorbeikommen. Ich müsste rausgehen, um andere Menschen zu treffen. Dafür bräuchte ich Geld, das ich nicht habe. Vielleicht hätte ich mehr davon, wenn ich in nur vier Wänden wohnen würde, bestimmt sogar.
Es kommt doch jemand vorbei. Sachen gibt es. Er will bei mir übernachten. Soll sein, er braucht nichts zu bezahlen. Er hat nicht einmal vier Wände. Er hat gar keine eigenen Wände mehr. Null Wände. Ich habe keine Einwände. Er soll ruhig bei mir schlafen.
Beim gemeinsamen Frühstück erzählt er mir, dass er sich auf den Sommer freut. Eigentlich will er nämlich nicht mehr bei Bekannten übernachten. No offence, sagt er noch. Er ist nämlich mal ein Engländer gewesen, bevor er ein Niemand wurde, ein Staatenloser. Er hat also nicht nur keine Wände, sondern auch kein Land mehr, das behaupten könnte, er gehöre ihm. Die Freiheit sieht trotzdem anders aus. Meint er. Er muss es wissen. No offence.
Na gut, weiter geht es. Nächster Termin beim AMS. Wieder keine Ernte eingefahren, die Bemühungen der Betreuer haben nicht gefruchtet, sie sind schon recht frustriert. Wohl, weil ich in einem gefährlichen Alter bin. Oder weil es überhaupt sehr anstrengend ist, Menschen wie mich irgendwo reinpassend zu machen. Hm. Ich bin ihnen nichts neidig, wie meine Freundin immer sagt.
So einfach kann ich es mir aber auch wieder nicht machen. Ich muss schon selbst was tun. Ich geh jetzt erst mal heim, in die eigenen vielen Wände. Ein bisschen Anstarren, wird schon werden. Den Bus spare ich mir heute.
Beim nächsten Mal wird es härter werden, angekündigt ist es schon. Sie werden mir auch andere Jobs anbieten, die nichts mehr mit dem zu tun haben werden, wofür ich mich ausgebildet habe. Ich kann dann alles machen, abwaschen, putzen, finden sie, dabei mache ich lieber Dreck als ihn wegzumachen. Aber das wissen die noch nicht. Ich sage es ihnen besser nicht. Und in einem gefährlichen Alter bin ich auch. Widerspenstig außerdem.
Wenig brauche ich, das ist gut. Nicht so wenig wie der ehemalige Engländer, aber Kartoffeln esse ich gerne auch mehrmals pro Woche. Obwohl die Bioqualität nicht ganz billig ist. Ach, einen gewissen Standard möchte ich schon gerne halten.
Diesmal kommen zwei vorbei, ein älteres Geschwisterpaar. Sie können es sich leisten, mir Geld fürs Leihen meiner Schlafcouch zu geben. Ich kenne sie schon lange, damals waren sie noch kein älteres Geschwisterpaar, sondern ein mittelaltes. Sie sind freundliche Menschen; vor die Wahl gestellt, mit wem von ihnen allen ich dauerhaft wohnen wollen würde, wären sie momentan meine Favoriten.
Sie schnarchen nicht, sie essen leise. Beim Klogang schließen sie die Tür, bevor sie irgendetwas anderes machen. Ich weiß das sehr zu schätzen. Sie sind nicht so lange hier, dass ich ihre Fernsehgewohnheiten studieren hätte können. Ich glaube, wir kämen gut aus miteinander. Dass ich keinen Fernseher mehr habe, würde die Sache sogar noch vereinfachen, im Fall der Fälle. Kein Streit ums Programm. Was sie sonst so machen, außerhalb meiner vielen Wände, kann ich nicht sagen. Ich kann ja nicht mal sagen, was ich sonst so mache, abgesehen von meinen AMS-Terminen und Vorstellungsgesprächen.
Ah, was Neues. Ich mache einen Motivierungskurs. Zur Motivation nämlich. Ich ziehe mich dafür genauso an, als wolle ich zu einem Bewerbungsgespräch, das wollten sie so. Und bereue es sofort. Dort ist nämlich einer, der auch motiviert werden soll, so wie ich. Nur ist er cool angezogen, nicht so bieder wie ich. Er sieht aus wie ein Rockstar. Wie ein Rockstar früher ausgesehen hat. Knallenge Lederhosen. Drüber ein Etwas von einem T-Shirt, ein lockeres, abgefucktes Ding, und da drüber ist eine Jacke geworfen, die so speckig ist, dass sie fast so schön glänzt wie das schwarze Lederding, in dem seine langen Beine stecken. Die Füße übrigens in unspektakulären ausgelatschten Billigturnschuhen, aber das ist mir egal. Kann ich ausblenden, problemlos.
Wie auch das gesamte Motivationsprogramm, ebenso mühelos. Ist für die Katz‘. Brauche ich nicht. Ich bin ausreichend motiviert. Zumindest reicht es aus, um jeden zweiten Tag aufzustehen und mir diesen Mist zu geben. Der Ex-Rockstar langweilt sich dort auch sehr schön. Manchmal gähnt er mir verschwörerisch zu. Da klopft mein Herz dann jedes Mal ganz wild.
So kann es ein Weilchen dahingehen, von mir aus. Gelegentlich schaut wieder jemand bei mir zu Hause vorbei. Forcieren möchte ich das Übernachten aber gerade nicht. Irgendwie laugt es mich aus, wenn so viele andere Menschen, noch dazu verschiedene, in meinen vielen Wänden und damit notgedrungen auch um mich sind. Früher hat mir das nichts ausgemacht. Meine Adresse geht anscheinend noch selbsttätig reihum, aus der Zeit, in der das für mich noch gepasst hat. Das mit dem Zuverdienst kann ich mehr denn je brauchen, doch die Anstrengung ist unterbezahlt, finde ich mittlerweile.
So geht es mir auch mit jedem Jobangebot, das für mich ausgegraben wird. Der Arbeitsmarkt verlangt mir inzwischen auch schon einiges ab, ohne dass ich ihm noch wirklich angehöre. Von der Ferne ruft er mich. Und er stresst mich ganz schön damit.
Es ist geschehen, der schöne Gelangweilte hat mich angesprochen, er hat mich gefragt, ob ich auch was vom Automaten möchte, und ich hab gleich gesagt, ich geh einfach mit und schau mal. Das war einigermaßen schlagfertig in Anbetracht der Umstände, dass ich jedes Mal nervös werde, wenn er mich nur ansieht, zufällig. So sind wir zum Automaten geschlendert, schön langsam, man hat schließlich Motivationspause und keine Eile, so schnell zurückzukommen. Und dann waren wir uns einig, dass eine Cola-Dose nicht so viel kosten sollte, schon gar nicht, wenn sie in einem Automaten herumlungert, der nur zwei Gänge entfernt von einem Motivationskurs für Langzeitarbeitslose steht und zum Konsumieren verführt.
So was von einig waren wir uns, und schließlich haben wir uns eine Dose geteilt, haben sie zwischen uns und unseren sehr kleinen Schlucken und durstigen Mündern hin- und hergereicht, im stillen Einvernehmen und Gedanken daran, dass eine Rotweinflasche besser wäre, irgendwie. Dann auch die Schlucke größer, bestimmt.
Und dann sind wir Richtung Kurszimmer zurückgegangen, der Schöne und ich, und ich wollte aufs Klo, weil ich schon dringend musste, vor dem Kurs, dann ja wieder so lange sitzen. Ich dachte, er geht in seins, weil er auch musste, aber nein, er geht nicht in seins, weil er lieber in Frauenklos pinkelt. Die Männerklos sind ihm zu dreckig, sagt er. Aha.
Tja, und kaum bin ich fertig und er auch, rauschen die Spülungen hier und dort in den benachbarten Kabinen und ich wasche mir die Hände, da steht er hinter mir, weil ich schneller am Waschtisch bin … Da streckt er seine langen Fast-Musiker-Hände nach vorn zum Waschbecken und zu meinen unter mein genau richtig warmes Wasser, steht dabei noch direkter hinter mir, ich spüre schon die glatte Lederhose sich an meine Jeans schmiegen (ja, inzwischen hab ich im Kurs auch andere Sachen an, Schluss mit Blusen und Blazern …). Und auf einmal waschen seine Hände die meinen und meine die seinen, und seine Hose und meine Hose wollen keinen Millimeter Luft zwischen einander lassen. Und das wollen wir auch nicht.
Im Nachhinein gesehen war es wohl nicht besonders gescheit, gemeinsam in eine der Kabinen zurückzuhasten, den Inhalten der jeweiligen Hosen ihren Willen und die Beinkleider runter zu lassen, zur Vereinigung von Leder und Baumwolle am Boden und sonstigem auf dem Klodeckel. Aber was ist schon gescheit. Es ging einfach nicht anders und anders sollte es auch nicht sein. Hand in Hand haben wir nachher das Klo verlassen. Ich musste nochmal schnell ins Kurszimmer, weil ich meine Tasche dort hatte und entschuldigte mich, mir sei schlecht geworden und mein Kurskollege bringe mich heim.
Ich glaube fast, er hat wie ich gerade ein gefährliches Alter. Da kann alles Mögliche passieren, habe ich mir sagen lassen.
Carmen Rosina
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