Die Hochzeit
Aurouggla – Teil 2
Nachdem meine Familie also erfolgreich im Hotel Belvedere untergebracht worden war, trat etwas Ruhe in die ganze Sache ein. Vater hatte aufgehört, nervös zu schnupfen, und Mutter genoss den ausgezeichneten Blick über Meran von der Terrasse des Hotels aus. Sie sah, zumindest für Momente, sogar etwas entspannt aus. Und ich? Nun, ich richtete mich in meinem kleinen Einzelzimmer so gut es ging ein, packte meine Lieblingsbücher aus und mein Malzeug und hängte meine Kultjeans und T-Shirts ordentlich nacheinander in den Kasten. Den grauenhaften Anzug ganz zuletzt. Den müsste ich ohnehin ja bloß nur einmal anziehen. Dann ging ich auf Entdeckungstour. Zuerst die fünf Minuten hinunter zur Bar Diana, wo ich mir ein Pompelmo (exotisch, was? Grapefruitsaft) genehmigte, welches sich die Muata nicht zahlen ließ. Wohin ich denn spazieren gehen sollte?, fragte ich artig. Dort, den steilen Waldweg hinauf zum Sulfner-See. Ist das weit? Na, geah, wann´d gmiadlich geasch, a holbe Schtund. Do hosch, a Tafele Schokolade fian Hunga. Ich wandte zaghaft ein, gegen, und lächelte, aber man verstand mich nicht.
Also ging ich los. Ein wunderschöner Wald! Hohe Fichten, unterwandert von allerlei Sträuchern. Dazwischen Farne in Überlebensgröße und eine sagenhafte Luft, die nach Harz, nach frischem Laub und Waldboden roch. Dort ein mir unbekannter Käfer, da ein Vogelgeräusch, das ich nicht kannte. Raubvogel vielleicht. Durch die hohen Wipfel blitzte warm die Nachmittagssonne und tauchte alles in ihr mildes Licht.
Ich denke, ich habe mich nie wieder so glücklich und frei gefühlt wie in diesem Augenblick. Oder vielleicht in den kommenden Spaziergängen hierher. Langsam wurde der steile Weg eben, als ich eine Art Plateau inmitten dieses Zauberwaldes erreicht hatte. Jetzt wechselte der braune Waldboden in sattes Grün. Dort vorne sah ich etwas glänzen, das musste die Wasseroberfläche des Sees sein. Und tatsächlich! Ich kam meinem Ziel rasch näher.
Ein mittelgroßer See, inmitten eines Hochwaldes. Wahnsinn! Das Wasser schien dunkel, beinahe schwarz und spiegelte auf seiner Oberfläche die es umgebenden Bäume wider. Ein gutes Drittel des Sees war mit Seerosen bedeckt. Große grüne Blätter lagen wie Matten, die zum Draufsteigen einluden, auf der ruhigen Wasseroberfläche verziert durch hunderte von Blüten, die, libellenumschwärmt ihre rosa Körbchen weit geöffnet hielten, als wollten sie damit die Sonnenstrahlen einfangen.
Ich ließ mich auf einem Baumstrunk nahe am Wasser nieder und weidete mich an der Fülle meiner Eindrücke, ich konnte diesen Anblick kaum fassen. Meine Augen glitten immer wieder rundherum, um nur ja nichts auszulassen, damit mir auch nichts entging, um dieses Idyll vollkommen zu verinnerlichen, ja um es mit nach Hause zu tragen, es in meinem Inneren abzulichten und um es eins zu eins wieder abrufbar zu machen, wenn ich seiner bedurfte.
Ich hatte von der Wiener Tante eine billige Kamera geschenkt bekommen, die stolz an meiner Knabenbrust baumelte. Ich nahm sie hoch und fotografierte beinahe den ganzen Film leer, als ich vor mir, im Wasser, eine Bewegung wahrnahm. Im seichten Wasser in Ufernähe ringelte sich grazil eine Ringelnatter (drum heißt sie ja auch so) über den See und nahm überhaupt keine Notiz von mir, dem Eindringling, der ich war. Ich knipste wie verrückt hinter ihr her. Und mit der Entwicklung dieses Filmes würde ich ganz sicher nicht warten wollen, bis ich wieder zu Hause wäre. Den wollte ich gleich morgen nach Meran tragen. Wir blieben zehn Tage hier, das ging sich locker aus. Ich weiß nicht, wie lange ich hier gesessen sein mochte, doch durch die Dämmerung aufmerksam geworden, trat ich schließlich den Rückweg an. Wer weiß, vielleicht machte man sich schon Sorgen, wo ich geblieben war?
Der nächste Tag, ein strahlender Sonntag, der nicht strahlender hätte sein können, war der von allen heiß erwartete Hochzeitstag. Mir, um ganz ehrlich zu sein, war er als solcher egal, eher lästig, denn es würde mir nicht erspart bleiben, meine geliebten ausgewaschenen engen Jeans mit dem scheußlichen Anzug zu vertauschen und meine hohen schnürbaren Rauleder-Boots, wie sie damals in Mode waren, durch schwarze spitze Halbschuhe zu ersetzen. Die kleine Schar der Hochzeitsgäste wuchs rasch an und formierte sich vor der Bar Diana zu einer unübersehbar langen Menschenkette in Festtagskleidung. Dann erschienen die Braut und der Bräutigam. Er mit dunklem Rauschebart in Schwarz, sie mit Blumenkrönchen und in Weiß. Die Sonne brannte um zehn Uhr vormittags schon herunter, als ob es Mittag wäre. Nach etlichen Gläsern Sekt, die gereicht wurden, ging es endlich in Richtung der nahegelegenen Kirche, neben den berühmten Haflinger Pferden offizielles Wahrzeichen des Dorfes, zu St. Kathrein genannt, einem aus grauem Stein erbauten Kirchlein aus dem 13. Jahrhundert, das weithin gut sichtbar war.
Der offiziell zeremonielle Teil zog sich genauso in die Länge wie sein Menschenzug, und mir wurde heiß in dem engen Sakko, welches ich am liebsten ausgezogen hätte. Die ungewohnte Krawatte würgte mich am Hals, und Schweißtropfen rannen in Bächen gesammelt über Brust und Rücken. Mutter wurde übel, wie immer, und sie musste von meinem Vater kurz hinausbegleitet werden, an die frische Luft, die gar nicht frisch, sondern sauheiß war. Aber bitte, Einbildung ist alles, und sie tat ihre Wirkung, denn beide kehrten nach einigen Minuten wieder zufrieden auf ihren Platz zurück. Endlich war diese Folter dann auch einmal vorüber, nicht nur für mich, das Brautpaar hatte sich die ewige Treue und so weiter geschworen und geküsst.
Mühsam verließ der Tross, schwerfällig vom langen Stehen und Sitzen, den kühlen Kirchenraum. Hände wurden geschüttelt, Glückwünsche und Segensworte gesprochen, Schweißperlen wurden mit riesigen Stofftaschentüchern weggetupft.
Männer und Frauen in Südtiroler Tracht hatten ordentlich an der dicken Kleidung zu leiden. Das Zeug hielt dicht, in vielen Schichten, wie eine Zwiebel. Kittel und Schürzen, in Schwarz und Blau, Wamse und Joppen, Hosen mit breiten Trägern, in Rot und Grün. Ich träumte von meinen Jeans und einem lockeren T-Shirt, die einsam im Hotelkasten hingen. Und nach Laufen war mir. So ganz leicht, mich bewegen können, und das dumme Zeug da ausziehen und niemanden sehen, mit niemandem reden müssen.
Die Leute formierten sich langsam zum Festzug, und das Ganze wälzte sich also wieder retour, vorbei an der Diana und hinauf zum Hotel Belvedere. Halb eins. Und heiß. Mutter musste mit einem Taxi geführt werden, weil ihr schon wieder übel war. Vater fuhr gleich mit. Er hatte die ganze Zeit keine Miene verzogen, nur leise geschnupft, wie er es immer tat, wenn ihm was nicht geheuer war. Schließlich handelte es sich um die erste Hochzeit eines seiner Kinder, seiner Tochter, noch dazu seiner Lieblingstochter, die, die er aus erzieherischen Gründen mit zehn Jahren in ein SOS- Kinderdorf bei Graz gesteckt hatte und die wir zu Allerheiligen, knochendürr wegen Unterernährung und Heimweh, wieder nach Hause holen mussten. Aber das ist eine andere Geschichte. Damals mussten sie „Hoch auf dem gelben Wagen“ singen, wenn sie frühmorgens zur Schule gebracht worden waren. Das hat sie mir beigebracht, mit fünf. Seit dieser Zeit denke ich immer an „Hoch auf dem gelben Wagen“, wenn ich an sie denke. So ein Schmarren!
Ich hatte noch nie so eine große Festtafel gesehen wie jene in diesem Hotel. Dreiseitig, an der vierten Seite wegen des Eingangs offen und für die Kellner bequem zugänglich. Der Vater des Bräutigams, der wortkarge Förster, und unser Vater saßen sich gegenüber. Es wurde nichts gesprochen, was keinen überraschte. Sie saßen nur da und starrten vor sich hin. Unserer schnupfte, der ihrige seufzte immerzu jajajaja. Mutter und Muata waren da schon aus anderem Holz geschnitzt. Frauen unter sich. Das funktionierte ganz gut. Ich saß zwischen den Brüdern des neuen Schwagers, die auch nicht gerade eloquent schienen. Und wenn sie mal was sagten, dann verstand ich sie nicht. Aber ich tat so, als verstünde ich und lächelte immer, wenn sie, mir zugewandt, was zu melden hatten. Südtirolerisch ist eine Wissenschaft für sich.
Erst als ich in der Bar Diana Servierdienste leistete, lernte ich diese höchst merkwürdige Sprache. Doch davon später. Egal also. Man trank und aß und fotografierte und nahm den Kaffee und dazu die Torte und trank wieder und aß wieder bis zum frühen Abend. Mir war scheußlich fad. Doch dann aber wurde die Braut entführt, und es kam Leben in die Bude. Wir Jungen sollten sie suchen. Blöde Idee, aber bitte. Und damit kam ich offiziell auf den Plan. Wir Burschen sollten sie also suchen, ich und die Brüder des Bräutigams, und wir hatten die Zeche zu zahlen, die die entführte Braut mit ihren Entführern hinterlassen hatte. Überall da, wo sie, kurz bevor wir eintrafen, bereits wieder weitergeeilt waren. Die ganze Angelegenheit hätte mir ja wurscht sein können wie nur was, wäre da nicht plötzlich eine eigene Vespa gewesen, wie bereits erwähnt, in Orange, die man mir zu Suchzwecken zur Verfügung gestellt hatte. Ich blühte auf! Das war natürlich was für so einen gut behüteten vierzehnjährigen Knilch wie mich, mit so einem Ding da die Gegend unsicher zu machen! Und ich nahm mich natürlich dementsprechend wichtig, indem ich ordentlich Gas gab, nachdem mir der ältere der beiden Brüder rasch beigebracht hatte, wie ich mit der Karre da umzugehen hätte. Und ab ging die Post, auf steilen krummen Wegen Richtung Falzeben, Meran zweitausend, wie das Hochplateau heißt, gar nicht so einfach zu bewerkstelligen auf so einem Zweirad, über Knüppelwege und sandige Stellen und in Spurrinnen, auf denen man leicht zu Sturz kommen konnte.
Uns jedoch war nichts zu blöd und nichts zu schwierig, kein Weg zu steinig und keine Jausenhütte zu abgelegen, wie sich herausstellen sollte, die wir abfuhren, um dort das entflohene Ehegefährt zu suchen. Und ja, die hatten überall eine ordentliche Zeche hinterlassen, wo sie gewesen waren, fürwahr! Und sie waren immer schon weg, wenn wir ankamen.
Oschtia, fluchten die Burschen gotteslästerlich. Ich hatte auch dieses Wort nicht verstanden, ließ es mir aber im Laufe der nächsten Tage erklären. Ganz einfach, es bedeutete Hostie. Genauso häufig fluchten sie „Madonna“. Das kapierte ich schon eher. Und die beiden Knaben blätterten die Tausender, wenn auch zwar nur Lire, nur so hin, und weiter ging die wilde Jagd.
Mich ließ man nicht bezahlen, ich sei ja bloß ein Schülerlein. Ich hätte auch gar nichts gehabt, womit ich hätte zahlen sollen. Die Brüder aber gingen schon in die Lehre und hatten Geld dabei. Also suchten wir wie verrückt. Bis man die Ausreißer, die übrigens mit einem geländegängigen Auto unterwegs waren, gegen einundzwanzig Uhr gefunden hatte. Und damit war die Jagd für uns Jungen beendet, Gott sei Dank unfallfrei. Im Konvoi ging´s dann talwärts, über Stock und Stein, wie wir gekommen waren, aber weniger stressig als bei der Suche nach der gestohlenen Braut.
Als Oberdieb outete sich übrigens der Geschäftsführer des Hotels Belvedere. Wir erreichten rasch bekanntes Gebiet. Vor der Bar Diana stellte ich mit den anderen mein Fahrzeug ab. Alle nahmen noch einen Abschiedstrunk und verabschiedeten sich recht bald und sehr herzlich, man war zusammengewachsen durch die waghalsige Tour. Es war genug für einen Tag gewesen, ganz ohne Scheiß, wie der Deutsche zu sagen pflegt, auch für uns Jungens, die wir nicht geheiratet hatten und es auch noch lange nicht vorhatten.
Norbert Johannes Prenner
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