Die Tat meiner Tochter

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Seit ich im November des Jahres 1989 nach Wien gezogen bin, liebe ich es, den Donaukanal entlangzugehen. Es bereitet mir Freude, nahe am Wasser zu sein, die Vögel, die den Kanal zu ihrem Lebensraum erkoren haben, zu beobachten und mich auf beinahe jedem Spaziergang zu wundern, welche Hunderassen mittlerweile aus den Zwingern der Züchter an den Mann gebracht werden oder vielleicht aus kynologischen Versuchslaboren entkommen konnten.

Ich kam der Liebe wegen in die österreichische Hauptstadt. Ich hatte in Graz an der Universität Bürgerliches Recht gelehrt und mich in eine Kollegin aus Wien verliebt, die ein Jahr lang in Graz unterrichtet hatte.
Sie heißt Brigitte und ist heute meine Ehefrau. Nach drei gemeinsamen Jahren in Wien haben wir geheiratet, und nach zwei weiteren Jahren wurde Martina, unser einziges Kind, im Jahre 1994 geboren.

Anfangs war es natürlich eine große Umstellung, von Graz nach Wien zu ziehen. Das Kleinstädtische der steirischen Landeshauptstadt ging mir einerseits ab, doch genoss ich andererseits die Anonymität der Großstadt. In Graz ist das Leben familiärer, man wird auf der Straße erkannt, gegrüßt und nach dem Befinden gefragt. In Wien geschieht dies nur in Ausnahmefällen, was mir ehrlich gesagt recht ist, denn ich schätze es nicht besonders, angesprochen zu werden, wenn ich meinen Gedanken nachhängend durch die Stadt wandere.
Ein weiterer Vorteil Wiens ist, dass die geistige Trägheit, das Phlegma, kaum zu bemerken ist. In der Steiermark gibt es bei Weitem mehr Menschen, die sich nicht genieren, ihren Stumpfsinn offen zur Schau zu stellen und sogar Unbeteiligte wie auch Uninteressierte durch Lautäußerungen daran teilhaben zu lassen.

Ich gehe gerne alleine spazieren, und der Donaukanal war mein erster Spazierweg in Wien und ist bis heute mein liebster. Die Flora, die Fauna und die dort zu betrachtende Kunst in Form von sich ständig verändernden Graffiti geben mir das Gefühl, dass in der Stadt, in der ich lebe, Kunst und Natur friedlich nebeneinander existieren können.
Brigitte begleitet mich nie auf diesen Spaziergängen. Sie liebt es zu malen und verbringt einen großen Teil ihrer Freizeit in einem Raum unserer Wohnung im siebenten Bezirk, der ihr als Atelier dient und entsprechend eingerichtet ist. Sie malt bevorzugt Tiere und Pflanzen, und das in wirklich guter Qualität. Ich bin kein Kunstkenner, doch etliche Kollegen an der Universität haben das Talent meiner Frau bestätigt, und ich muss zugeben, dass mir ihre Bilder wirklich gut gefallen. Einige von diesen hängen in unserer Wohnung, und das nicht nur, weil sie von Brigitte gemalt wurden.

Sie hat mir geraten, einen Hund anzuschaffen, der mich begleiten könnte, doch ich sehe keinen Sinn darin, mir ein Haustier zuzulegen. Als wir Kinder waren, hatten meine Schwester und ich einen Hund, Moritz hieß er. Er war eine Promenadenmischung, was bedeutet, dass er sowohl von robuster Gesundheit als auch von hoher Intelligenz war. Doch trotz seiner guten Gesundheit war es eines Tages auch für ihn an der Zeit, den Weg alles Irdischen zu gehen, was meine Schwester und mich in eine veritable Verzweiflung gestürzt hatte. So etwas ist immer unschön, und ich möchte das nicht noch einmal erleben.
Darüber hinaus pflege ich auf meinen Spaziergängen die Dinge für mich ins rechte Lot zu bringen. Ich hänge dabei meinen Gedanken nach und kann währenddessen keine Leine in der Hand brauchen, an deren Ende ein Lebewesen befestigt ist, das zieht, zerrt oder sich gar losreißen möchte. Ein derartiges Verhalten würde mir bloß das Denken verunmöglichen, ebenso wie ich die große Verantwortung anderen Menschen und Hunden gegenüber scheue.

Heute Nachmittag habe ich einen wirklich langen Spaziergang hinter mich gebracht, doch konnte ich die Dinge, die mich zu diesem veranlasst haben, nicht ins Lot rücken. Ich hatte einen Kollegen gebeten, meine Vorlesung zu halten. Er hatte sofort eingewilligt, denn ihm war meine Verzweiflung nicht entgangen.
Fünf Minuten bevor ich ihn um diesen Gefallen gebeten hatte, hatte mich meine Ehefrau angerufen und mir mit leiser und bedrückter Stimme eine Neuigkeit über unsere Tochter mitgeteilt. Aus diesem Grund war der ungewöhnlich lange Spaziergang heute vonnöten. Ich wollte die Dinge für mich einordnen, doch ich habe versagt.

Nun, am Abend dieses Tages, steht die Tat meiner Tochter noch immer so deutlich vor meinem geistigen Auge, als ob ich ihr Augenzeuge gewesen wäre.
Meine Frau konnte leichter akzeptieren, was Martina getan hat. Sie hatte nie ein besonders intensives Verhältnis zu ihr.
Mir jedoch treibt es selbst in diesem Augenblick, in dem ich Bericht erstatte, die Tränen in die Augen beim Gedanken an das, was sich mein Kind angetan hat.

 

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Martina war als Kind unkompliziert. Nachdem wir uns das hatten leisten können, war sie in einen privaten Kindergarten gegangen. Dieser hatte ihr sehr gutgetan. Ich war immer wieder aufs Neue verblüfft, wie schnell sie einzelne Arten von Tieren benennen konnte, und auch darüber, wie bald sie Sätze grammatikalisch richtig zu formulieren gelernt hatte, selbst wenn sich deren Inhalt in der Vergangenheit zugetragen hatte.
Ich war, das gebe ich zu, der Ansicht, dass ein wahres Genie meinen Lenden entsprungen war. Heute weiß ich natürlich, dass Kinder in einem gewissen Alter erstaunlich aufmerksam und lernfähig sind. Außerdem ließ mich der nach dem Kindergarten einsetzende schulische Misserfolg meiner Tochter erkennen, dass meine Theorie mit dem Genie falsch war.

Die Volksschule brachte Martina mit Ach und Krach hinter sich. Immer wieder kam es vor, dass ihre Leistungen mit einem Befriedigend oder gar einem Genügend benotet wurden, und ihre Lehrerin riet uns am Ende der vierten Schulstufe, Martina nicht auf ein Gymnasium zu schicken, da sie dort wohl die eine oder andere Klasse wiederholen müsste.
Das konnten meine Frau und ich auf keinen Fall akzeptieren. Zugegeben, während meiner Schulzeit war ich auf dem Kronleuchter der Strebsamkeit nicht das hellste Licht, doch habe ich es zum Professor gebracht. Meine Frau war in der Schule stets die Klassenbeste gewesen, somit war klar, dass auch Martina das Gymnasium durchstehen würde.

Die Unterstufe überstand sie ganz gut, nachdem sie vom naturwissenschaftlichen Zweig in den bildnerischen übergewechselt war. Es verging zwar kein Sommer, in dem sie nicht für eine Wiederholungsprüfung lernen musste, doch mit Nachhilfeunterricht bestand sie alle diese Prüfungen.
Als Martina in die Oberstufe kam, fingen die Probleme an.
Mir ist natürlich klar, dass junge Menschen in der Phase ihrer Pubertät gegen ihre Eltern rebellieren, ich habe das auch gemacht. Ich hatte mit diesem Verhalten kein Problem, auch nicht damit, dass sie mit gewissen Substanzen experimentierte.
Meine Frau hatte einmal einen Joint in Martinas Schreibtisch gefunden und daraufhin das Ende der Welt verkündet. Ich beruhigte sie und versprach ihr, mit unserer Tochter über Drogen zu sprechen. Ich sprach auch mit ihr. Wir standen auf dem Balkon, rauchten den Joint gemeinsam, und sie versprach mir auf Ehrenwort, keine Drogen mehr herumliegen zu lassen und nicht mehr als einen Joint pro Woche zu rauchen.

Ich kann den Zeitpunkt, ab dem es schlimmer zu werden begann, nicht mit letzter Bestimmtheit festmachen, doch vermute ich, dass es im Sommersemester der sechsten Klasse war.
Meine Frau und ich wurden zum Direktor der Schule zitiert, der versuchte, in seinem Büro ein Tribunal über unsere Tochter abzuhalten. Er führte jede einzelne Fehlstunde Martinas an, ließ sich über ihre schwarz gefärbten Haare aus und mokierte sich über ihre stets dunkle Kleidung. Ich teilte ihm mit, dass Martina ihre Haare nach Belieben färben konnte und auch, dass ihn ihr Kleidungsstil nichts anging. Was jedoch die unentschuldigten Fehlstunden anging, begann ich mir Sorgen zu machen.
Martina hatte ganze Schultage geschwänzt und zu Hause auf Nachfrage schlicht angegeben, dass sie lieber mit Freunden im Kaffeehaus gesessen hätte, als in die Schule zu gehen. Dieses Schuljahr war unrettbar verloren, also mussten Brigitte und ich uns mit der Tatsache abfinden, dass unsere Tochter die sechste Klasse zweimal besuchen würde.
Das Wiederholungsjahr verlief friktionsfrei, wenigstens was Martinas schulische Leistungen anlangte. Im Privaten begann sie sich zurückzuziehen. Sie weihte uns nicht in ihre Aktivitäten ein, ließ sich zum Entsetzen ihrer Mutter einen Nasenring stechen und ihr Haupthaar scheren.

Wir beschlossen, Martina vom Beginn der siebenten Klasse an bis zu ihrer Reifeprüfung kompetente Nachhilfelehrer für alle kritischen Unterrichtsfächer zur Seite zu stellen, denn wir wollten verhindern, dass sie ein weiteres Jahr verlieren würde.
In diesen beiden Jahren stimmten die Noten unserer Tochter. Außerdem ließ sie uns wieder etwas mehr an ihrem Privatleben teilhaben, indem sie uns beinahe jede zweite Woche einen neuen Freund beim Frühstück vorstellte.
Brigitte und ich trugen dies mit Fassung, denn wir hätten ihr unmöglich verbieten können, sich auszuleben.

Nachdem sie ihre Matura im Jahr 2013 abgelegt hatte, zog sie aus unserer Wohnung aus. Meine Frau und ich hatten vor Jahren eine kleine Wohnung als Anlageobjekt erworben, und dort quartierte sie sich ein. Sie begann Anthropologie zu studieren, gab jedoch nach drei Monaten auf und sattelte auf Psychologie um. Wir unterstützten sie finanziell, doch außer Mails mit dem Wort ‘Danke!’ zum Inhalt, die wir erhielten, nachdem unser Geld auf ihrem Konto eingegangen war, hörten und sahen wir nichts von Martina.
Wir waren der Meinung, unserer Tochter ihre Freiheit lassen zu müssen, ohne sie mit Anrufen oder gar Besuchen zu belästigen.
Wir hatten eben nie einen besonders guten Draht zu Martina.
Heute ist mir schmerzlich bewusst geworden, dass dies ein schwerer Fehler war.

 

3

Als ich heute den Donaukanal entlangging, konnte ich meine Gedanken nicht von der Tat meiner Tochter losreißen.
Ich weiß beim besten Willen nicht, wie viele Menschen mir heute entgegengekommen sind und mich mit hängendem Kopf und Tränen in den Augen meinen liebsten Spazierweg entlangschlurfen gesehen haben. Es müssen viele gewesen sein.
Ich habe sie jedenfalls nicht wahrgenommen. Heute habe ich gar nichts wahrnehmen können. Ich habe zwar mitbekommen, wie sich zwei Graffitikünstler in die Haare geraten sind, erst verbal, dann im Wortsinn, doch vermochte ich dem Verlauf des Disputs nicht zu folgen.
Ein großer Hund, ich vermute, dass es eine Dogge war, kam bellend auf mich zugelaufen, doch ich nahm erst Notiz von dem Tier, als dessen Besitzer, der herbeigeeilt war, mich atemlos um Verzeihung für die offensive Spielaufforderung seines Hundes bat. Ich murmelte irgendetwas und ging weiter.

Als ich den Teil des Kanals erreichte, dessen Wände über und über mit Graffiti besprüht sind, blieb ich stehen.
Eines dieser Kunstwerke zeigt, falls es heute Abend nicht übermalt wurde, eine nackte liegende junge Frau in Rückenansicht. Ich stand vor dem Mädchen und musste an das Foto denken, das meine Frau mir nach unserem Telefonat geschickt hatte. Da begann ich zu weinen wie ein kleines Kind.
Auf diesem Foto ist nämlich meine Tochter Martina zu sehen, ebenfalls auf dem Bauch liegend. Ihr nackter Rücken ist voller Blutspuren, die, das ist gut erkennbar, notdürftig weggewischt worden waren. Ihr Kopf ist zur Seite gedreht, ihre Augen sind geschlossen und ihr sichtbarer Mundwinkel ist leicht nach oben gezogen, als ob sie lächeln würde.

Das Zweitschmerzvollste an diesem Foto für mich ist Folgendes: meine eigene, geliebte Tochter so daliegen zu sehen, offensichtlich froh, dass eine schlimme Tortur vorbei ist und sie Ruhe vor ihrem Peiniger hat.
Das Schmerzvollste aber ist, was dieser Unmensch mit ihrem Rücken gemacht hat. Auf dem Rücken meiner Tochter prangt eine riesige Schlange, eine Kobra, die ihre mächtigen Giftzähne drohend dem Betrachter präsentiert.

Nachdem ich geweint hatte, bis keine Tränen mehr kamen, ging ich mit langsamen Schritten nach Hause, wo meine Frau mich schon erwartete. Ich erzählte ihr von meiner Verzweiflung über Martinas Tat und begann wieder zu weinen. Brigitte nahm mich in den Arm, und nachdem ich fertiggeweint hatte, riet sie mir, die Sache als schon geschehen und unumkehrbar für mich einzuordnen.
Brigitte hat sicherlich recht, doch bin ich noch nicht so weit.
Ich frage mich, ob ich es jemals fertigbringen werde, ohne zu weinen an das zu denken, was sich meine Tochter angetan hat.

Michael Timoschek

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