Der Rehbock

Martin Möstl war schon oft gefragt worden, ob er nach dem Mittagessen einen Spaziergang machen wollte. Stets hatte er abgelehnt, denn die Menschen, die ihn begleitet hätten, waren ihm als denkbar schlechte Gesellschafter vorgekommen.

Eines Tages, es war ein regnerischer Nachmittag, ging Martin doch spazieren. Das schlechte Wetter ließ ihn hoffen, dass er auf dem weitläufigen Areal alleine sein würde. So war es dann auch, er war alleine, wenigstens sah er keine Menschen.
Er verließ Pavillon 10, seine Unterkunft, und schlenderte den Waldweg entlang. Bald kam er auf eine freie Fläche, die von hohem Gras bewachsen und von einigen Apfelbäumen bestanden war. Martin kämpfte sich durch die vom Regen nassen Halme und verfluchte sich dafür, dass er eine kurze Hose angezogen hatte, denn so machten seine Beine die Bekanntschaft mit Brennnesseln, die auf der Wiese zahlreich wuchsen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend änderte er die Richtung und hielt sich nicht mehr bergan, sondern stapfte nach links. Er hörte Rascheln im Gras und stand wenige Sekunden später einem Rehbock gegenüber.
Martin Möstl war nicht überrascht; er wusste, dass es auf der Baumgartner Höhe Wildtiere gab. Wenige Tage zuvor hatte er einen Dachs neben seinem Pavillon gesehen.
Er blickte dem Rehbock in die Augen, und nachdem er gerade nichts Besseres zu tun hatte, setzte er sich vor ihm ins Gras und genoss den Anblick des schönen und offensichtlich an Menschen gewöhnten Tieres.

Der Rehbock erwiderte Martins Blick, und so kam es, dass der Patient, der Rehe bis zu diesem Tag lediglich kulinarisch wahrgenommen hatte, mit ihm zu sprechen begann.
„Du hast es gut, Rehbock“, sagte er mit leiser, ruhiger Stimme, um das Tier nicht zu erschrecken. „Ich bin hier eingesperrt, und du bist frei.“ Martin dachte ein paar Sekunden lang nach. „Das war Unsinn, entschuldige bitte. Du bist natürlich ebenfalls eingesperrt, denn du hast keine Möglichkeit, dieses Areal zu verlassen.“

Der Bock blickte ihn an, schüttelte sich und fuhr dann fort, ihm zuzuhören.
„Solltest du ausbrechen, würdest du wohl von einem Auto überfahren werden. Auch ich wäre wohl in Gefahr, sollte ich von hier abhauen. Nicht nur, dass mich die Polizei einfangen und in die Psychiatrie zurückbringen würde. Die Freiheit würde mir augenblicklich wahrscheinlich gar nicht guttun.“

Das Tier, so kam es Martin vor, hörte ihm gerne zu.
„Seit vier Wochen bin ich nun hier, auf der Baumgartner Höhe, weil ich unter Schlafstörungen leide und angeblich depressiv bin. Weißt du, Rehbock, vierunddreißig Jahre habe ich, oft mehr schlecht als recht, vor mich hin gelebt, und plötzlich bildet sich meine Mutter ein, dass ich verrückt bin. Zugegeben, es war nicht besonders klug von mir, ihr einen Abschiedsbrief mit der Post zu schicken, aber das war bloß meiner Schlaflosigkeit geschuldet. Wenn du kaum schlafen könntest, würdest du dir doch auch wünschen, auf einem Teller zu landen, oder?“

Der Rehbock reagierte nicht.
„Nein, das würdest du nicht“„, seufzte Martin. „Du erfreust dich deines Lebens hier im Park, wo es keine Jäger und andere Fressfeinde gibt. Ich frage mich, ob ich dich berühren darf.“
Er streckte seinen Arm aus, doch er reichte nicht bis zum Rehbock.
„Nein, das ist keine gute Idee.“ Martin zog den Arm wieder zurück. „Es genügt, wenn du mir zuhörst. Wenn du berührt oder gar gestreichelt werden möchtest, kannst du ja näherkommen. Es würde mich freuen. Jedenfalls, es ist sehr angenehm, zu dir zu sprechen. Du stellst keine dummen Fragen wie Frau Dr. Malic, meine behandelnde Ärztin. Ständig will sie von mir wissen, warum ich nicht umziehe, wenn ich in meiner Wohnung nicht schlafen kann. Ich meine, Straßen gibt es in Wien doch überall. Was soll es also bringen, meine Wohnung aufzugeben?“

Der Rehbock starrte ihn an.
„Du bist ein ziemlich attraktiver Bock. Ich kann mir gut vorstellen, dass alle Geißen hier glücklich sind, dass du ihnen Gesellschaft leistest. Na ja, auch wenn du hässlich wärst, hättest du vermutlich Erfolg beim weiblichen Geschlecht. Wie auch nicht? Der Park ist schließlich eingezäunt. Ich hingegen muss damit leben, dass es keine Mauer um den Bezirk gibt, in dem ich wohne. Mir laufen alle Frauen weg. Meine Psychiaterin hier meint, dass meine Schlaflosigkeit daran schuld ist.“

Das Tier neigte den Kopf zur Seite.
„Du fragst dich sicherlich, was es ist, das mich nicht oder nur schlecht schlafen lässt. Nun, ich weiß, dass es am Verkehr liegt. Meine Wohnung liegt nämlich an einer stark befahrenen Straße. Klar, ich könnte mein Bett in das hofseitig gelegene Zimmer schaffen und meiner Arbeit als Schriftsteller im jetzigen Schlafzimmer nachgehen. Daran habe ich sogar schon gedacht, denn im ruhigen Raum zu schreiben ist ohnehin nicht meine Sache. Es ist nunmal so, dass ich ein viel zu glücklicher Mensch wäre, wenn alles in Ordnung ist. Ich brauche die Unzufriedenheit einfach für meine Arbeit. Der Straßenlärm passt schon, denn er raubt mir den Schlaf und macht mich unglücklich, und wahrscheinlich auch depressiv.“

Der Rehbock wandte sich um, und Martin war nicht eben erfreut, die Kehrseite des Tieres betrachten zu müssen.
„Willst du mir etwas Bestimmtes mitteilen, indem du mir deinen Hintern zeigst?“
Der Bock begann als Antwort Losung abzusetzen. Dann drehte er sie wieder um und sah Martin in die Augen.
„Gut, ich habe verstanden. Du sagst mir dasselbe wie die Ärztin. Vielleicht sollte ich tatsächlich meine Wohnsituation ändern.“ Ein ärgerlicher Ton lag in seiner Stimme. „Erst sagt mir das die Psychotante, und jetzt der Hornträger.“

Martin dachte zwei Minuten lang nach, dann trat ein sanfter Ausdruck auf sein Antlitz und er sagte mit einer Stimme, in der milde Resignation lag: „Ach, ich gebe mich geschlagen.“
Der Rehbock schüttelte sich, dann trottete er mit langsamen Schritten davon.
„Danke, Rehbock!“, rief Martin ihm nach und ging, nachdem das Tier aus seinem Blickfeld verschwunden war, zurück zu Pavillon 10.

Dr. Malic erwartete ihn in seinem Zimmer. Sie bedachte ihn mit strengen Blicken, und ein Blick auf seine Armbanduhr offenbarte ihm den Grund dafür.
„Frau Doktor, es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Es wird Sie aber sicherlich freuen, dass ich beschlossen habe, meine Situation zu ändern und an mir zu arbeiten.“
„Was hat Sie denn zu diesem Meinungsumschwung bewogen, Herr Möstl?“, fragte sie. In ihren Augen lag der Ausdruck der erstaunten Freude.
„Ein Gespräch mit einem Freund, der mich so angenommen hat, wie ich bin.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17004