Sieben Meere

Gedanken über Karl Lubomirskis Gedichtband: Sieben Meere, edition pen, Bd. 22, 155 S., Löcker, Wien 2015

Wer immer ein Buch von Karl Lubomirski aufschlägt, begegnet zuerst einer Zweierbeziehung, eine zwischen dem Dichter und der Welt, ihren Menschen, Dingen, Orten und Zuständen.

Der Person Lubomirski hätte man in Hall/Tirol, wo er 1939 geboren wurde, begegnen können, später in Innsbruck, wo er aufwuchs und studierte, seitdem lebend und als Manager arbeitend in Mailand und Rom, von wo er immer wieder auf Reisen geht. Im Land selbst, nach Griechenland, in den Nahen Osten, nach Russland, Zentralasien und Indien. Immer wieder Europa, wobei Polen einen Mittelpunkt bildet. Ich habe nie nach dem Grund gefragt, aber er könnte aus der Familiengeschichte herrühren, war doch die Fürstenfamile Lubomirski eng mit der europäischen Geschichte verflochten, von der Rettung Wiens unter Sobieski bis Mailand. Hauptsächlich von dort aus war er unterwegs auf Reisen. Er dringt mit seiner wachen Dichterseele in die Kulturen ein und verarbeitet seine Eindrücke in wissende und warmherzige Reiseessays. Keine Wegbeschreibungen von da nach dort. Er nimmt sich die Länder, ihre Menschen und Kulturen „zur Brust“, beklopft, befragt sie und schreibt auf, was er ihnen abgelauscht hat.

Als ich vor zwölf Jahren die Gelegenheit hatte, ihn bei einem Russlandbesuch durch die Klosterstadt Sergiev Posad zu begleiten, fielen ihm die Zeitgleichheit und die Parallelen in den Lebensgeschichten des russischen Sergius, des italienischen Franz von Assisi und des französischen Bernhard auf. Welche Konstellation! Was hatte das für die Welt zu bedeuten?
Darüber müsste er nachdenken. Er zog ein kleines Buch aus seiner Manteltasche und machte Notizen. Dabei stand er im steifen Märzschneewind auf dem Hof zwischen der Sergius-Kathedrale und dem Grab des Boris Godunow. Viele Reisen hätte ich gerne mit ihm gemacht.

Aber doch kehrt er in den sechs Jahrzehnten des Schreibens und Reisens immer wieder zur Lyrik zurück, 14 Bände bisher, einige davon zweisprachig: deutsch-polnisch, deutsch-italienisch, deutsch-französisch, deutsch-bulgarisch. Ein weltliches Oratorium und Prosabände.

„Sieben Meere“ ist sein jüngster Lyrikband.

Er schaut, beobachtet und lauscht. Er betrachtet die Dinge, und sie schauen auf ihn zurück. Er spricht die Dinge an, und sie sprechen zurück. Er horcht in sie hinein. Daher verraten sie ihm etwas, haben Botschaften, weil da jemand ist, der ihnen zuhört. Sehr genau, mit feinstem Ohr, tiefster Spurensuche dreht er sie um sie und sich herum, entlässt sie, fängt sie wieder ein, lässt sie ins Gegenteil kippen und macht sie so zu Instrumenten, um aus Dingen Leben zu machen. Er klopft die Worte ab, er klopft an die Worte wie an Geheimtüren und dringt in sie vor wie ein in sein Metier verliebter Höhlenforscher. Ein Leben wie ein Kaleidoskop auf einem Karussell, nach dem Regen unter dem Regenbogen im Sonnenuntergang, aus den Gruften in die Morgensonne. Alle Worte sind frisch und tragen doch Moosbärte. Die Sinnesorgane noch völlig verklebt vom eigenen Untergang, jubilieren wir wie die Schwalben über dem Dom von Krakau, den Gräbern der Via Appia und den sardinischen Eichenwäldern. Der Reichtum der Erde und ihrer Freuden kennt keine Grenzen. Hallo Leute, wacht auf, läutet er aus eingewanderten Kirchtürmen in Sardinien, oder er spendet Trost mit dem Haiku:

HERBST / dich liebe ich / Frühling des Winters.

Jahreszeiten atmen, Bäume reichen dir die Hände, Steine sind nicht tot, sie verflüssigen sich unter den lebendigen Flechten, Türme sind eingefallen wie Wanderfalken und fliegen wieder weg, im Feuer zwei Körper, sie verbrennen nicht.

Lubomirski kreist in großen und kleinen, einfachen und verschlungenen Liebesumarmungen um die Welt, die mich, alle und alles einschließt. Ich fühle mich genannt und einbezogen in den Kosmos seiner Wortgalaxien. Dabei ein leiser, vollkommen unpathetischer Dichter.
Es trifft auf alles zu, was Lubomirski zum Erscheinen seines Sammelbandes „Propyläen der Nacht – Gedichte 1960 – 2000“ schrieb: „Das vorliegende Buch ist nicht zum Auslesen geschrieben. Es besitzt weder Einheit noch Wissenswertes. Es ist unnütz im weitesten Sinn. So wie Tropfsteinhöhlen und Perlenketten unnütz sind. (…) Vielleicht ist es nur ein Gespräch von Gedichten untereinander, und ich war der Zuhörer.“

Die Dinge sprechen, weil ihr Betrachter sie liebt, bedingungslos, sie so sein lässt wie sie sind, weil es für Liebe ja nie Bedingungen geben kann. Indem er sie in Liebe betrachtet und ihnen das Innerste ablauscht, kommen sie als Worte auf die Welt, werden sie zu Welt und Wirklichkeit. Jedes Gedicht eine Geburt. Wirklicheres kann einem Leser kaum zustoßen.

Ich habe Lubomirskis Werk vor 15 Jahren kennengelernt, und im Laufe der Zeit wuchs ein betörender Gedanke in mir, dass sein Schreiben, sicher immer zuerst ein Selbstversuch der Selbst- und Welterfassung, im Resultat aber eine Form des Liebens ist. Wenn Liebe auf Worte trifft, ist das Poesie. Liebende haben immer eine besondere Hörfähigkeit.

Er schreibt in der Gewissheit, dass die Zugänglichkeit der Dinge die Zulänglichkeit der Worte sichert. Aufschreiben heißt immer Mitteilen, Lesbarmachen, Bedeutung Geben. Bei Lubomirski noch intensiver: Beseelen, die anima Einhauchen.
Ich erinnere mich dabei an zwei spätmittelalterliche Darstellungen von Marias Empfängnis: die eine, in der eine Taube an ihr Ohr heranfliegt und sie auf diese Weise mit dem zukünftigen Erlöser befruchtet; in einer anderen, späteren, die ich besonders liebe, flattert die Taube vor Marias Mund, nicht ohne dass der Maler gestrichelte Linien zwischen dem knienden Engel, der Taube und Marias Mund zieht – ein überdeutliches Comic, fast eine Sprechblase, aha, da kommt alles her! Empfangen durch Ohr oder Mund? Dazwischen liegt, meine ich Lubomirski zu verstehen, der feine Bruch zwischen Alt- und Neuzeit. Das Ohr, das immer offene, empfangsbereite, aber passive Organ, der Mund, der aktive, der sich schließen oder öffnen läßt. Das Ohr hört, der Mund kann etwas sagen.
Und dann ein Gedicht.

Dazu kommt jetzt die Dreierbeziehung. Was machen diese Gedichte mit mir, mit ihren in Zeichen, in Buchstaben gedruckten Worten? Die in ihren vom Dichter genau gesetzten Formen weitere Bedeutungsebenen erschließen, je nachdem, wie man sie liest, vor allem, wenn man sie immer und immer wieder liest. Sie vervielfachen sich, aber nicht in Wiederholungen, auch nicht in Serien oder in Variationen wie in einer Fuge, sondern am ehesten wie vielstufige Kaskaden eines Wasserfalles, über dem Regenbögen aufsteigen und in vielfältige Farben zerspringen.
Ich kann nichts interpretieren, sondern nur feststellen, dass die Bilder, die sich auftun, etwas anstellen, etwas bewirken, etwas tief in einem ergreifen und zum Klingen bringen. Lubomirskis Gedichte haben einen Hallraum, der den eigenen, vielleicht verschütteten, aufschließt wie einen vergessenen Goldaderstollen, eine Diamantenmine. Diese Gedichte tun einem gut, wie eine über den Kopf streichelnde Hand oder eine zärtlich ins Ohr geflüsterte Tröstung. Liebevolle Erschütterungen.

Man kann sagen: Wir kennen uns nicht persönlich, aber auf der Via Appia oder in Sardinien war ich auch schon. An vielen anderen Orten seiner Gedichte auch, aber an den meisten noch nie. Ob in den kaiserlichen Gärten von Kyoto oder in den Steppen Tibets, er macht einen zu Hause dort. Irgendein Gegenüber muss ihm vor Augen gestanden sein, ein Du, oft aber Selbstansprache, und im Wir und Ihr soll, kann jeder gemeint sein, der die Einladung annimmt. Verdammt hinter all den längst schon besiedelten und beseelten ästhetischen Kulturorten, die schon lange vor uns bewohnt waren. Diese Tiefe der Zeit, das Vorleben der Dinge, die Prähistorie der Beziehungen bis hin zum betroffenen Leser des heutigen Tages – das zieht einen in eine Karl Lubomirskis eigene Ewigkeit und einen Raum der Unendlichkeit. Was ist ein Magier? Ein Überwinder von Raum und Zeit, an dessen Tätigkeit ich teilnehmen darf.

Wenn man zu den Formen kommt, zu den angeblich klassischen und deren Definitionen, stehe ich bei Lubomirski vollkommen an. Aber ich bin ja keine philologische Leserin, sondern habe mit jeder Lektüre ein Privatissimum mit Poesie. So viel verstehe ich: Er beugt sich keiner einzigen Form oder besser, er beugt sie alle, sogar das minimalistische Haiku bricht er noch einmal herunter.

Soviel zu Gestalt und Inhalt. Es lohnt sich, einen Blick auf die gängigste Denkfigur zu werfen, für die L. eine besondere Vorliebe hat. (Gewagt, denn ich weiß nicht, ob man das „Technik“ nennen darf und ob er sie bewusst anwendet). Sie besteht in der Technik, dem Leser in einer scheinbar hoffnungslosen Situation doch noch dadurch eine positive Aussicht zu eröffnen, dass ihm durch einen plötzlichen Gedankensprung oder eine abrupte Volte die Möglichkeit geboten wird, die Situation aus einer anderen Perspektive zu überschauen oder sogar zu seinen Gunsten zu wenden.

DER HIMMEL / wird dich töten. / Der Himmel, / aber er stellt keine Fallen.
L. denkt aber auch in die umgekehrte Richtung. SCHULAUSFLUG / Beneide sie nicht, / diese Jungen und Mädchen, / die die Gruben nicht kennen / und nicht die Löwen,/ und nicht / die Schrift / an der Wand.
Für ihn gilt Novalis‘ ästhetischer Merksatz: Beim Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung durchschimmern.

In dem Buchtitel gebenden Gedicht „Sieben Meere“ heißt es: Keine Zeit mehr / für Weiß, Schwarz, Sichel, Hammer / Grün und Rot, Streifen, Sterne / Kreuze, Moscheen, Tempel / keine Zeit mehr / … / Hinter der Zukunft / Sieben Meere der Hoffnung.
Wie düster auch immer die Welt aussehen mag, an ihrem Ende und am Ende des Verstandes steht immer eine Hoffnung, wenn man offen und bereit genug ist, diese wahrzunehmen. Dazu ruft er auf. Das ist die Botschaft, sollte es eine geben. Das ist die Verführungskunst des Dichters. So lasse ich mich gerne verführen.

Lubomirski ist ein Nomade zwischen Himmel und Erde, ein Nomade zwischen Zeiten, Menschen und Ländern. Sein lebenslanges Reisen findet seinen Niederschlag in Gedichten über seine Wahlheimat Italien, im Näheren Milano, aber sie führen einen in einem ganzen Zyklus nach Sardinien, nach Norwegen, China, Tibet, Japan, Krakau, Cernowitz, auf die Malediven und immer wieder nach Griechenland. ES TÖNT DIE LUFT / vom Blühen der Linden; / aber / in der Tiefe des Baumes / schläft ein Boot / über den Styx.

Obwohl oder gerade weil L. fast sein ganzes Leben mit und in der Sprache verbracht hat – es ist sein 14. Gedichtband – weiß er um ihre Grenzen und die Gefahren des Sprachgebrauchs. L. glaubt nicht an große Welterklärungen, sondern steht immer voller Staunen vor Rätseln, die oft eine schöne Gestalt haben, aber nicht zu lösen sind. DEZEMBERTAG / Ich weiß nicht, / was mir die Sonne / erzählen wollte. / Aber ich ahne, / dass es etwas sehr / Schönes war.

Oft nimmt L. einen scheinbar kleinen Gegenstand ins Auge – eine Blume, einen Baum, Stein, Vogelflug, Ort, Traum und lässt daraus einen ganzen Kosmos entstehen.

ALB / Mir träumte / ich war eine Maus / Und du / eine lautlose Eule. / Und als ich erwachte, / staken im Herzen / geschliffene Krallen.
GEDICHTE / Die Eisblumen / der Erwartung.
KEIN VULKAN / speit / fremde Lava.
EWIG LEBEN? / Wem?

Man erlebt die Wucht der Schlichtheit, das kleinstmögliche Chaos gebändigt in Form eines blitzenden Aperçus.

Welche Welten und philosophische Gedankenräume können aus nur fünf, drei Worten sich auftun, wenn sie so aufgestellt sind, wie Karl Lubomirski es tut.
Ich stehe in Staunen und Dankbarkeit vor Wundern und muss immer wieder innehalten: Er kennt mich. Er meint mich. Er hat mich durchschaut, erkannt und will mir nichts Böses. Von wem lässt sich so etwas schon sagen. Er hat mich in unserer gemeinsamen, wie lange vergessenen Ursprache angesprochen. Von der Lyra eines Orpheus im Lorbeerhain angeschlagen, die Klangschale im Wind.

Lubomirski lesen heißt, eine Reise machen durch die Herzen der Menschen, seines ist das erste, das er auftut. Von diesem liebenden Dichter lasse ich mir freiwillig und freudig ins Herz greifen.

Veröffentlicht unter dem Titel: Eine Reise durch die Herzen der Menschen. Gedanken zu Karl Lubomirskis Gedichten. In: Der literarische Zaunkönig – die Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft, Ausgabe 3/2016

Pfingsten 2016

Veronika Seyr
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