Der Railjetsimulator

Wenn ich nicht mehr Bahn fahre, kann ich auch nicht mehr schreiben. Ich überlege mir, eine alte Waschmaschine so umzubauen, dass ihr Schwungriemen eine Plattform rüttelt, auf der ein kleiner Schreibtisch und ein Stuhl stehen. Von einem Beamer aus werden Aufnahmen einer vorüberziehenden Landschaft auf die Wand projiziert. Ich besteige die Plattform, setze mich auf den Stuhl, vor mir auf dem kleinen Tisch – mein Laptop. Über eine Fernbedienung nehme ich die Waschmaschine in Betrieb. Die Plattform fängt an zu rütteln. Mittels einer zweiten Fernbedienung setze ich den Beamer in Gang. Ich ziehe meine Kopfhörer über. Alsbald tippe ich die ersten Sätze in den Computer. Das genaue Ziel ist ungewiss, sowohl des Schreibens als auch des Rüttelns Ende.

Und irgendwann habe ich aufgehört zu träumen.

Zurück ins Kaffeehaus. Ach, dort kommt endlich die Melange! Eine Zeitung der Herr? Nein danke, hab schon eine. Danke sehr! Ich winke ab. Wieder in die vor mir liegende Zeitung starrend. Hochwasser. Wo? Und? Was ist jetzt mit dem Hochwasser, mit dem depperten? Das geht jetzt schon seit Tagen so! Land unter, was? Gott sei Dank bin ich nicht in Bombay oder Lagos. Was sollte ich auch dort? Jedes Jahr dasselbe mit dem Wetter. Ich finde den Regen herrlich! (Er macht so schön depressiv, aussichtslose Katastrophenstimmung, passt so richtig zu meinem Inneren.) Und mit ein wenig Glück geht die Welt vielleicht doch unter (Der kleine Benedikt, Zitat aus „Der Salzbaron“), und man muss seine Kredite nicht mehr zurückzahlen oder braucht nicht mehr arbeiten zu gehen, weil alles unter Wasser ist.

Der Staat kommt für die Frühpension für alle auf. Sicher. Und das Wetter ist längst nicht mehr das, was es einmal war, sagen manche. In den Sechzigern hat es noch meterhohen Schnee gegeben. Richtige Schluchten hat der Schneepflug in die Straßen gegraben. Heutzutage kennt man sich ja nicht mehr aus mit dem Wetter. Im Sommer schneit es, im Winter hat es zwanzig Grad plus und mehr. Wer soll das ertragen? Mein Herz ist irritiert! Und erst der Kreislauf! Hilfsmannschaften bekommen Orden verliehen, typisch österreichisch! Orden verteilen. Monarchistische Altlasten. Fürs Sandsack-Legen! Ich halt’s nicht aus. Noch ein Kaffee.

Nun gut, wenn wir diese Leute nicht hätten, wer weiß? – Bitte sehr, der Verlängerte. Darf’s was dazu sein? – Danke, nein. Ich habe die Ahnenpässe meiner Eltern mitgebracht. Und Heiratsurkunden und so Zeug eben. Alles, was man für den Einstieg in eine Familienchronik eben braucht. Mein Gott, wer soll denn das alles lesen? Noch dazu in Kurrent! Also, Trauungs-Schein, Diözese Brünn. Na bitte, geht ja gar nicht so schlecht. Trauungsschein – Testimonium copulationis. Wenn man sich mit jemandem verbindet, zusammen ist, natürlich. Wurde gar nicht viel drum herumgeredet, damals. Beischlaf- oder auch Begattungslegitimation nenne ich das. Wie das klingt? Königreich Böhmen, Regnum Bohemiae. Wunderschön, nur leider längst nicht mehr wahr. Bezirksgericht Brünn. Blatt 403. Numerus currens zwölf. Der Bräutigam (sponsus) Stanislav K. Die Braut (sponsa) Frau Emilia O. Am sechsten November eintausendneunhundertsieben in Brünn. Dort drüben sitzt auch so eine aufgeputzte Yuppie-Tussi.

Was hat die andauernd zu telefonieren? Stundenlang ist die schon am Handy dran, unglaublich! Nee, so lange bin ich ja noch gar nicht hier. Aber immerhin. Wenn sie wenigstens leise spräche! Manche Menschen sind einfach nicht in der Lage, sich selbst in Relation zu den anderen zu sehen! Man kann hier ganz einfach nicht in Ruhe lesen! Seufzer. Das Leben scheint mit zunehmendem Alter wirklich ernster zu werden. Sollte es nicht leichter werden, verdammt noch eins? Wo doch ohnehin so gut wie alles bereits Vergangenheit ist. Was soll denn noch kommen, bitteschön, fragt man sich? War alles da. War alles schon einmal da. Jetzt werden die alten Hits wieder aufgewärmt, aus den Sechzigern. Auch schon was. Die Dichter schreiben Shakespeare um, anstatt sich selber was einfallen zu lassen! Die geht mir unheimlich auf die Nerven mit ihrer Telefoniererei! Ah, der Kaffee ist heiß, Donnerwetter! Die Milch hätt’ er sich sparen können. Hab ich schwarz gesagt oder nicht? Ignorant!

So ein familiärer Rückblick muss sehr genau beobachtet werden. Jede Entwicklung einzelner Personen darf nicht nur zur Routine werden. Es bedarf einer sorgfältigen Analyse der Fakten inklusive der Erläuterung diverser Auswirkungen auf andere Mitglieder der Familie, ähnlich der akribischen Arbeit, wie es Agenten tun würden. Man müsste bei der Niederschrift auch darauf achten, nicht bloß Satzellipsen stehen zu lassen oder rein rhetorische Fragen zu stellen, die letztendlich dann doch nicht beantwortet würden. Einer Überwachungskamera gleich beobachten. Insofern würden sich derartige Beobachtungen für den Unbeteiligten möglicherweise insistierend darstellen, vielleicht mit sarkastischen Zügen versehen und der logischen Frage, ob man je versucht hätte, vor solch einer Kamera beispielsweise unschuldig zu wirken?
Schließlich stellt man das Ergebnis unter den Scheffel der heutigen Gesellschaft, zeichnet ein möglichst genaues Bild derselben, dieses in ein System gedrängt, mit der Aussicht, Panik und Angst zu schüren, auf alle möglichen Bedrohungen aufmerksam zu machen, wie es heutzutage ja ein Leichtes ist, blickt man einmal kurz von seinem Boulevardblättchen hoch, und – wieder kurz zu Bewusstsein gekommen, das Ganze mit dem Nachsatz versehen, dass nämlich nichts besser würde, auch in der weiteren Zukunft nicht. Mit dieser Aussicht im Gepäck scheint es gar nicht so schwierig, die Haarnadelkurve in die Zielgerade der socalled „guten alten Zeit“ zu kriegen.

Apropos. Es ist vielleicht drei Jahre her, da fahre ich mit dem Abendzug zurück, von dort, wohin ich in der Früh immer fahre, immer hin und aus Richtung Westen. Eine Fahrt ohne Zwischenfälle, ruhig, wenig Passagiere, also kein Lärm, kein sinnloses Handygequatsche wie hallo, ich bin hier wo bist du?, und so weiter und was machst du eben – wen interessiert das bitte?, eine verfluchte Erfindung wahrlich!, und keine sonderliche Geruchsbelästigung, denn zahllose Mitmenschen halten offensichtlich nicht viel von Körperpflege und tragen das selbe Hemd und die selbe Hose, von der Unterwäsche ganz zu schweigen, offensichtlich mehrere Tage hintereinander.

Winter ist’s, auch wie immer in diesem Land, hat man den Eindruck. Ich verkable mich, und auch das wie immer, gleich nachdem ich es mir im Abteil zurechtgemacht habe und lege einen Film in den Laptop ein, damit die Zeit rascher vergehen möge. Ich weiß es nicht mehr, was es für ein Film war. Jim Jarmusch – Mystery Train – war’s nicht, das weiß ich mit Sicherheit. Egal. Er hätte mit Inhalt und Ausgang der Geschichte ohnehin nichts zu tun. Ich sehe also den Film zu Ende, während auch die Reise langsam ihrem Ende zugeht, packe meine sieben Sachen zusammen und gehe durch die zahlreichen Waggons in Richtung vorderen Zugteil, wobei ich auch durch jenen Wagen muss, der direkt hinter der Lok hängt, um dann, wenn er am Bahnhof ankommt, gleich zu allererst aussteigen und die U-Bahn erreichen zu können. Es ist ein Erste-Klasse-Waggon. Nicht, dass ich immer bloß Zweite Klasse fahre, es kommt auch vor, dass ich die Erste Klasse benutze und dann eben aufzahle, womit ich sagen will, sie ist mir ebenso vertraut wie die Zweite Klasse, jedoch benütze ich aus Kostengründen in der Mehrzahl die Zweite Klasse.

Als ich also die Schwingtüre dorthin durchschreite, kommt mir schon ein ziemlich aufgebrezelter, äußerst wohlbeleibter Schaffner entgegen, grußlos, wohlgemerkt, kein guten Abend, keine guten Irgendwas wünschend, nichts eben und schmettert mir in perfektem Meidlingerisch – He, hallo hallo, junger Mann, do kennan S’ oba net net durchgehn – entgegen. (Hier können Sie nicht durchgehen) Austria as it is – Charles Sielsfield, alias Karl Anton Postl, ausgewanderter Österreicher und Schriftsteller zahlreicher Romane und Betrachtungen, achtzehntes Jahrhundert, hätte seine wahre Freude daran gehabt, wenn er in der Gegenwart recherchiert hätte. Zuerst bin ich baff, um ehrlich zu sein, ich konnte zunächst gar nicht glauben, dass das jetzt die Wirklichkeit sein soll, in der ich mich befinde. Ich sehe ordentlich aus, keine zwanzig, fünfzig auch nicht mehr sondern – egal, den Schaffner schätze ich auf fünfundvierzig, bin schwarz gekleidet, schwarzer Mantel, Hose, Schuhe ebenso, schwarzen Trolley nachziehend. Sehe also nicht gerade wie ein Penner aus. (Ich bin wirklich froh über mein „r“ im Namen.) Habe eine intellektuelle Brille auf der Nase und bin plötzlich nicht würdig, durch einen Erste-Klasse-Waggon zu gehen.

Äh – ich gehe nur durch, sage ich anfangs schüchtern, zum vorderen Ausgang, weil ich gleich aussteige, alles in der Hoffnung, der Bahnangestellte würde sich vielleicht getäuscht, geirrt oder was auch immer haben, und der Satz sei ihm ganz einfach nur herausgerutscht, sodass ich hoffte, er würde ihm auch gleich wieder hineinrutschen. Doch da sollte ich mich irren. Nichts da. Genau – sagte er zu meinem neuerlichen Erstaunen, do däafn S’ net durchgehn, des is a Easchte Klass. (Da dürfen Sie nicht durchgehen usw.) Nun habe ich ja schon viel erlebt in diesen Zügen der sogenannten Staatsbahnen, schließlich fahre ich schon mehr als dreißig Jahre wöchentlich damit und da gibt es Mannigfaltiges zu berichten. Über spontane Halte wegen Personenschadens, Suizid auf offener Strecke. Also, dafür können die nix, das ist klar. Also zwei Stunden Wartezeit. Wegen eingefrorener Weichen ebenso wie aufgrund abzuwartender Anschlusszüge. Verspätungen wegen Betriebsstörungen bis zu Mitteilungen, Montagmorgen, man hätte keine Lok und müsse erst eine suchen. Ich habe mich, soweit es ging, nie aufgeregt deswegen, was auch sinnlos gewesen wäre, denn an der Abfahrtszeit hätte sich ohnehin nichts geändert. Auch nicht daran, dass in den Abfallkästen nahe den Sitzen der Schimmel regierte, und gar oft schon eine übelriechende Flüssigkeit, Reste aus Cola, Kaffee oder sonst was munter darin vor sich hinstank und schwappte.

Dass sämtliche Toiletten gleichzeitig kaputt waren, bis auf die im vordersten Waggon, der Ersten Klasse, dass es keinen Strom für den Computer gab oder überhaupt zu wenig Sitzplätze, weil man überzählige Waggons aus unerklärlichen Managementfehlern irgendwo anders halbleer herumkutschieren ließ, dass im Winter die Heizung nicht funktionierte und sich im Sommer in manchen Waggons nicht abschalten ließ, bis hin zu dem Satz, den einer der zahlreichen Generäle einmal abgelassen hatte, man wäre als Angestellter ja ohnehin bloß Bittsteller.

Auch wurscht. Dann aber gibt es noch die alljährlichen Sanierungsarbeiten am Gleiskörper. Die machen einen Schienenersatzverkehr nötig. Und das geht so – ich komm gleich zurück auf meinen Schaffner – also, da stehen in einem gewissen Ort Busse zur Verfügung, die die Reisenden in jene Orte bringen, die nun, über mehrere Wochen hindurch, per Bahn nicht passierbar sind. Nun fahren aber diese Busse durchs Unterholz, halten an Hütten, an denen nie jemand ein-, geschweige denn aussteigt und klettern mühsam versteckte Serpentinen hoch, um endlich mit Verspätung dort anzukommen, wo man eigentlich mit dem Zug hätte pünktlich ankommen sollen. Aber dort ist der Anschluss weg. Das bedeutet eine Stunde länger warten. Oder man ruft ein Taxi. Ist ja alles gratis. Hervorragendes Regionalmanagement, wirklich! Da gibt’s nichts zu meckern.

Nun gut, also der Schaffner verbietet mir, durch die Erste Klasse zu gehen. Jetzt komme ich ihm mit der Logik, dass es keinen Sinn mache, mich nicht durchzulassen, da ich ja ohnehin nicht Platz nehmen möchte, und wenn, könnte es ihm auch Pappendeckel sein solange ich bezahlte. Nein, das geht nicht und blablabla. Dann werd ich aber langsam grantig und fordere ihn auf, mir zu zeigen, wo dieses Verbot, hier nicht durchgehen zu dürfen, denn stehe. Weiß er nicht, aber es ist so. Ich sehe rot, das merke ich an meinen Herzrhythmusstörungen. Er soll zur Seite gehen, damit ich da durchgehen kann, und er sei ein Kasperl und solle sich nicht so aufführen. Da sieht er rot und stammelt irgendwas Wienerisches, von wegen ich solle mich aus dem Abteil entfernen, ich belästige die Gäste. Jetzt kriege ich aber meinen Anfall und niemand ist da, der mir die Schläfen massiert und mich davon abhält, ihm zu sagen, was für eine jämmerliche Figur er sei und dass er mir sofort Namen und Dienstnummer geben solle und er würde von mir hören. Das tut er auch, indem er meint, er wäre der Zugchef, Zuckscheff! (sic) 238 oder so, hähähä – schmettert und fett übers breite violett-rote Gesicht grinst.

Mir zittern die Knie vor Wut, und ich nehme meinen Koffer und ziehe mich mit den Worten – das gibt ein Nachspiel, Sie Kasperl – zum hinteren Ausgang zurück. Da hält der Zug auch schon am Endbahnhof. Wütend und rot im Gesicht klettere ich die Stiegen hinunter auf den Bahnsteig. Am vorderen Ausstieg steht der Zuckscheff und streckt seinen Bauch zur Tür heraus. Er lacht. Sie hören von mir, Sie Kasperl Sie!, rufe ich ihm zu und wende mich Richtung Ankunftshalle.

Zu Hause angekommen – meine Frau bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, beichtete ich ihr in allen Details mein Missgeschick mit der staatsbahnlichen Obrigkeit und dass hier immer noch Hof gehalten würde wie in der Kaiserzeit, Relikt aus grauer Vorzeit, denn die Pensionen haben sich die feinen Herren gleichfalls aus diesen Zeiten zunutze gemacht, weil sie ja so wahnsinnig schwer arbeiten, sage ich giftig zu meiner Ehehälfte. Aber ich ernte wenig Verständnis. Man ist am Ende dann doch immer allein.

Tags darauf tippte ich bereits früh am Morgen heftig in die Tasten und beschwerte mich bei der für Bahnangelegenheit zuständigen Schlichtungsstelle über die bodenlose Schikane, die mir da am Tag zuvor im Abendzug wiederfahren war und forderte, dass sich dieser herrschsüchtige und amtsanmaßende Zugbegleiter schriftlich bei mir für sein offensichtliches Fehlverhalten zu entschuldigen hätte.

Die Antwort, die ich nach vierzehn Tagen erhielt, fiel jedoch alles andere als befriedigend für mich aus, wie ich sie in meinem Gerechtigkeitsstreben erwartet hatte. Der Zuckscheff war einvernommen worden und hätte zu Protokoll gegeben, dass ich in aggressiver Weise versucht hätte, mich an ihm vorbei durch den Korridor in die Erste Klasse zu drängen und er mich daran gehindert hätte, die Fahrgäste der Ersten Klasse weiterhin zu belästigen. Zack! Die halten also alle zusammen, waren meine ersten Gedanken, komme da was wolle! Allerdings räumte man mir ein, dass es kein derartiges Verbot gäbe, durch die Erste Klasse gehen zu dürfen. Ich nahm meine Brille ab und schluckte. Da gab es für mich nur einen einzigen Satz, mit dem ich die überschüssige Luft ablassen konnte – ihr könnt mich doch allemal!, schrie ich durch das Zimmer, beendete das Programm und fuhr den Computer herunter. Luft – alles was ich jetzt brauchte – war Luft!
Und einen Railjetsimulator.

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Roman „Am Ende ist man doch allein“ – in Entstehung

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