Vierzig Minuten oder Einmal Parallelwelt und wieder zurück bitte

Wie sehr du dich auf deinen eigenen Bahnen kopierst, wird dir klar, wenn du einmal eine durch Zufall verlässt. Beinahe verloren findest du dich in einem Universum wieder, das zwar dem deinigen ähnelt, aber durchdringend befremdlich wirkt. Ein nicht greifbares Unbehagen: Was ist denn da bloß los? Dabei fing wie meistens alles ganz harmlos (wenn auch ungustiös) an.

Zwei Kater, die sich mit Diarrhö abwechseln (ja, das ist das Grausliche, wofür man sehr gerne ein Fremdwort verwendet …), seit Tagen schon. Leichte Besserung, aber dann genau am Freitagmorgen, merde alors. Eigentlich sollte der Bus um 6 Uhr 40 fahren. Er tut es auch, unbeeinträchtigt vom merde alors irgendwelcher Katerbrüder. Es sind ja deine Katerbrüder, und du willst nicht, dass sich das merde alors im ganzen Haus verbreitet durch Katerpfoten, also ran an die Handschuhe und den Putzkübel, und das um kurz nach halb 7 in der Früh. Brrrrrrr.

Die Segnungen der Gleitzeit ermöglichen es dir, nach dem Brrrrrrr eine Dusche sowie einen späteren Bus zu nehmen. Du sitzt also vierzig Minuten später als sonst im Beförderungskübel Richtung Arbeit.

Entweder du bist anders als sonst. Oder das Drumherum. Das ist nämlich viel agiler als gewohnt. Während gegen sieben Uhr morgens die zu Befördernden in ihren Sitzen hängen wie angezählt und kaum ein Auge offenhalten können, was dir sehr entgegenkommt (du bist schließlich eine von ihnen), bietet sich nun ein gänzlich anderes Bild. Wo ist er hingekommen, der junge Mann, der so selig vornübergebeugt mit dem Kopf auf der Brust schläft, von der ersten Sekunde an, wo du seiner ansichtig wirst? Er ist um diese Zeit längst am Ziel seiner Träume.

Du hingegen sitzt nun inmitten einer Schar Halbwüchsiger, die es gar nicht erwarten können, sich via Snapchat auszutauschen. Wäre ja an sich die Stillbeschäftigung par excellence, sollte man meinen, doch weit gefehlt! Zur Benützung dieses Dienstes gehört anscheinend, einander über mehrere Sitzreihen zuzurufen, wenn ein Bild besonders sehenswert ist, und es in einfachen Worten aber lautstark zu beschreiben. Damit der andere das ja nicht verpasst. Du denkst an die zweite Bedeutung von „verpassen“, doch es reicht nicht einmal fürs Zuendeführen des Gedankens, geschweige denn zur Ausführung.

Nach ungefähr zwanzig Minuten merkst du, wie du gezwungenermaßen munterer wirst. Es mag auch an dem Volksmusiksender liegen, den sich jeder Busfahrer, der halbwegs bei Trost ist, um diese Zeit verkneifen würde. Nein, nicht dieser. Der ist aus einem anderen Holz geschnitzt, outet sich gerne als Fan und versucht wacker, die muntere Meute zu übertönen. Schließlich gehört Lautstärke zu wahrer Hingabe einfach dazu. Dein Aggressionspegel, üblicherweise um diese Zeit nicht einmal in mikroskopisch nachweisbaren Ansätzen vorhanden, steigt in sehr wahrnehmbare Dimensionen.

Wo du ansonsten schlummernd und höchstens bei Sitznachbarwechsel kurz freundlichst und höflich aufmerkend (Ist da noch frei? Selbstverständlich …) den Einstieg in die morgendliche Umgebungswelt meisterst, bist du nun ein völlig anderer Mensch, ein genervter, unfreundlicher, der sich am liebsten wieder Richtung heimatliche Gefilde bewegen würde, anstatt weiter in feindliches Terrain vordringen zu müssen.

Du räsonierst. Warum diese vermaledeiten vierzig Minuten dich so aus der Bahn geworfen haben. Für die Erforschung dieser Innenwelten gibt es ein probates Mittel: Du zückst dein stets mitgeführtes Notizbüchlein und beginnst zu schreiben:

Vierzig Minuten oder Einmal Parallelwelt und wieder zurück bitte.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17183