Die Fährte

Sie saß auf der Bank vor dem Haus, lehnte sich an die Holzvertäfelung und schloss die Augen. Die Morgensonne wärmte ihr Gesicht. Die Tasse Kaffee hielt sie mit beiden Händen umschlungen, wie sie es jeden Morgen machte.  Es war Samstag und ihr Mann war auf Geschäftsreise. Wieder einmal, wie so oft, war sie alleine. Nur der Anwesenheit des Hundes, der neben ihr in der Wiese lag, war es zu verdanken, dass sie sich nicht einsam fühlte. „Er wird an deiner Seite sein, wenn ich unterwegs bin“, meinte er damals, als er mit dem kleinen Welpen im Arm in der Tür stand. Sie hatte Freude an dem Hund, vom ersten Tag an. Doch der Ehemann war nun immer öfter für Tage unterwegs.

Der Ruf des jungen Mäusebussards im angrenzenden Wald ließ sie aufhorchen. Sie hob die rechte Hand und beschattete ihre Augen. „Was will er uns wohl mitteilen, Hank?!“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zum Hund. Dieser hob den Kopf, den er vorher auf seine Vorderpfoten abgelegt hatte, und spitzte die Ohren.

Hank erhob sich und trabte Richtung Waldrand. Sein dunkelbraunes Fell glänzte in der Sonne, seine Bewegungen waren elegant, beinahe katzenhaft. „Hank, bleib hier! Du sollst nicht alleine in den Wald!“, rief sie ihm hinterher. Doch Hank war nicht beeindruckt. Dies war völlig untypisch für den normalerweise sehr folgsamen Hund. Sie erhob sich von der Bank, stellte die Kaffeetasse ab, pfiff auf zwei Fingern und wartete. Nichts.

Plötzlich nahm sie es wahr. Der Wald, die Stimmung, das Licht – alles war anders an diesem Morgen. Obwohl ein lauer Wind wehte, rührten sich die Blätter der Laubbäume nicht. Alles schien erstarrt, der Wald lag ruhig vor ihr, der Mäusebussard war verstummt und der Hund verschwunden. Die zarte Frühlingssonne tauchte alles in samtig gelbes Licht, die Umgebung schien von einer hauchdünnen Seidendecke eingehüllt. „Wie die Ruhe vor dem Sturm“, dachte sie.
„Hank!“, rief sie – doch sogar ihre Stimme schien von dem Licht verschluckt zu werden.

Sie holte den Mantel vom Haken in der Garderobe, schloss die Tür ab und ging in den Wald. Ihre Schritte auf dem Schotterweg waren kaum zu hören, als ob sie mit Schalldämpfern an den Schuhen unterwegs wäre. Sie folgte dem üblichen Weg, den sie sonst gerne mit dem Hund spazierte. Irgendwo musste er doch zu finden sein? An der Weggabelung angelangt, blieb sie stehen und schaute in beide Richtungen. „Hank?“ Es war nun kein Rufen mehr, eher ein fragendes Flüstern. Und dann sah sie ihn! Die Rute des Hundes war noch zu erkennen in der Ferne, als er um eine Baumgruppe bog. Er trabte den Hügel hoch, der in ein ziemliches Dickicht führen würde.

Ihre Schritte wurden schneller, ihr Herz pochte und nun wurde sie nervös. Sie kannte ihren Hund nicht mehr, er war die ganzen Jahre noch nie weggelaufen. Der Aufstieg erwies sich als sehr mühsam, der Waldboden war locker und teilweise rutschte sie weg. Manchmal musste sie sich an einem Baum hochhanteln, so steil war es. Aber nun war wenigstens der Hund nicht mehr weit von ihr entfernt. Manchmal drehte er sich um, wartete ein Weilchen und lief dann wieder voran.

Endlich war sie bei ihm angekommen. Noch nie war sie in dieser Gegend gewesen. Sie spürte einen leichten Windhauch in ihrem schweißnassen Nacken, doch auch hier war der Wald lautlos, regungslos. Sie lehnte sich an einen Baum, musste tief Luft holen und stützte sich mit den Händen auf ihren Knien ab. „Hank, was ist heute los mit dir?“ Der Hund hechelte ein wenig, sah sie an, machte dann auf den Hinterläufen kehrt und trabte einen schmalen Pfad entlang, der zu einem großen, spitzen Felsvorsprung führte. Dann blieb er abrupt stehen, verharrte, hob gleichzeitig einen Vorderlauf und winkelte diesen an. Sie dachte, er hätte wohl Wild entdeckt in der Ferne und folgte ihm langsam. Hank starrte in eine Richtung, die für sie noch nicht frei einzusehen war. Dann war ein leises Winseln von Hank zu vernehmen, nur kurz. Hank ging vier oder fünf Schritte rückwärts, zog die Rute ein und legte sich hin.

Aufmerksam folgte sie dem Pfad – dann stand er plötzlich vor ihr, etwa vier Meter höher auf dem Felsvorsprung. Ein beeindruckendes Tier. Die bernsteinfarbigen Augen fixierten sie, ihre Blicke trafen sich. Sie blieb stehen und hielt gleichzeitig den Atem an. Der Wolf hatte graubraunes Fell, einen kräftigen Nacken, er war gut genährt und strahlte Dominanz aus. Der Wind streifte über sein Fellkleid und malte Schattierungen. Sie konnte sich nicht losreißen von seinen Augen, sie schienen so klug, so allwissend und doch auch warnend. In ihren Adern pulsierte es, ihr ganzer Körper schien zu glühen. Es war keine Angst, die sie verspürte, es war eine freudige Erwartung von etwas Unbekanntem. Ganz langsam und ruhig näherte sich dem Wolf nun von der hinteren Seite ein weiteres Tier. Es war etwas kleiner und nicht ganz so imposant, aber mit ebenso wunderschönen, bernsteinfarbigen Augen. Dahinter waren nun auch drei oder vier Welpen zu sehen, ganz jung mussten sie noch sein. Es war also die Fähe, die dem Rüden neugierig folgte, jedoch respektvolle Distanz hielt.

Der Wolf fixierte sie noch eine Weile, leckte sich dann die Schnauze und wandte sich ab. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie so dagestanden hatte. Es kam ihr vor, als wären es Stunden gewesen. Als sie sich zu Hank umdrehte, lag dieser immer noch unterwürfig auf dem Pfad. Sie flüsterte: „Hank, komm, wir gehen.“ Er erhob sich ruhig und ging langsamen Schrittes voraus.

Nun war das Blätterrauschen wieder zu hören, ihre Schritte waren nicht mehr gedämpft, ein helles Licht durchflutete die Bäume. Als würde der Wald nun wieder atmen.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. „Hallo mein Schatz, wo warst du bloß so lange? Ich hab dich schon ein paar Mal am Handy angerufen. Du hast es daheim liegen lassen!“ Ihr Mann drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich konnte schon das frühere Flugzeug nehmen. Na, ist das eine freudige Überraschung?“ Er half ihr aus dem Mantel und genau in diesem Moment nahm ihre Nase Witterung auf! Wie ein Blitz durchdrang dieses fremde Parfum ihre Riechsinneszellen. Er ließ den Mantel fallen und wich zurück. Sie stand imposant vor ihm, mit gekräuseltem Nasenrücken, bebenden Nasenflügeln und bernsteinfarbene Augen starrten ihn durchdringend an.

Manuela Murauer
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