Paradies
Sie kennt das Gefühl schon: wenn ihr Herz rast und der Schweiß auf der Stirn steht. Diese innere Unruhe, dieses Gefühl, weder real noch unreal zu sein. Am liebsten nimmt sie an solchen Tagen ihr Feuerzeug mit und kauft sich auf dem Weg nach Hause eine Packung Zigaretten. Im Wald – sie lässt ihren Toyota am Rand der Forststraße stehen – läuft sie herum, ohne Ziel. Ein Zug an der Zigarette. Einmal die Zigarette gegen die nackte Haut drücken, dort, wo sie Jacke, Pullover hochgezogen hat und wo schon ein paar hellrote, kreisrunde Stellen die weiße Haut vernarben. Tief einatmen. Die Tränen kommen von selbst. Dann heult sie. Sie rennt heulend herum, bei jedem Wetter, im strahlenden Sonnenschein und im dichtesten Schneegestöber.
Sie fühlt sich, als könne sie ihrem eigenen Leben nicht entkommen. Deshalb rennt sie. Gegen die Zeit, gegen die Leere, gegen sich selbst. Manchmal kommt das Gefühl wochenlang gar nicht, dann trifft es sie, mit einem Schlag, so einengend, so brutal überwältigend, dass sie in ihrer Firma aufs Klo flüchtet, einen Schluck aus dem Wodkafläschchen in ihrer Handtasche nimmt und noch einen und noch einen. Danach geht sie zurück und arbeitet weiter, als wäre nichts gewesen. Manchmal baut sich das Gefühl schon tagelang auf, breitet sich aus, wie Wasser, das langsam durch ein Leck in ein Boot sickert. Sie nimmt dann die Zigarettenschachtel vom Regal im Vorzimmer und legt sie in das Handschuhfach. Das gibt ihr ein beruhigendes Gefühl von Zuversicht.
An Tagen, an denen es besonders viel wird, steigt sie in den feuerroten Toyota und nimmt den langen Weg nach Hause, nicht über die Bundesstraße, sondern über die Dorfstraßen und den Waldweg. Sie kennt die Route mittlerweile auswendig, weiß, bei welcher Kurve sie bremsen muss, wo es Schlaglöcher gibt und wo der Wald so nah an die Straße kommt, dass ein entgegenkommendes Auto gar nicht vorbei kann.
Dort drinnen, tief zwischen den Bäumen, gibt es eine kleine Einbuchtung, kurz bevor ein Trampelpfad rechtwinkelig abbiegt, auf dem manchmal Traktorspuren den weichen Boden aufwühlen – dort lässt sie das Auto stehen, holt die Bergschuhe aus dem Kofferraum und rennt los.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit durchtränkt mit sinnlosem Schmerz, steigt sie zurück ins Auto. Sie fährt nach Hause, frischt ihre Wimperntusche im Autospiegel auf und holt ihre Tochter vom Kindergarten ab.
Heute fährt sie langsam, die Straße spiegelt sich, der Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe. Der Regenponcho und die Bergschuhe liegen schon bereit. Sie ist alleine, schon seit zehn Minuten kommt ihr kein anderes Auto entgegen. Bei der Einbuchtung bleibt sie stehen. Auf der anderen Straßenseite ist eine große Fläche gerodet worden, ein mit Baumstämmen beladener Anhänger steht einsam in der Mitte. Eine große Tafel wurde errichtet, doch ihre beschriftete Seite zeigt zur anderen Straßenrichtung.
Sie steigt aus, zieht sich die Bergschuhe an und den Regenponcho über. Die Zigaretten und das Feuerzeug schiebt sie in die Hosentasche. Langsam geht sie los, umrundet die Tafel, die mit jedem Schritt bedrohlich größer wird, und als sie auf der anderen Seite steht, brüllt ihr die Tafel in neonorangen Buchstaben entgegen: „Hier entsteht ein Naherholungszentrum. Ein Kletterpark, Ausflugshütten, Wanderwege und ein Parkplatz für zweihundert Autos sind in Planung. Willkommen im Paradies!“
Während der Regen langsam seinen Weg über das Gesicht und in den Nacken sucht, um schließlich in kleinen Rinnsalen über den Rücken zu fließen, steht sie nur da. Zum ersten Mal seit Langem hilflos in ihrer eigenen Verzweiflung.
Nene Stark
www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18120