Sieben Leben hat die Katze - Teil II
I
In dem Bierzelt war es laut. Eine Musikgruppe spielte lieblos altbekannte Lieder, Männer grölten, wieder trinkende Männer, doch diesmal in anderer Umgebung, dazwischen Frauen, einige Pärchen tanzten.
Der kleine dicke Mann erzählte Anna von seiner Frau und den Kindern und dass er ein Haus gebaut hatte. Er sah traurig aus dabei. Anna hörte nicht mehr zu. Sie hörte die klagende Melodie seiner Sätze. An seinen Blicken und Gesten erkannte sie, wann er ein freundliches Lächeln, eine ermutigende Geste erwartete und sie spielte mit.
Ein großes dunkles Mädchen setzte sich neben Gert und sprach Anna an: „Ich bin die Beatrice. Ich habe in dem Gasthaus, wo du jetzt bist, gearbeitet. Der Wirt hat mich an dem Tag, bevor du gekommen bist, entlassen.“ Anna sah sie bestürzt an. Sie hatte sich bisher noch nicht überlegt, dass dieser Ort, dieses Gasthaus schon vor ihrer Ankunft dagewesen waren und dableiben würden, wenn sie ging. „Es tut mir leid“, sagte sie unentschlossen.
Beatrice lachte. „Mach dir keine Gedanken, der Wirt macht das immer so, wenn er weiß, dass er eine ausländische Studentin kriegt für den Sommer. Ihr seid einfach billiger. Er bezahlt keine Steuern für euch. Und ich, ich arbeite bis Herbst eben in Basel.“
Hans nahm Annas Hand und zog sie mit sich fort. Anna tanzte mit ihm. Schüchtern und stolz hielt er sie im Arm. „Lass uns weggehen von hier. Ich habe ein eigenes Zimmer im Haus meiner Eltern.“ Anna antwortete ihm nicht und Hans sah unglücklich zu Boden. Anna bemerkte es nicht.
Sie setzten sich wieder zu den anderen. „Sind sie nicht merkwürdig, die Leute hier, sie saufen und saufen und denken, sie feiern, aber sie tun ohnehin jeden Tag das Gleiche. Ich hatte sie schon satt, bevor ich zurückkam“, sprach Gert sie an. „Wo warst du?“, fragte Anna. „Überall und nirgendwo, ich habe gearbeitet auf einem Schiff, habe mir ein wenig die Welt angeschaut.“ Gert sah sie direkt an und grinste wieder.
Zaghaft meinte Hans zu Beatrice: „Ihr könntet mit zu mir kommen. Ich habe noch eine Flasche Gin zu Hause und bessere Musik.“ Beatrice war einverstanden. Anna wollte fort von diesem Fest, das keines war, weg von Gerts Blick.
Beatrice fuhr vorsichtig mit ihrem Auto hinter Hans her, der mit einem Mofa vorausfuhr und ihnen den Weg zeigte. Anna war betrunken. Wenn sie die Augen schloss, wirbelte sie herum. Sie klammerte sich an den Autositz.
Dann saßen sie in dem engen Zimmer von Hans. Große dunkelbraune Betten verdeckten eine Wand, ein riesiges dunkelbraunes Bett füllte den Raum, an einem niedrigen Tischchen in der Ecke nahmen sie Platz. Hans machte mit seinem Kassettenrekorder Musik und brachte Gin. Sie tranken aus der Flasche reihum. Anna verstand kaum, was die beiden erzählten, worüber sie sprachen. Gert stand in der Tür. Anna taumelte und sank auf das Bett.
Jemand zog und zerrte an ihr. Sie war nackt. Eine warme Hand griff von hinten zwischen ihre Beine, streichelte sie. Anna drückte die Hand fort. Ein Mann drang in sie ein, gesichtslos blieb er hinter ihr, Anna stieß nach ihm, doch sie tauchte nicht auf aus ihrem Dämmer.
Unter Wasser, alles gleichgültig, ein Stein, ein Tier, eine Pflanze, sie selbst ein gallertiges Wesen, azurblau, türkis, sie trieb fort zwischen Meergras und Tang, Koralle war sie und Blüte, sie lebte, an Land gespült, kein Zusammenhang, die Erde rutschte, sie lebte.
Jemand rüttelte an ihren Schultern. Eine dunkelhaarige Frau, stark geschminkt, hochtoupiertes Haar, hob Anna aus dem Bett und stellte sie unter die kalte Dusche. Immer wieder sackte sie zusammen.
Jemand half ihr auf, zog sie an. Beatrice war da. „Weshalb hast du bloß mit Gert geschlafen, mit diesem elenden Herumtreiber? Hans lag neben mir und weinte die ganze Nacht und du hast laut gestöhnt!“
Anna sah Beatrice fassungslos an.
„Es ist schon bald sieben!“, rief eine Frau ins Zimmer. „Das ist die Mutter von Hans“, stellte Beatrice vor.
Die Frau mit dem toupierten Haar, die Hans‘ Mutter war, brachte Anna mit dem Auto zum Gasthaus. Anna hatte noch Zeit, sich umzuziehen und begann wie immer mit der Arbeit.
Es war Sonntag, ein strahlender Tag. Der Wirt ließ Anna auch im Gastgarten servieren. Eine Gruppe von Radwanderern kam, Ehepaare aßen zu Mittag, eine Hochzeitsgesellschaft feierte.
Anna rannte und brachte Getränke und Essen, mechanisch rannte sie zwischen den Menschen, mehr und mehr aufgelöst, mit rotem Gesicht verlor sie die Übersicht.
Als Anna in dieser Nacht mit dem Wirt in der Küche das Geld zählte, fehlte etwas mehr als der Betrag, den sie an diesem Tag verdient hätte. In dieser Nacht erhielt Anna kein Geld, sie musste dem Wirt etwas bezahlen.
Anna ging hinaus aus der Küche in die Gaststube, der Schlüssel steckte noch in der Tür, sie sperrte auf, ging hinaus in den Gastgarten. Der Himmel war hoch und fern, die Sterne glitzerten eisig.
II
Der Mond versank blutrot im Meer. Die Nacht schlief. Der Ruf eines Käuzchens durchbrach die Stille.
Mit einem plötzlichen Ruck erhob sich Anna, nahm sorgsam Gläser, Weinflasche und Teller mit in die Küche und ging zu Bett. Noch lange starrte sie ins Dunkel, bis sie endlich einschlief.
Wieder erwachte sie spät.
Wolken hatten sich auf den Bergen niedergelassen, die Welt war grau. Sie schritt rasch den Hügel hinab. Entschlossen verließ sie ihren Pfad und nahm den Weg zu Sordos Haus.
Schon von ferne sah sie den hohen, dunklen Bretterzaun, der Hund bellte, Hühner gackerten, im Haus hörte sie ein Klopfen, ihr Herz pochte. Sie rief nach Sordo.
Nach einer Weile öffnete er das Tor. Er sah sie von der Seite an, als wollte er vermeiden, sie richtig anzusehen. Finster und verschlossen schien er. Aber er ließ sie eintreten, führte sie durch den Hof zum Haus, ließ sie dort stehen und verschwand in einem der niedrigen Ställe, die dem Haus gegenüber standen. Mitten im Hof gab es einen alten Ziehbrunnen. Anna setzte sich auf eine Holzbank mit dem Rücken zur Steinwand des Hauses. Ruhig und friedlich war es hier. Sie schloss die Augen, das Leben in ihr wurde still, kam endlich zur Ruhe. Aus dem Stall hörte sie Sordos leises Hämmern.
Sordo arbeitete ruhig, aber innerlich irritiert. Sie war gekommen, um ihm nahe zu sein, das wusste er. Er hatte sich nach ihr gesehnt. Sie war so sanft, so warm, so lebendig. Aber jetzt, wo sie von sich aus gekommen war, schreckte er zurück vor der Begegnung.
Anna kam zu ihm in den Stall. An den Wänden stapelten sich Hasenkäfige. Weiche, stille Tiere, die mit großen Augen schauten. Sordo baute einen Käfig. Unwillig blickte er auf, doch sie lächelte. Sie reichte ihm den Nagel, den erbrauchte, das nächste Brett. Er ließ es geschehen.
So arbeiteten sie schweigend, bis der Käfig fertig war. Er stellte ihn in eine Ecke, holte vorsichtig zwei junge Hasen aus einem Käfig und setzte sie in ihren neuen Stall. Anna freute sich an der Zärtlichkeit, mit der er die Tiere berührte. „Darf ich?“ Sie nahm einen Hasen und streichelte ihn. „Wie weich und schön er ist … Du verkaufst sie?“ „Ja, ich töte sie und dann verkaufe ich sie im Dorf“, sagte er grob. „Du tötest sie selbst?“ „Irgendjemand muss es ja tun.“ „Wenn du sie aufziehst, liebst du sie dann nicht?“ „Ja, ich liebe sie und dann töte ich sie, so ist das.“ Er lachte.
Dann nahm er sie wie schon einmal an der Hand und führte sie in sein Haus. Er zeigte ihr, was er alles verbessert und verändert hatte. Und sie sah, dass es klug war und gut.
Anna spürte, wie in Sordo langsam die Freude erwachte, weil irgendjemand, nein, weil sie da war und achtete, was er tat, diese seltene Kraft in ihm, mit der er sich dem Tun, der Auseinandersetzung mit den Tieren und den Dingen hingab.
Sie lächelte ihn strahlend an, als hätte er ihr ein großes Geschenk gemacht. „Danke“, sagte sie. “Wofür?“, fragte er erstaunt. „Für die schönen Momente dieses Tages.“
Etwas in ihm stockte, ihre Worte trennten ihn ab von der verschwiegenen Vertrautheit, die still und unbemerkt zwischen ihnen entstanden war. Anna spürte sein Unbehagen, doch sie verstand es nicht, sie drückte seine Hand und lächelte, dann ging sie hinaus in ihren Tag.
Sordo blieb wütend zurück. Er hasste die leichtfüßige Art, mit der sie kam und ging. Er hatte Zeit gebraucht zu ertragen, dass sie so selbstverständlich in seine Welt eingebrochen war, schließlich hatte er sich zurechtgefunden, dann war es schön gewesen. Er war wütend, dass sie so einfach fortgehen konnte.
Er schloss die Tür, sperrte Anna und die Welt aus und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Mit einer Axt spaltete er Holz. Die Arbeit entspannte ihn. Sorgfältig sammelte er die Holzscheite ein und stapelte sie bedächtig an dem dafür vorgesehenen Platz im Verschlag neben dem Hasenstall.
Anna war leicht und glücklich, als sie Sordos Haus verließ. Die Welt war verwandelt. Der Himmel war tief und blau wie der Streifen des Meeres, den sie vom Hügel aus sehen konnte. Weiße Wolken wurden vom Himmel hin und hergeworfen. Die heißen flirrenden Felsen hoben sich dem Himmel entgegen, das flimmernde Gleißen der Hitze wie eine sichtbare Liebkosung, die sanften Hügel, dicht gepolstert mit Thymian und Salbei, ein zarter Duft hüllte sie ein. Das Sonnenlicht drang langsam in ihr Fleisch, das Haar um ihr Gesicht wurde warm und sie seufzte vor Vergnügen. Sie wollte diesen Nachmittag an sich vorübergleiten lassen, wollte keines der Bilder festhalten, wollte das Glücksgefühl speichern, das sie ganz ausfüllte. Langsam ging sie weiter.
Ein Mann hockte am Wegrand und rastete im Schatten eines Johannisbrotbaumes. Sein schwer beladener Esel stand ergeben im Schatten und döste. Unverwandt starrte der Mann Anna an. Anna nahm sein Bild in sich auf, er war dunkel gekleidet, neben ihm lag ein verkrüppelter Stock zwischen den Steinen. Unendlich alt musste er sein, dieser Mann, sein Gesicht zusammengeschrumpft, durchpflügt von Runzeln und Falten, seine hellen Augen klar, er hockte auf seinen untergeschlagenen Beinen, ein Bild der Ruhe, doch schien sein Körper gespannt, unverwandt schaute er Anna an, als betrachtete er einen Stein. Dann lächelte sein Mund. Seine Augen hafteten fest an ihr. Ein goldener Zahn blitzte in der Sonne. Sein Bild sank zugrunde in Anna. Sie grüßte ihn leise.
Nach der nächsten Biegung des Weges ließ sie sich auf einem der Steine nieder. Sie hatte das undeutliche Gefühl, keine Zeit zu haben, sie musste etwas entscheiden, etwas tun. Sie sehnte sich nach einem jener Momente, in denen alles klar war, nach einem Wendepunkt, die Vergangenheit sollte abgetan, abgeschlossen hinter ihr im Schatten, die Zukunft deutlich und sonnenklar vor ihr liegen. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie wollte nicht nachdenken, nichts entscheiden. Entschlossen stand sie auf und ging zu Sordo zurück.
Sordo starrte sie fassungslos an, als sie leuchtend und scheu vor ihm im Sonnenlicht stand. Sie lächelte. „Ich habe dir frische Feigen mitgebracht.“ Ihre Stimme war hell und fröhlich. Sordo war überrumpelt, er nahm die Früchte, unbefangen kam Anna in den Hof und in sein Haus. Doch sie war viel zu empfindsam, um seine Verwirrung nicht zu bemerken und so setzte sie sich still und fügsam auf einen der großen hölzernen Sessel. Sordo verließ das Haus, den Hof, sperrte das Hoftor von außen zu. Anna rührte sich nicht von ihrem Platz.
Nach längerer Zeit kehrte Sordo zurück. Sorglos warf er Gemüse auf den Tisch. „Ich habe in der Nähe einen kleinen Garten angelegt!“ Er lächelte stolz, er war verändert, sein Blick drang an die Oberfläche seiner Augen, sie glänzten wieder, offen und freundlich sah er sie an. Annas Beklemmung war fortgewischt. Ihr Leuchten kehrte zu ihr zurück.
Anna holte Wasser und ein Messer. Selbstvergessen wusch und putzte sie das Gemüse. Sordo schnitt Zwiebeln und briet diese in heißem Fett. Anna gab das Gemüse dazu. Sie sprachen nicht. Wieder arbeiteten sie schweigend, einer die Absicht des anderen erratend. Sordo deckte den Tisch, brachte Brot und Wein, dann saßen sie einander gegenüber.
Den würzigen Geschmack des gebratenen Gemüses auf der Zunge, Sordos feine Hand lag entspannt auf dem Tisch, sie griff nach dem Glas, Sordo lächelte ihr zu, Thymian und Knoblauch, Sordos Lippen, der Wein schmeckte nach sauren Trauben, sein Haar wild gekraust, das Brot, Sordos Blick, eine sanfte Berührung. Sie hob den Blick und fiel in seine Augen, tiefe Augen, vor denen sie zurückwich, sie senkte den Kopf, sein Blick brannte Löcher in ihre Haut, er stand auf, berührte sorgsam ihre Schultern, wie eine Katze dehnte sie sich unter seiner Hand, ihr Körper drängte sich an seinen, sie stand auf, er küsste sie, ließ ihr Zeit, nahm Abstand, schaute sie lange an, mit seinen Augen erspürte sie ihre Schönheit, sie erwiderte seinen Blick, sie hob ihre Arme, langsam und bedächtig zog sie sich aus, etwas in ihm erschrak vor ihrer Freiheit, ihrer Freiheit von Scham.
Er schaute weg, zog sich selbst aus, nüchtern und sachlich. Sie schaute ihm so genau zu, dass er unsicher wurde. Er überwand rasch die Entfernung zwischen ihnen, nahm sie an der Hand und führte sie zu seinem Bett.
Sie schmiegte sich an seinen glatten dunklen Körper. Sie schloss die Augen und überließ sich seinen Händen. Jeder feinen Linie ihres Körpers spürte er nach, andächtig zeichnete er ihre Schönheit auf ihren Körper mit derselben zärtlichen Sorgfalt, mit der er Dinge und Tiere berührte, er fand sie in jedem geheimen Winkel, sie atmete mit seinen Händen, sie folgte einem Sog, den sie nicht verstand. Die Welt zerbarst in einem Moment der sättigenden Erleuchtung. Anna kuschelte sich in Sordos Arme, sie schliefen ein.
Als Sordo erwachte, hörte er Anna draußen im Zimmer hantieren. Sie hatte sich angezogen und briet Speck und Eier. Sie strahlte. Er schaute in die Pfanne, lächelte mit dem Körper und ging, um sich zu waschen und umzuziehen.
Sie aßen miteinander. Die Freude schwang zwischen ihnen wie das Pendel einer Uhr.
„Es ist gut, dass du da bist“, sagte Sordo, ohne sie anzusehen. Sie lächelte. Er stapelte das schmutzige Geschirr in einer Ecke des Raumes und holte mit einem Eimer Wasser vom Brunnen, er stellte den Eimer ab, kam zu ihr, berührte zärtlich ihr Gesicht mit den Fingern. „Ich werde jetzt gehen“, sagte sie leise. Sie spürte nicht, wie er erstarrte, sie schmiegte sich an ihn. „Ich bin glücklich“, sagte sie und wünschte, dass er sie küsste. Dass sie das sagte, schien sie noch stärker von ihm zu trennen. Ihm fiel ein, dass sie eine Fremde war, die nicht zu ihm gehörte. Er drehte sich weg, holte den Eimer, goss das Wasser in eine Schüssel und begann das Geschirr zu waschen. Wortlos ging Anna hinaus. Offenbar wollte Sordo allein sein. Sie wischte ihre kleine Enttäuschung fort und nahm den Weg hinunter zum Meer, spürte sich eins mit der Erde, wehrlos und offen.
Ohne Carlo und Christine zu besuchen, ging Anna direkt zu ihrem Platz am Meer, zog sich aus, warf sich dem Wasser entgegen, es leckte an ihrer Haut, sie ließ sich treiben, glitt geschmeidig über die Wellen, ließ sich sinken, eins war das Leben in ihr und die Welt. Sie legte sich in den heißen Sand und fühlte in sich die bedächtige träge Bewegung der Erde, uralte Bewegung der Schildkröte.
Sie drehte sich auf den Bauch, stützte den Kopf auf einen Arm und schaute in den weißen Sand, zeichnete Linien.
Sie sah sich in Basel – nach den endlosen drei Monaten, die sie im Gasthaus eingesperrt gewesen war, verschüchtert – wieder in den zu weiten Kleidern, in denen sie dort angekommen war – die Reisetasche über die Schulter geworfen – das Geld, das sie verdient hatte, im linken Schuh versteckt, damit niemand es stahl. Anna mochte die Gestalt, die der weiße Sand ihr zeigte. Sie hatte ein Reisebüro betreten und einen Flug ans Meer gebucht, egal wo, irgendwo am Mittelmeer, sie hatte den nächsten Flug genommen, der frei war, noch am selben Abend hatte sie die Insel erreicht, den nächsten Bus genommen, war in dem kleinen Fischerdörfchen ausgestiegen, das ihr gefiel, hatte ihre Reisetasche in das Lokal am Meer gestellt und war hinausgelaufen, hatte sich ins Wasser gestürzt und herumgetobt, bis sie schrie vor Vergnügen. Sie war frei.
Anna lächelte und verwischte die Linien im Sand, rollte sich in den Schatten eines kleinen, verkrüppelten Olivenbaums. Ihr Körper war leicht, ihr Geist, auch er wie ein Körper, genoss mit Behagen die Ruhe. Sie schaute ins endlose Meer, eine Möwe schaukelte auf dem Wasser und tauchte mit Wollust ihren Körper ein.
Christine und Carlo, die kleine Anita waren sehr freundlich zu ihr gewesen, hatten sie bei sich im Haus behalten, obwohl sie eigentlich keine Zimmer vermieteten. Sie hatten wohl gespürt, dass Anna Wärme brauchte und Schutz. Anna hatte ihnen bei der Arbeit geholfen. Nach einer Woche hatten sie das kleine Häuschen auf dem Hügel für sie gefunden. Seit drei Wochen wohnte sie nun dort.
Anna rollte wieder in die Sonne und streckte sich. Die Freude dieses Tages flutete aus den Tiefen ihres Daseins zurück, verzweigte sich, tränkte und sättigte sie. Ausgestreckt, mit geschlossenen Augen empfand sie, wie ihr Wesen sich dehnte und weitete, die Erde trug sie, sie gestattete ihrem Geist nicht, ihr Empfinden in seine Formen zu pressen. Am ganzen Körper spürte sie tierhaftes Wohlsein.
Noch einmal warf sie sich ins Wasser, löste sich auf in den Wellen, zerfloss. Sie existierte und war doch nicht da. Sie war nichts. Dann fügte das gleiche Etwas, das sie in viele Teilchen aufgelöst hatte, sie wieder zusammen.
Anna trocknete sich ab und zog sich an. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange so weitermachen konnte wie bisher. Sie wollte nicht all das Geld, das sie in der Schweiz verdient hatte, hier ausgeben. Wenn sie weiter hier bleiben wollte, dann musste sie arbeiten.
Sie ging zu Carlo und Christine, es war ohnehin schon spät, Giorgio saß bei den beiden in der Küche, er hatte sich offenbar mit ihnen angefreundet, was Anna ein wenig überraschte.
Nach dem Essen erzählte Anna, dass sie gerne so lange wie möglich hier auf der Insel bleiben würde, dass sie Arbeit finden müsse. Giorgio war begeistert, übereifrig erzählte er, er hätte Häuser, die er an Touristen vermietete, Oliven- und Weingärten, da gäbe es viel Arbeit. Er könne sie gut gebrauchen. Anna vereinbarte, mit ihm am nächsten Tag seinen Besitz zu besichtigen, um zu sehen, was sie erwartete. Christine sah Anna neugierig an. Sie war beinahe sicher, dass Anna nicht Giorgios wegen länger bleiben wollte. Doch sie hielt ihre Fragen zurück. Anna wurde unruhig. Sie nützte den nächsten geeigneten Moment, sich zu verabschieden, bat Giorgio, der sich ihr aufdrängte, sie alleine gehen zu lassen und ging so schnell sie konnte zu Sordo.
Es war schon spät. Der Mond stand hoch über der Sternenflut, als sie Sordos Haus erreichte. Der Hund bellte aufgeregt.
Sie hörte Sordo die Tür seines Hauses öffnen, sie rief nach ihm. Sordo blieb still.
Er fand es schön, wenn sie da war, es war gut, wenn sie fortblieb. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie kam und ging nach ihrem Belieben. Er hasste sie dafür.
Anna rief wieder. Nach einer Weile kam er und öffnete das Tor einen Spalt. „Was willst du?“ Kalt und fremd sah er sie an. „Ich muss dir etwas erzählen, es ist wichtig!“ Sie verstand nicht, was mit ihm los war, in ihrer Verwirrung senkte sie den Kopf. Wehrlos sah sie aus und scheu und da nahm er sie wieder an der Hand und führte sie in sein Haus. Auf dem Gaskocher bereitete er Tee.
„Ich werde auf der Insel bleiben. Ich werde arbeiten“, sagte Anna in die Stille. „Ich habe heute Giorgio getroffen bei Carlo und Christine, er sagt, er hat Arbeit für mich. Ich werde arbeiten. Ich weiß noch nicht genau, wo, sooft ich kann, werde ich kommen, um dich zu besuchen. Wir werden Zeit haben.“
Mit einem Ruck drehte sich Sordo zu ihr um, feindselig und hasserfüllt sah er sie an. Er verstand nicht, weshalb sie Arbeit suchte. Er hatte doch Gemüse und Fleisch und ein Haus. Dass sie für Giorgio arbeiten wollte, brachte ihn völlig aus der Fassung. Er machte einen Schritt auf sie zu, er wollte sie schlagen, doch er beherrschte sich, drehte sich weg und stürmte aus dem Zimmer.
Mit einer Schnur fesselte er die Beine seiner Ziege, sorgsam legte er ihren Kopf auf einen Baumstrunk. Mit beiden Händen umklammerte er die Axt, er holte weit aus und schlug mit aller Kraft zu. Blut spritzte, mit einem Hieb hatte er seiner Ziege den Kopf abgeschlagen. Entsetzt starrte er einen Moment lang auf das tote Tier. Dann raste es wieder in ihm. Er nahm den blutigen Schädel, rannte in das Zimmer, warf ihn vor Anna auf den Tisch. „Morgen werde ich das Fleisch verkaufen im Dorf. Dann habe ich auch Geld. Das kannst du dann haben!“, schrie er und stürzte davon.
„In dieser Nacht starb Anna“, so schloss ich meine Geschichte. „Vielleicht bin ich in die Nacht hinausgerannt und habe mich an den Beinen verletzt. Am nächsten Tag, als die Sonne brannte und die Fliegen zu Tausenden an mir klebten, habe ich mich vielleicht unter einem Felsen verborgen. Ich schrie und als niemand kam, mich mit einem Stein zu erschlagen oder mich zu retten, starb ich. Vielleicht starb ich auch anderswo.“
„Es dauerte viele Jahre, bis neues Leben in mir erwachte“, sagte ich in den Spiegel. Erschöpft sank ich zurück auf mein Bett.
Hohläugig schaute die Alte mich an und hielt zärtlich meine Hand. „Du erinnerst Anna, doch so heißt du nicht. Du weißt gar nichts. Du bist doch nur verletzt wegen …“
Es lachte schrill.
Dann tanzte ich für meinen Tod.
Als der Tanz zu Ende war, rührte er mich an.
Unterdessen hatte die alte Frau die Stücke meiner Geschichte eingesammelt und neu zusammengesetzt. Sie verkaufte sie an einen Filmproduzenten.
Die Geschichte begann mit den Worten:
„Sieben Leben hat die Katze.“
Marianne Peternell
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