Post aus der Vergangenheit
Nach einer Idee von meinem Sohn Michael
Mein verehrter Herr Klarmüller, Klagenfurt, 1. September 1956
Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Sie heißen Robert Klarmüller, sind siebenundvierzig Jahre alt, verheiratet mit Ramona, die fünfundvierzig Jahre zählt. Sie haben drei gemeinsame Kinder, Wilhelm, sechzehn Jahre alt, Marlies, fünfzehn Jahre alt und Horst, neun Jahre alt. Sie arbeiten als Softwaretechniker bei der Firma Datinform. Zudem haben Sie seit neun Monaten eine Geliebte, die Jasmin heißt, Sie nennen sie Jello. Sie ist zweiunddreißig und natürlich hübsch, blond und blauäugig.
Über mich gibt es wenig zu sagen, außer dem, dass ich Hans Rosen heiße und in der Tritscherstraße 11 wohne. Sie können schon an dem Umstand sehen, dass ich Sie kenne, da ich über Ihre Situation Bescheid weiß.
Betrachten Sie mich als Ihren persönlichen Engel. Der Grund, dass ich Ihnen schreibe, ist, dass ich Ihnen dringend nahelege, die Beziehung zu Jasmin schnellstmöglich zu beenden. Sonst wird Ihre Ehefrau Sie verlassen, Herr Klarmüller. Sie werden sehen, es wird so sein.
Mit besten Grüßen
Hans Rosen
Der erste Gedanke, der Robert Klarmüller kam, als er den Brief gelesen hatte, war: Zum Glück habe ich heute die Post geholt, und nicht Ramona. Der zweite war: Was soll das? Diesen Brief muss ein Scherzbold verfasst haben. Und er muss achtundfünfzig Jahre unterwegs gewesen sein, denn heute ist der 2. September, aber des Jahres 2014. Ha-ha, lustig! Nein, nicht lustig. Das verwendete Papier ist allerdings kein handelsübliches Kopierpapier, sondern altmodisches oder exquisites Schreibpapier. Aber die Person muss genau über meine Lebensumstände Bescheid wissen. Vielleicht der Roloff aus der Firma, der zwei Schreibtische weiter sitzt. Ich kann ihn nicht leiden, und da so etwas auf Gegenseitigkeit beruht, kann er mich genauso wenig leiden. Ihm würde ich Boshaftigkeit als Grund für den Brief unterstellen.
Am nächsten Arbeitstag, morgens, passte Robert Klarmüller seinen Kollegen Sebastian Roloff beim Kaffeeautomaten ab. Er wusste, dass er stets, wenn immer möglich, um 10:30 Uhr dort eine kleine Pause einlegte. „Sag mal, Kollege Roloff, schreibst du noch Briefe?“, fragte Robert ihn unverwandt. „Wie, meinst du, aus dem Drucker ausgedruckt oder handschriftlich?“, entgegnete Sebastian Roloff. „Eher private Briefe“, sagte Robert. „Meinen letzten Brief muss ich vor mehr als zehn Jahren geschrieben haben“, gab Sebastian Roloff zurück, „an meine damalige Freundin. Es hat aber nichts gebracht, sie war schon fort.“ Diese Aussage klang zu hundert Prozent ehrlich, befand Robert, und der Kollege hatte ihm einen privaten Einblick gewährt. Ach was, dachte Robert sofort, das ist doch ein alter Verkäufertrick! Nur war Kollege Roloff kein Verkäufer. Und genauso wenig war er Hans Rosen, der Autor jenes Briefes.
Als Robert mit seinem Auto nachhause fuhr und nachdem er sich über die Freisprecheinrichtung mit Jello unterhalten hatte und vereinbart wurde, sich übermorgen, am Freitagnachmittag zu sehen, überlegte Robert: Um wie viel anders verläuft jetzt mein Leben durch diesen Brief? Um sich die Antwort: „null Zentimeter“ zu geben.
Aber am Samstagnachmittag änderte sich etwas, Ramona sagte nur einen Satz: „Robbie, ich weiß Bescheid.“
Am Montag nach der Arbeit fischte Robert einen neuen, altertümlich beschrifteten, an ihn adressierten Brief aus dem Postkasten, der folgendermaßen lautete:
Mein verehrter Herr Klarmüller, Klagenfurt, 5. September 1956
ich fürchte, ich bin zu spät. Ich wollte Ihnen am Freitag ein Telegramm senden, da erfuhr ich, dass es in Ihrer Zeit keine Telegramme mehr gibt, dafür Mobiltelefone, mit denen man sogenannte SMSes, Texte, an andere Mobiltelefone senden kann, und neuerdings sogar WhatsUp-Messages, oder so ähnlich, als letzte technologische Ausbaustufe. Ich wollte Sie davor warnen, sich am Freitagnachmittag mit Ihrer Freundin Jasmin zu treffen. Wahrscheinlich wäre es aber soundso egal gewesen, ob Sie es getan hätten oder nicht, denn Ihre Gattin ist ja schon länger über diese Konstellation informiert.
Für den Fall, dass Sie immer noch denken, ich schriebe aus dem Blauen heraus, werde ich Ihnen ein Ereignis schildern, das am Donnerstag um 13:17 Uhr stattfinden wird: Alice, eine der Sekretärinnen, wird Ihnen eröffnen: „Robert, der Schumpeter ist abgesprungen. Du musst sein intelligentes Lagerwirtschaftsprogramm einstellen. Unser Herr Schmalfuss wird dir ein neues Projekt zuteilen. So lange, bitte, erfülle Verwaltungsaufgaben. So, das war es dann. Wir hoffen alle auf ein gutes Ende, Robert.“
Ihr Leben wird vom Unglück bestimmt werden. Sie wissen das, Herr Klarmüller. Was soll ich Ihnen raten? Helfe ich Ihnen aus einem Unglück heraus, trifft Sie ein anderes. Ich weiß leider nicht, wie ich Ihnen nun beistehen könnte, doch werde ich Sie begleiten. Sie werden wieder Post von mir erhalten.
Mit herzlichen Grüßen
Hans Rosen
Ja, es stimmte. Robert Klarmüller spürte die schiefe Ebene. Sie zog ihn nach unten. Wie weit?, fragte er sich. Er wusste keine Antwort. Was will dieser Herr Rosen von mir, falls es ihn denn gibt? Schrieb er nicht in seinem ersten Brief, gerade eine Woche her, er wolle mein Engel sein? Er hat wohl schwarzes Gefieder stattdessen, der Rabe Rosen.
Er scheint ein Unglücksbote zu sein. Dennoch, erst einmal warten und sehen, was am Donnerstag passieren wird.
Ramona war wegen der Sache mit Jello gar nicht betroffen. Als ob sie darauf gewartet hätte. Ihr ist es anscheinend recht, dass die Lovestory zwischen ihm und Jello weitergeht. Sie hofft wohl auf eine gute Scheidung mit hohen Alimentationszahlungen von ihm, nicht nur für die drei Kinder, sondern auch für sich. Das kann leicht sechzig Prozent seines Einkommens kosten, theoretisch, von seinem bisherigen Einkommen, was dahingehend die Zukunft bringt, wird sich erst zeigen.
Ich werde es Alice nicht leicht machen, dachte Robert am Donnerstag kurz nach 13 Uhr. Ich bleibe einfach sitzen, in diesem Café nahe der Firma. Er bestellte einen Latte macchiato. Er sah zur Tür. Um 13:16 Uhr öffnete Alice sie und trat ein. Sie setzte sich an Roberts Tischchen, um 13:17 Uhr begann sie zu eröffnen: „Robert, der Schumpeter ist abgesprungen. Du musst sein intelligentes …“
Das ist ganz, ganz schlecht, wusste Robert.
Den weiteren Arbeitstag verbrachte Robert damit, seine Ablage abzuarbeiten, einen Teil davon, damit er auch in den kommenden Tagen zu tun haben würde. „Warum hat mich Herr Schmalfuss nicht selbst über diesen Vorfall unterrichtet?“, fragte sich Robert. „Und wann erhalte ich mein neues Projekt, als Alleinverantwortlicher wie sonst oder nur als Mitarbeiter?“
Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Was ist, wenn dieser Herr Rosen nicht der Verkünder wäre, sondern die Ereignisse einträten, weil er sie vorhersagte? War das nicht eine realistische Möglichkeit in der Unmöglichkeit, in der Robert sich befand?
Ich muss ihn ausfindig machen, sollte es ihn wirklich geben, überlegte Robert weiter, mittlerweile glaube er an seine Existenz, seine jetzige. Falls er meine Zukunft erzeugt, muss ich ihn dazu bringen, die Kette an fallenden Dominosteinen zu unterbrechen. Versuchen werde ich es.
Und zwar jetzt, sofort. Robert fuhr ein paar Minuten nach 17 Uhr von der Firma weg, das Navi wies ihm den Weg. Nach knapp zwanzig Minuten war er am Ziel, der Tritscherstraße 11, einem weißen, etwas heruntergekommenen Wohnblock aus den 1980er-Jahren vor und neben gleichartigen. Drei dieser Häuser standen durchgehend nebeneinander, Stiege 1, Stiege 2 und Stiege 3. Robert suchte den Hausbesorger. Bei Stiege 2 stand er auf einem Klingelschild, mitsamt „Groß“, seinem Namen. Robert läutete. Nach kurzer Zeit meldete sich ein heiserer Mann. „Können Sie mir vielleicht helfen, Herr Groß? Ich suche Herrn Hans Rosen.“ „Ist gut“, sagte Herr Groß durch die Gegensprechanlage, nehmen Sie den Lift in den 3. Stock. Ich bin dort in der ersten Wohnung links.“ In der Wohnung hielt sich eine große Familie auf, viele Kinder jeden Alters, sah Robert durch die halboffene Tür. Herr Groß war freundlich, bat Robert aber nicht in seine Wohnung. „Hier standen früher Einfamilienhäuser“, erzählte er. „Diese Wohnhäuser wurden 1983 erbaut. Der Name Hans Rosen ist mir kein Begriff. Ich empfehle Ihnen, sich in dem kleinen Haus auf der anderen Straßenseite bei Herrn Hering nach Herrn Rosen zu erkundigen. Seit ich Hausbesorger bin, seit 1991, lebt er dort. Möglicherweise kann er Ihnen helfen.“
Dieser Herr Hering bat Robert, in das Haus einzutreten, in dem er seit dem Tod seiner Frau vor sieben Jahren alleine lebte. Er bereitete auch Kaffee zu. Ja, er könne sich an Johann Rosen erinnern, der habe drüben auf der anderen Straßenseite ganz alleine gelebt. Herr Hering war Jahrgang 1940, Herr Rosen müsste 1912 auf die Welt gekommen sein. Er ging sehr nett mit den Kindern in der Gegend um, sagte Herr Hering, auch mit ihm, und ohne jede Art von sexueller Belästigung, wie Herr Hering wusste, auf keinen Fall bei ihm, aber auch nie kam ein Mädchen verstört aus Herrn Rosens Haus. „Können Sie sich an etwas besonderes bei Herrn Rosen erinnern?“, fragte Robert. „Ja“, sagte Herr Hering, „er schrieb und erhielt viele Briefe.“ Im Jahr 1980 verschlechterte sich Herrn Rosens Gesundheitszustand, im Jahr darauf zog er in ein Altersheim, das in der Gemeinde Neutau lag, welches es heute nicht mehr gibt. Alle Häuser auf der anderen Straßenseite wurden wahrscheinlich teuer vom Bauträger angekauft, jedenfalls wurden alle planiert und die neuen großen Wohnhäuser hochgezogen. Herr Hering besuchte Herrn Rosen gelegentlich, eher selten, in seinem Heim. Im Jahr 1985 starb er dann. „Vielen Dank, Herr Hering, Sie haben mir sehr geholfen“, bedankte sich Robert. „Habe ich das wirklich?“, fragte Herr Hering.
Hat er, dachte Robert. Als Erstes aber googelte er diesen Hans Rosen, fand aber nicht den richtigen und erst recht keine Telefonnummer. So besorgte er sich einen Grundbuchauszug, in dem stand, dass Hans Rosen am 7. November 1981 seine Liegenschaft in der Tritscherstraße 11 an die Firma „Heimathafen“, verkauft hatte, für die Hermann Salzwedel verantwortlich zeichnete. Durch das Standesamt von Neutau erfuhr Robert, dass Hans Rosen am 14. Februar 1985 gestorben war.
Also gab es keine Möglichkeit, diesen Herrn Rosen zu kontaktieren. Oder vielleicht doch, was wäre, wenn er ihm einfach einen Brief schriebe? Ein Brief an einen Toten, aber schrieb nicht auch dieser Tote ihm, weshalb eigentlich in neuer deutscher Rechtschreibung? Weil er wusste, dass sie im Jahr 2014 verwendet werden wird, war die logische Erklärung. Falls alles nicht nur ein Streich war, in den Alice eingeweiht war. Dennoch, Robert hatte nichts zu verlieren, sondern konnte nur gewinnen.
Mittlerweile war es Montag nach der Arbeit. Robert hatte bislang kein neues Projekt übertragen bekommen, und die Ablage war aufgeräumt. Ramona wollte die Trennung und verlangte, dass er auszog. Aber Jello mochte ihn nicht bei sich aufnehmen. Es waren schwarzes Wasser und dunkle Luft für Robert Klarmüller.
Er setzte sich mit ein paar Blättern A4-Papier ins Café „Zum fröhlichen Augustin“, in dem er es nett fand und sich öfters aufhielt. Er begann mit einem Werbegeschenkskugelschreiber seiner Firma zu schreiben:
Lieber Herr Rosen! Klagenfurt, 15.09.2014
Ich schreibe Ihnen, weil ich keine andere Möglichkeit sehe, mit Ihnen in Kontakt zu treten. Oder könnten wir uns treffen, wäre das möglich?
Sylvia, die blonde wohlgeformte Kellnerin brachte Robert seinen bestellten Verlängerten. „Schreibst du einen Liebesbrief, Rob?“, fragte sie. „Einen Brief schon“, antwortete Robert, aber ohne Liebe.“ „Liebe ist doch das Wichtigste im Leben. Ohne sie ist doch alles traurig, meinst du nicht, Rob?“, fragte Sylvia weiter. „Ja schon, du hast ja Recht, Sylvia“, sagte Robert. Er fuhr fort zu schreiben:
Wissen Sie, Herr Rosen seitdem Sie in mein Leben getreten sind, was ja erst ein paar Tage her ist, hat es sich dramatisch verschlechtert. Ich frage nun, falls Sie mir etwas Gutes prophezeiten, träte das dann ein? Ich hoffe auf eine Antwort von Ihnen.
Mit besten Grüßen
Robert Klarmüller
Er gab den Brief am Dienstag während seiner Mittagspause bei der Hauptpost auf, die durchgehend offen hatte. Am Vormittag hatte ihn Herr Schmalfuss in sein Büro bestellt und ihm aufgetragen, er solle den Herren Schneider und Niederpichler bei ihren Projekten zur Hand gehen. Robert fasste das als positive Nachricht auf. Zwar waren beide jünger und kürzer in der Firma als er, aber wenigstens wäre er beschäftigt.
Auf der anderen Seite, die nun eine Front geworden ist, hatte Ramona den Kindern mitgeteilt, dass Papi und sie sich trennen würden, und er bis zum Monatsende ausziehen werde. Freilich könnte er sie immer besuchen kommen. Die Kinder nahmen das natürlich sehr schlecht auf. Als negatives Sahnehäubchen sagte Jello, sie „brauche eine Auszeit“.
Wäre Roberts Privatleben ein Raum, lägen da überall Scherben, und es wäre geradezu unmöglich, in keine zu treten. Bei seiner Arbeit hatte er noch eine Gnadenfrist.
Dienstag nachmittags, am Mittwoch und Donnerstag versuchte Robert, möglichst geschäftig in seiner Firma zu erscheinen, was sehr schwer für ihn war, denn der Schneider und der Niederpichler behandelte ihn wie einen Assistenten, als der er jetzt ja auch fungierte. Aber es gab keinen Ausweg, Robert musste mitmachen.
Als er am Donnerstag in seinem Noch-Zuhause eintraf, lag ein Brief für ihn auf dem Küchentisch. Robert las ihn auf der Wohnzimmercouch:
Mein lieber Herr Klarmüller, Klagenfurt, 17. September 1956
ich habe mich über Ihren Brief gefreut. Ich dachte schon, dass Sie mir irgendwann schreiben würden. Und jetzt so bald! Leider aber können wir uns nicht leibhaftig treffen, da ich ja tot bin. Wenn Sie jetzt fragen, weshalb ich denn schreiben kann, muss ich antworten: Ich weiß es nicht. Es geschieht automatisch. Ich kann Ihnen auch nichts Gutes vorhersagen, wenn das nicht eintreffen wird. Ich kann Ihnen und jedem anderen nur das mitteilen, was tatsächlich eintreten wird. Sie sind nicht mein einziger Adressat, mein lieber Herr Klarmüller. Manchen kann ich Wohltaten und Glücksfälle prognostizieren, bloß, wissen Sie, im gegenteiligen Fall, wenn es um eine Person schlecht bestellt ist, wie bei Ihnen, besteht mehr Handlungsbedarf. Daher wandte ich mich mit meinem ersten Brief an Sie und riet Ihnen dringend, Ihr Verhältnis mit Jasmin sofort zu beenden. Das taten Sie nicht.
Sie fragen sich bestimmt, wer oder was ich bin. Ich bin der Briefeschreiber aus der Vergangenheit. Ich kann Götterbote sein oder ein Engel, allerdings bin ich oft einer der Unterwelt. Ich bin nicht der Böse, der Böses tut, genauso wenig wie ich der Gute bin, der Gutes verteilt. Bereits in meinem zweiten Brief schrieb ich, dass ich Ihnen nicht mehr helfen könne, ebenso wenig aber vermag ich, Sie ins Unglück zu stürzen. Das Einzige, was ich tun kann, ist, Ihnen zu schreiben.
Diesmal gebe ich Ihnen keinen Einblick in die Zukunft. Das soll Ihnen das Gefühl vermitteln, sie selbständig gestalten zu können.
Ich empfehle mich, bis zum nächsten Mal
Hans Rosen
Diesmal keine Prophezeiung, damit fing Roberts Denkfaden an, und da bisher alle schlecht waren, ist das gut. Dieser Herr Rosen ist auch nicht perfekt, spann er den Faden weiter, schließlich wusste er zu Beginn nicht, dass heutzutage keine Telegramme mehr üblich sind. Und überhaupt werde ich ihn für mich ab jetzt nur noch als „den Mann, der sich Hans Rosen nennt“, bezeichnen. Da es doch am wahrscheinlichsten ist, dass es in der Tritscherstraße 11 jemanden gibt, der einen Postkasten lautend auf Hans Rosen hat. Meines Wissens nach, Roberts Denkfaden war bald fertig gesponnen, ist das von außen an den Postkästen nicht ersichtlich, es genügt, wenn der Briefträger weiß, dass ein bestimmter Postkasten so bezeichnet ist.
Jetzt geht es wieder selbstbestimmt weiter, überlegte Robert. Er wollte diesen Gedanken nicht zerlegen, um ihn nicht zu schwächen, daher brach er ab.
Am nächsten Tag, Freitag, dem 19. September 2014, saß er nach der Arbeit in seinem Noch-Zuhause einfach herum. Er las Magazine, um sich zu beschäftigen, und trank einige Biere. Die Kinder stellten ihm Fragen, die er beantwortete, so gut er konnte. Ramona sagte kaum etwas zu ihm, verfolgte ihn aber mit den Augen. Abends dann richtete sie sich her. „Was machst du, Ramona?“, fragte er. „Ich treffe mich mit meinen Freundinnen“, sagte sie. „Aha“, sagte Robert.
Als sie fort war, schrieb er Jello eine WhatsApp-Nachricht. Es kam keine Antwort. Er rief sie an. Sie hob nicht ab, auch beim zweiten Mal nicht.
Ich werde mich zusammennehmen. Ich werde das Maximum aus jeder Sache herausholen, mit diesem Gedanken betrat Robert am Montag seine Firma, wo er dann eine Kleinigkeit für den Schneider und etwas Nebensächliches für den Niederpichler erledigte.
In weiterer Folge aber wurden diese Arbeiten immer unwichtiger und weniger. Robert wandte sich an seinen Vorgesetzten mit der Frage: „Soll ich auf Akquise gehen, Herr Schmalfuss?“, worauf er antwortete: „Nein, Sie haben das ja bislang nie getan, Herr Klarmüller.“ Robert verbiss sich die Frage: „Und was soll ich dann tun?“
In den nächsten Tagen wurden die Kollegen Robert gegenüber immer wortkarger. Manche brummten zur Begrüßung nur noch, andere oder dieselben standen da und sahen ihn an, ohne etwas zu sagen, manche grinsten blödsinnig. Und kann fingen die Witze an. Die Dämlichsten in Roberts Arbeitsbereich waren die Ersten, die sie erzählten.
Robert rechnete jeden Tag damit, dass ihm gekündigt würde. Vorerst geschah das aber nicht, weil die Verantwortlichen in der Firma wollten, dass Robert von sich aus kündigte und er damit seine Abfertigung verlieren würde. Er sollte weichgeklopft werden.
Am Samstag, dem 27. September, zog Robert mit dem Nötigsten in ein billiges Hotel. Er bezahlte zwanzig Euro pro Tag auf Monatsbasis. „Geht es vielleicht ein bisschen billiger?“, fragte er die Wirtin. „Bei mir nicht“, sagte sie.
Meine Situation könnte noch schlimmer sein, rief Robert sich in Erinnerung. Ich könnte Schulden bei einem Wucherer gemacht haben, sie nicht bedient haben können, und die Racketeers hätten mir deshalb für den Anfang den linken Daumen abgehackt. Oder ich könnte sterbenskrank sein.
Ramonas Freund hieß Lothar. Offiziell gab es ihn nicht, doch die Kinder hatten Robert von ihm erzählt. Es kann gut sein, dass dieses Verhältnis schon vor dem zwischen mir und Jello bestanden hatte, mutmaßte Robert.
Er legte einige Blätter A4-Papier auf das Pult in seinem Hotelzimmer und schrieb:
Lieber Herr Rosen! Klagenfurt, 16.10.2014
Ich kann Ihnen nichts Positives, was mit mir im Zusammenhang steht, berichten. Und es wird noch schlechter werden, das ist klar ersichtlich. Alle Zeichen stehen auf Sturm. Ich habe nicht die geringste Idee, wie ich meinen Niedergang stoppen könnte.
Damit kommt der Grund dieses Schreibens von mir an Sie ins Spiel. Ich frage Sie ganz direkt, Herr Rosen: Können Sie mir noch eine Chance einräumen?
In Hoffnung lichtblickhafter Antwort
Robert Klarmüller
Am 22. Oktober überreichte die Wirtin den Brief mit folgendem Inhalt:
Mein lieber Herr Klarmüller, Klagenfurt, 20. Oktober 1956
es steht schlecht um Sie. Ich habe das mehr als nur befürchtet, ich habe es gewusst. Ich helfe Ihnen gerne, wenn ich nur wüsste, wie. Ich muss es schon zugeben: Ich hätte mich früher um Sie kümmern sollen. Leider habe ich das verabsäumt. Man ist ja meistens zu spät, ist es nicht so?
Sie bitten mich um eine Chance? Nun, eigentlich war der Absatz in meinem letzten Brief an Sie, in dem ich schrieb, dass ich Ihnen diesmal keinen Einblick in Ihre Zukunft geben würde, diese Chance.
Doch es wäre kleingeistig von mir, würde ich Sie nun ganz auf sich alleine gestellt lassen. Ich kann Ihnen mitteilen, dass es in Ihrem Lebensweg eine Gabelung geben wird. Sie können frei wählen, ob Sie dort nach links oder rechts gehen.
Diese Gabelung besteht darin, dass Sie sich zu Fuß auf einer Straße befinden und sich Ihnen ein Auto in schneller Fahrt nähert. Erfasst das Auto Sie, werden Sie sterben. Weichen Sie dem Auto aus, werden Sie zukünftig als Stadtstreicher leben.
Es liegt an Ihnen, ob Sie diesem Auto ausweichen wollen oder nicht, es ist leicht möglich. Im Falle, dass Sie als Stadtstreicher Ihr zukünftiges Leben verbringen wollen, werde ich Ihnen nicht sagen, wie lange dies sein wird, nur dass es ein elendiges sein wird, kann ich Ihnen sagen.
Ich teile Ihnen auch nicht den Zeitpunkt dieses Ereignisses mit. Sie werden wissen, wenn es so weit ist.
Dies ist das Ende unserer Kommunikation, mein lieber Herr Klarmüller.
Ich wünsche Ihnen alles Gute
Hans Rosen
Das war es dann also mit „dem Mann, der sich Hans Rosen nennt“, dachte Robert, als er den Brief gelesen hatte.
In der Firma wurde es immer schlimmer, wie es üblich ist für jemanden, der auf dem Abstellgleis steht. Er wurde häufiger und direkter verbal angegriffen. Stellte er eine Frage, blieb der Angesprochene üblicherweise stumm. Robert wurde gemieden, als wäre er radioaktiv. Relativ neutral blieb noch der Roloff, aber einer allein war zu wenig, und Freund war er auch keiner.
Ramona ließ nicht mehr von sich wissen, als dass sie bereits bei einer Scheidungsanwältin gewesen war. Marlies erzählte ihm, dass ihre Mama oft und lange mit jemandem telefoniere und dabei agiere wie sie selbst, ein Teenagermädchen eben. Marlies nannte keinen Namen, aber bestimmt war es dieser Lothar. Und Jello hatte inzwischen eine neue Telefonnummer.
Robert war der Fallschirmspringer, der seinen Fallschirm vergessen hatte. Der Boden wartete auf ihn.
All diese Unglücke fraßen Löcher in seinen Leib wie Ratten. Er konnte oft nicht schlafen, trank Dosenbier zur Beruhigung. Manchmal wurde er gegen zwei bis drei am Morgen munter, öffnete die erste Dose, die zweite, die dritte und so weiter. Dann putzte er die Zähne, rasierte sich und duschte, kleidete sich an und fuhr mit dem Auto in die Firma zum nächsten Kampf.
Derweil hatte er seinen Führerschein noch. Es kann eben immer noch schlechter werden, dachte er.
Der 31. Oktober 2014 war ein Freitag. Robert war alleine in der Stadt unterwegs, zog von Lokal zu Lokal. Er hoffte, eine Frau kennenzulernen, sich wenigstens mit einer unterhalten zu können. Es war halb elf in der Nacht.
Er ging an einer Kreuzung bei Grün über die Straße. Plötzlich schoss ein Auto auf ihn zu. Es war von der rechten Querstraße auf diese eingebogen, ebenfalls bei Grün. Seine Geschwindigkeit war viel zu hoch, die Musikanlage wummerte. Robert war dunkel angezogen.
Dies ist das Ereignis, dass mir Herr Rosen ankündigte, war Robert sofort klar. Lasse ich mich anfahren, ist alles vorüber, habe ich die ganze Mühsal überstanden. Ein Heldentod ist es zwar nicht gerade, aber jeder Tod ist besser als dieses Leben.
„Ich mache es!“, sagte sich Robert. Er blieb stehen. „Nein, doch nicht!“ Robert sprintete los. Das Auto fuhr ein paar Zentimeter hinter seinem Rücken vorbei.
„Und jetzt?“, fragte sich Robert. „Was ist jetzt mit Stadtstreicher?“
Er wusste aber in dem Moment nicht – er musste ja morgen die Miete für den Oktober, sechshundertzwanzig Euro, zahlen –, dass Ramona ihr gemeinsames Konto leergeräumt hatte, auf dem sich Ende September ungefähr vierzehntausendsechshundert Euro befunden hatten. Bei seinem Gehaltskonto hatte er noch einen Überziehungsrahmen von dreihundertachtzig Euro.
Überdies würde am Montag der Personalleiter, Herr Klingelmeier, Robert in sein Büro bestellen, wo auch Herr Watzlaff, der Besitzer und Geschäftsführer der Firma, warten würde. Der Personalleiter würde Robert die fristlose Kündigung vorlegen, was bedeutete, dass die Abfertigung für Robert hinfällig war, die ein halbes Jahresgehalt fast brutto für netto ausmachen würde, im Fall, dass die fristlose Kündigung zu Recht bestünde. Der Grund dafür war, dass Robert Daten mittels USB-Sticks aus dem Netzwerk der Firma kopiert und an Konkurrenzunternehmen verkauft hatte. Angeblich, natürlich stimmte dieser Vorwurf nicht, aber es gäbe Zeugen, erklärte ihm der Personalleiter. Selbstverständlich haben wir Ihr Oktobergehalt einbehalten, fuhr der Personalleiter fort. „Wir behalten uns vor, sie zu verklagen“, sagte der Besitzer, „und jetzt raus!“ „Im Schweinsgalopp“, setzte der Personalleiter fort, woraufhin beide lachten.
Johannes Tosin
(Text und Foto)
www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 19067