Schlagwort-Archiv: drah di ned um …

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Max, der Kleptomane

Jawohl, Hohes Gericht, ich gestehe: Ich bin ein Dieb!

Noch schlimmer: Ein Gewohnheitsdieb! Ich stehle seit meiner Jugend, und das noch heute. Vielleicht sogar hier am Gericht, nach dem Unterschreiben des Protokolls. Wenn keiner hinschaut. Weil: Ich kann nicht anders! Ich liebe schöne Kugelschreiber!!! Halten zu Gnaden, Herr Rat, sie sind so schön und praktisch.

Was habe ich mich damals in der Schule mit dem ewig undichten Füllfederhalter geplagt. Das Kratzen am Papier, dauernd war man blau an den Fingern. Und dann kam in den 50er-Jahren der Kugelschreiber aus Amerika zu uns. Herrlich! Da gleitet der Stift – ja, wie auf Kugellager – am Papier und hinterlässt nur einen zarten blauen Strich, ohne Patzen, und auch die Kurven gehen superleicht.

Sie waren anfangs ganz schön teuer, und man hat sie nicht überall bekommen so wie heutzutage. Am billigsten war dann der BIC-Kugelschreiber, mit der durchsichtigen sechskantigen Hülle. Ich kann mich noch an die Werbung erinnern: Da hat man sie vom Hochhaus auf die Straße geworfen, eingefroren, mit einem Luftgewehr in eine Holzplanke geschossen, und sie schrieben danach immer noch. Auf jedem Kontinent, in jedem Kiosk an der Küste oder tief im Niemandsland konnte man sie kaufen. Na ja, heute sind die BIC nicht mehr so begehrt, weil man Kugelschreiber überall, in jeder Form, Farbe und Ausführung bekommt. Die anfangs teuren Markenkugelschreiber von Mont Blanc und Pelikan mit vergoldeten Kappen haben ihren Begehrens-Wert verloren, wenn man an jeder Ecke, bei jedem Anlass diese Werbekugelschreiber geschenkt bekommt. Bei politischen Parteien, Interessensgemeinschaften und Firmen, beim Doktor, beim Greißler und beim Zahnarzt, überall stehen sie herum und werden einem nachgeworfen.

Das alles wäre ja ein Grund, keine mehr zu stehlen! Aber es sind immer wieder schöne, praktische und gut in der Hand liegende dabei, wenn man ein Auge dafür hat. Nur: Die ganz billigen mit der eh nur halb gefüllten dünnen Mine lehne ich geradezu angeekelt ab. Aber die stärkeren, mit der Großraum-Mine wie sie die Parker-Kugelschreiber haben, also die betteln geradezu danach, von mir mitgenommen zu werden. Ich habe in jedem Sakko einen farblich dazupassenden in der Brusttasche. Ja, wenn es nur das wäre! Meine Schreibtischschublade quillt schon über von meinen Sammlerstücken, und wenn ich in irgendeine Tasche meiner Kleidung greife, springen sie mir entgegen. Natürlich auch die „versehentlich“ eingesteckten, wenn wo was zu unterschreiben war, bei der Bank, bei der Versicherung, am Gemeindeamt, beim Mechaniker oder einmal auch bei der Bestattung – der war besonders schön, schwarz mit goldenem Kreuz.

Ja, es ist schlimm – ich habe alle Mühe, nicht in Verruf zu kommen. Einmal ist mir was Peinliches passiert: Da habe ich beim Doktor was unterschreiben müssen, und der Kugelschreiber war weg. „Bemühen Sie sich nicht“, habe ich gesagt und einen aus der Seitentasche gezogen. Und das war dann einer mit seiner Werbeaufschrift!!! „Der, äh, der ist noch vom vorigen Jahr“, habe ich mich herausgelogen. Hoffentlich hat er das geglaubt.

Sehen Sie, Hohes Gericht, es ist ein innerer Zwang. Ich bitte um Freispruch, weil es ist noch niemand zu Schaden gekommen – ich habe keine Gewinnabsicht dabei. Als tätige Reue werde ich dem Protokoll-Beamten ein Dutzend meiner schönsten Kugelschreiber auf den Tisch legen. Da ist sogar ein Parker ohne Werbeaufdruck dabei, den ich – nein, der mir beim Finanzamt geschenkt worden ist.

Danke vielmals, Hohes Gericht, für die bedingte Strafe. Ich werde ab heute keine Kugelschreiber mehr stehlen – weil meine Elli nämlich gesagt hat, sie lässt sich scheiden, wenn ich noch einmal einen nach Hause bringe. Auf Wiedersehen – äh, ich meine, auf Nimmer-Wiedersehen!!!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 25040

Novemberwind

Ein blauer Wind, der rüttelt
am Fenster hier im Raum.
Es ist, als ob er schüttelt
mich aus dem dunklen Traum.

Zurück das Bett ich lasse,
werf mir den Mantel um.
Steh zitternd auf der Gasse
und blicke stumm herum.

Warum an diesem Ort,
allein in kalter Nacht?
Weiß es nicht, doch muss ich fort;
hier werd ich umgebracht.

Ich bitt dich, blauer Wind,
antworte – dann find ich Ruh!
Da dreht er sich geschwind
einer andren Richtung zu.

Bernd Watzka
Live-Termine

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 24157

 

Blaue Mitzi

Wer hat die „Blaue Mitzi“ vergiftet?
Obwohl der Theologe Gerhard Lohfink sagt, dass man einen Krimistoff „ganz sicher nicht“ in Gedichtform schreiben kann.

Es war beim letzten Pfarrcafé – beliebt bei den Senioren
Da hat Maria Wanzenböck – ihr Lebenslicht verloren
Der „Blauen Mitzi“, wie sie hieß – weil sie stets Blau getragen
Hat nach viel Bäckereigenuss – sich umgekehrt der Magen
Ihr scharfes Auge trübte sich – in ihrer letzten Stunde
Die Zunge, die gefürchtet war – hing bleich aus ihrem Munde

Der alte Doktor hat sofort – die Brauen hoch geliftet:
„Das war kein Tod durch Herzinfarkt – die Mitzi ist vergiftet!“
Man holt sie ab und montags ward – die Mitzi obduzieret
Der Pathologe hat sofort – ein Pflanzengift erspüret
Es brodelte im ganzen Dorf – an jenem Montagmorgen:
„Wer war der Blauen Mitzi feind? – Wer wollte sie entsorgen?“

Wer hatte die Gelegenheit? – Und Gift aus welcher Pflanze?
Wer war zur Zeit am rechten Ort? – Und wie geschah das Ganze?“
Der Täter musste kundig sein – die Zeit war knapp bemessen
Es ist in einer Stunde tot – wer von dem Gift gegessen
Und wie, um Himmels Willen, kam – es dann in Mitzis Magen?
Den Gästen von dem Pfarrcafé – stellte man viele Fragen

Die Todesdroge fand man bald – in Mitzis Blumengarten
Je schöner hier der Blütenflor – je giftiger die Arten
Vom Seidelbast zum Fingerhut – der Eisenhut und Eibe
Sie pflegte mit viel Sachverstand – was man sonst besser meide
Daneben pries man weit und breit – Marias Mehlspeisküche
Es schwamm das Dorf zur Festeszeit – in süßen Wohlgerüchen

So buk sie auch zum Pfarrcafé – die guten Anisbögen
Ein zartes Biskuit-Gebäck – das viele Leute mögen
Die Mitzi hatt’ beim Pfarrkaffee – noch etliche gekostet
Und gut gelaunt der Gästeschar – mit Süßwein zugeprostet
Wie ist nun diese Tat gescheh’n – wer ist der böse Mörder?
Die Sache muss ans Tageslicht – und lange eing’sperrt g’hört er

Vom Fingerhut den Samen hat – vorm Aufbruch Mitzis Gatte
Mit Honig auf das Stück geklebt – das sie gekostet hatte
„Jetzt steh net rum und hilf mir trag’n – es is schon halber viere!“
So herrschte sie den Gatten an – und schloss sogleich die Türe
Das Maß war voll, seit vierzig Jahr – trug er der Ehe Bürde
Nun kauft er einen Jaguar – und ist ein Mann mit Würde

Doch hat des Schicksals hohe Macht – die Untat nicht vergessen:
Er hat sich mit sein’ Jaguar – drei Wochen drauf derstessn!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 23108

Die überdrehte Wäscheleine

Ich bin schon gespannt zum Zerreißen
Wie könnt’ ich da Leine noch heißen?
Ein Höschen nur auf mich gehänget
Und schon wär ich gänzlich zersprenget!

Was ist bloß aus mir geworden?
Einst trug ich den Höschenbandorden
Für leichte bis Mittelgewichte
Hört her, was ich euch berichte:

Verflucht sei der Tag als der Spatz kam
Und einfach so auf mir Platz nahm
Ich fragte ihn, ob’s auch bequem
Er drauf: Man werd’ es ja seh’n

Ob meine Kräfte auch fassten
Sein Spatzengewicht schweres Lasten
Gewöhnt sei er Ankertrossen
In Häfen voll Haien mit Flossen

Nur elementaren Tauen
Könnt’ er sich als Spatz anvertrauen
Ich schämte mich in den Kardeelen
(Dort sitzen bei Leinen die Seelen)

Er merkte, wie sehr ich mich schämte
Er plusterte sich und er gähnte:
„Hätt’st du etwas von Tauwerken
Du würdest dich, um dich zu stärken

In dichteste Schlingen legen
Und fest um dich selber drehen
Doch bist du ja bloß eine Leine
Von denen, da hält mich keine!“

Flog auf und er zog gegen Norden
Um andere Leinen zu morden
Unzählige schmerzhafte Stunden
Hab ich mich seit damals verwunden

Ich wand mich in Wahn und von Sinnen
Um aus mir ein Tauwerk zu spinnen
Da plötzlich, da hörte ich Stimmen:
„Die Lein da, die wird bald zerspringen!

Einst hat sie uns Amseln geschaukelt
Jetzt hat ihr der Spatz was gegaukelt
Seitdem ist sie ganz vermessen
Verspannt und von Ehrgeiz zerfressen

Und doch wird sie keine von denen
Mit Stahlkern und stählernen Sehnen
Die sich nur auf eines verstehen:
Immer im Dienst und nie dehnen!

Wie locker hatt’ sie’s doch als Leine
Mal ihre Höschen, mal seine
Doch das wird wohl nie mehr gescheh’n
Was musst’ sie sich auch um sich dreh’n?“

Da kam ich mit Ruck zu Verstand
Ach, Mensch, leih mir doch deine Hand!
Zerschneide mich mit deiner Schere
Und lasse mich fallen ins Leere!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 22072

Mit Betonpatschen im Hudson River

Man muss als Geschäftsmann schon einiges aushalten. Wenn er zum Beispiel als Beifahrer mit einem neuen Mitarbeiter mitfährt, um zu sehen, ob er ein Auto sicher bewegen kann, und dieser Mitarbeiter spielt in infernalischer Lautstärke Hottentottenmusik. Hottentottenmusik, klingt das nicht total altväterlich? Der Chef muss sich unbeeindruckt vom Lärm geben, sonst hält der Mitarbeiter ihn für ein Weichei. Oder der Geschäftsmann wird tagelang in einem Bus über chinesische Schotterstraßen kutschiert. Für mich ist das business as usual, muss er dann zeigen, oder am besten gar keine Reaktion. Er darf auch nicht bei superkurvigen indischen Schauspielerinnen im weißen Häkelkleid schwach werden, oder nur, wenn kein Mitarbeiter dabei ist. Auf gar keinen Fall! Sollte sich das Arbeitsblatt einmal wenden, ist der Chef erpressbar. Käme es zu diesem Fall, kann er dem Mitarbeiter oder ehemaligen Mitarbeiter nur klarmachen: „Mir scheißegal, wenn meine Alte das weiß.“ Oder: „Mein verschlagener Untergebener oder Ex-Untergebener, willst mit Betonpatschen im Hudson River enden?“ Will doch keiner, also könnte die Sache hiermit geritzt sein.

Hongkong am 9. Mai 2005

Hongkong am 9. Mai 2005

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 22025

Herr Puffigbrunner und die elektronische Fußfessel

Rrring-rrring-rrring. „Guten Tag, hier ist die gerichtliche Auskunft des Landes Kärnten. Wie kann ich helfen?“ „Ja, grüß Gott, werte Dame, mein Name ist Puffigbrunner, ich trage eine elektronische Fußfessel. Dazu hätte ich eine Frage.“ „Kein Problem, Herr Pu …“ „Puffigbrunner“, ergänzt Herr Puffigbrunner. „Ja, genau, Herr Puffigbrunner, ich leite Sie zu Herrn Dr. Kastenbrod weiter. Er ist der Experte dafür.“ Tüüt-tüüt-tüüt-tüüt-tüüt-tüüt-tü.

„Mahlzeit, Dr. Kastenbrod am Apparat, welcherart ist Ihr Anliegen?“ „Grüß Gott, Herr Dr. Kastenbrod, mein Name ist Puffigbrunner, ich bin Träger einer elektronischen Fußfessel. Ich möchte baden gehen. Ist das erlaubt?“ „Wo wollen Sie baden gehen, Herr Puff …?“ „Puffigbrunner“, sagt Herr Puffigbrunner. „Herr Puffigbrunner, In der Badewanne? Falls das Ihre Frage ist: Die elektronische Fußfessel ist wasserdicht.“ „Nein, nein, ich möchte im Wörthersee baden.“ „Aha, ich verstehe“, sagt Herr Dr. Kastenbrod, „wie wäre es denn zusätzlich mit Wakeboarden, Bungee Jumping oder Hindernisreiten? Würde das Ihren Ansprüchen genügen? „Bungee Jumping kommt für mich leider nicht infrage, weil ich höhenscheu bin“, sagt Herr Puffigbrunner.

„Hören Sie, Herr P., Sie sind Häftling. Dass Sie eine Fußfessel tragen, ist ein Entgegenkommen der Gerichtsbarkeit des Landes Kärnten. Aber wenn Sie unzufrieden sind, ist das auch in Ordnung, Sie können sich gern in Strafhaft begeben.“ „Nein, nein, nein, ich bin plötzlich sehr glücklich mit meiner Fußfessel, Herr Dr. Kastenbrod. Ich sehe sie nun als liebe Freundin, die ständig bei mir ist.“

Bootsverkehr auf dem Wörthersee am 21. August 2021

Bootsverkehr auf dem Wörthersee am 21. August 2021

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 22003

Der Hut

Der Hut schwimmt auf dem Wasser, vom böigen Wind getrieben. Ein schwarzer Schlapphut, nennt man den nicht Borsalino?
Es sieht aus, als liefe jemand mit einem Hut auf dem Kopf unter der Wasseroberfläche. Vielleicht ist es so. Nicht, dass da jemand unter Wasser läuft, natürlich. Aber dass da mal jemand unter dem Hut war, der jetzt nicht mehr da ist.
Da ist jemand ertrunken. Der Hutträger liegt ertrunken auf dem Grund des Sees. Ganz sicher.
Was soll er jetzt tun? Hilfe holen, klar. Aber wenn der schon tot ist, dann eilt es nicht. Dem kann niemand mehr helfen.

Sascha will in nichts hineingezogen werden. Man weiß ja, wie so was läuft. Nachher soll er noch schuld sein am Tod des Mannes. Sascha hat oft genug Tatort gesehen, er kennt sich aus. Wie schnell werden Unschuldige vor Gericht gezerrt. In Amerika werden Unschuldige sogar zum Tode verurteilt.

Nein, das ist nichts für ihn. Und wie gesagt, dem Ertrunkenen ist nicht mehr zu helfen.
So einen Hut trug der Pate. Ein Mafiahut!
Sascha bekommt eine Gänsehaut. Das ist ja noch schlimmer. Bezahlte Mafiakiller werden ihn verfolgen. Er verliert sein Leben, seine Familie verliert den Ernährer.
Dann lieber Gefängnis. Seine Kinder werden ihn verleugnen, aber besser als der Tod. Sascha hat gar keine Kinder, übrigens auch keine Frau, aber das tut ja nichts zur Sache.

Sascha schaut sich um. Er wird sich nicht einmischen. Das ist das Beste. Sich raushalten. Seine Ruhe haben.
Niemand zu sehen. Er kann sich verdrücken. Er hat nichts gesehen, nichts gehört, er weiß von nichts. Soll doch der Nächste, der vorbeikommt, die Polizei rufen. Soll der unschuldig ins Gefängnis wandern und auf dem elektrischen Stuhl enden. Oder im Kugelhagel umkommen. Er, Sascha, hat nichts damit zu tun.
Sascha wirft einen letzten Blick zum See. Der Wind ist noch stärker geworden und treibt den Hut immer näher heran. Jetzt aber weg.

Sascha dreht sich um. Und wird beinahe von einer Radfahrerin umgefahren. Sie kann ihm gerade noch ausweichen.
„He, passen Sie doch auf! Wollen Sie mich umbringen?“ Was sagt er denn da? Sein Herzschlag stolpert. Schweiß rinnt bis in seine Schuhe.
Er ist entdeckt. Heutzutage sind sogar die Killer weiblich.
Die Frau wirft ihr Rad ins Gras.  Sascha fällt auf die Knie, streckt die Hände in die Luft. Schon hört er das Zischen der Kugeln.  Sein letzter Gedanke, bevor sie ihn in sein nasses Grab schickt, gilt seinen ungeborenen Kindern.
„Sorry”, sagt die Frau, springt ans Ufer, fischt den Hut aus dem Wasser.
„Meiner“, ruft sie.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 21077

Voller Einsatz

Eine Menschentraube auf der Straße vor dem Haus. Polizei, Feuerwehr, THW, Rettungswagen, Notarzt vor ihrer Haustür.
Ein trommelfellzerfetzender Pfeifton, schrill und irgendwie bekannt, dringt an ihr Ohr und in ihr Hirn. Pia lässt ihre Taschen fallen, drängt sich durch die Menschen. Was ist mit Otto?

Feuerwehrleute, Polizisten, Krankenpfleger, alle laufen durcheinander. Keiner achtet auf Pia. Ihr wird übel, ohne Vorwarnung erbricht sie alle Mahlzeiten des vergangenen Tages über die Füße eines vorbeieilenden Notarztes.
„Geht’s noch?”, ruft der und klammert sich an Pia, sodass beide zu Boden gehen. Dort liegen sie Brust an Brust, sprach- und atemlos.
In Pias Nase mischt sich der Duft ihres Mageninhalts mit dem seines Rasierwassers. Aber Rauch riecht sie nicht.

„Ich muss zu Otto”, ruft Pia und versucht, aufzustehen.
„Sie können da nicht rein.” Der junge Arzt bleibt einfach liegen, als hätte er sonst nichts zu tun.
„Wir haben alles unter Kontrolle”, ruft da ein Feuerwehrmann. „Kein Brandherd auszumachen. Wir gehen jetzt rein.”
Wut, Angst und Gestank verleihen Pia Kraft. Sie befreit sich, springt auf und rennt den Feuerwehrleuten, die nun ins Haus eindringen, hinterher. Niemand hält sie auf.
Im Treppenhaus wieder dieser gänsehautverursachende Pfeifton, noch viel lauter. Und er kommt Pia so bekannt vor, wo hat sie ihn schon einmal gehört?

Sie erreicht vor den Männern, die jede Etage sichern, ihre Wohnungstür im Dachgeschoss. Immer noch kann sie keinen Rauch riechen. Von unten hört sie jemanden rufen: „Hier sind keine Rauchmelder. Wir suchen weiter.”
Jetzt weiß sie, woher ihr der Ton bekannt ist.
Pia stürmt in ihre Wohnung.
Hier ist das Pfeifen lauter als bisher. Ihre Blicke suchen nach Otto. Finden ihn.
In der Ecke des Zimmers, auf der Lehne ihres Ohrensessels, hockt er.
Er reißt den Schnabel auf und wiederholt seine perfekte Imitation ihres Rauchmelders.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 20108

Haus am Meer

Eine sanfte Brise lässt die Gardinen an der Verandatür flattern, Antonia genießt die kleine Abkühlung nach dem heißen Sommertag. Sie legt das Buch zur Seite und tritt auf die Terrasse. Nur das Rauschen des Meeres ist zu hören, dann senkt sich die Nacht über die kleine kroatische Insel.

Im benachbarten Gebäude sieht sie Licht im Obergeschoß, leise Musik ist zu hören.
Seit zwei Tagen ist sie hier.
„Mache Urlaub am Meer, das wird dir gut tun! Und lass um Himmels Willen Smartphone und Tablet daheim, du bist überarbeitet und kommst sonst noch auf blöde Gedanken“, meinte ihr Cranio-Therapeut bei ihrer letzten Sitzung. Er reichte ihr ein Prospekt, auf dem drei kleine Häuser direkt am Meer zu sehen waren. Sie sind in einem Halbkreis angeordnet und liegen ca. zehn Minuten Fahrzeit von einer kleinen Ortschaft entfernt. Antonia war sofort begeistert, sie liebt das Meer.

Gestern ist im Nachbarhaus jemand eingezogen, das dritte Haus steht leer. Antonia konnte nur kurz einen Blick auf die Frau werfen. Lange, mahagonifarbene Haare, die in leichten Wellen den ganzen Rücken bedecken, ein weißes, wehendes Sommerkleid um den schlanken, hochgewachsenen Körper und Flip-Flops an den zarten Füßen. Sie schätzt die Frau auf dreißig Jahre.

Ein lautes Klappern lässt Antonia hochschrecken. Die Frau im Nachbarhaus hat die Fensterflügel geöffnet und dabei eine Blumenvase umgestoßen. Kurz ist sie zu sehen, sie stützt sich mit einer Hand auf das Fensterbrett, mit der anderen hält sie eine Seite des Gesichtes bedeckt. Sie schüttelt sachte den Kopf. Die Musik dringt an Antonias Ohr. Sie erkennt „Die Moldau“ von Friedrich Smetana. Antonia geht zum Gartenzaun:
„Hallo? Ist alles in Ordnung?“ Die Frau erschrickt und starrt Antonia an, dann dreht sie sich um und verschwindet im Raum.
„Wer nicht will, der hat schon“, denkt Antonia kopfschüttelnd.

Am nächsten Morgen geht sie eine ausgedehnte Runde schwimmen. Das macht sie gerne vor dem Frühstück. Im Nachbargebäude ist es noch ruhig. Die Sonne glitzert im spiegelglatten Meer, es scheint wieder ein heißer Tag zu werden. Um die Mittagszeit, Antonia liest gerade in einem Buch, steht dann plötzlich die Frau im Garten und schaut auf das Meer hinaus. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand umwickelt sie Strähnen ihrer langen Haare, ihre Bewegungen sind monoton und der Blick ist starr aufs Wasser gerichtet. Leise summt sie ein Lied. Antonia macht sich durch ein Rücken des Gartensessels bemerkbar. Die Frau dreht sich um und lächelt:
„Ein schöner Tag, oder?“, ihre Stimme ist leise und zittrig.
„Guten Tag, ich heiße Antonia. Ja, es ist wunderschön hier auf der Insel.“
„Mein Name ist Elisa.“ Sie nähert sich dem Gartenzaun, hält den Kopf nun seitlich und begutachtet Antonias Verandatisch.
„Acht Stufen.“
„Wie bitte?“, fragt Antonia verwundert.
„Acht Stufen, vom Garten bis zum Meer. Endlich und unendlich. Eine magische Zahl.“

Antonia sieht nun die wunderschönen, smaragdgrünen Augen ihrer Nachbarin und den ebenmäßigen Teint. Sie wirkt zart und zerbrechlich. Ohne ein weiteres Wort verschwindet Elisa im Haus und dreht die Musik wieder an. „Die Moldau“, die mit einer Querflöte leise plätschernd beginnt und dann Fahrt aufnimmt. Antonia schüttelt den Kopf, geht ins kühle Haus, schließt Fenster und Türen und genießt die Ruhe.

„Jetzt reicht es aber!“ Sie kann es nicht fassen. Die Musik im Nachbarhaus will und will nicht enden, mit zunehmender Tageslänge steigt auch die Lautstärke des ewig gleichen Orchesterwerkes. Kurz vor Sonnenuntergang ist der Lärm unerträglich und Antonia geht in den Garten, will mit Elisa sprechen. Das Fenster des Schlafzimmers ist geöffnet und die Frau steht vor dem Spiegel, in einer Hand hält sie eine große Schere, in der anderen ihre Haare.

Antonia öffnet die Gartentür und betritt das Grundstück.
„Elisa! Hallo? Bitte könntest du die Musik leiser machen?“
Elisa reagiert nicht, langsam und mit konstanten Bewegungen schneidet sie Strähne für Strähne ihrer Haare ab. Tränen laufen über ihre Wangen, ihre Augen sind weit geöffnet und starren in den Spiegel, sie schneidet weiter ihre Haare, bis nur noch eine wirre, ungepflegte Kurzhaarfrisur übrig bleibt.
Antonia drückt die Türklinke nach unten, die Tür ist verschlossen. Sie klopft und ruft, doch Elisa hört sie nicht.
„Himmel noch eins!“ Wütend stapft Antonia wieder in ihr Haus.

Ein gellender Schrei lässt sie aus dem Schlaf hochschrecken. Sie lauscht. Hat sie geträumt? Sie hört nur das Meeresrauschen, plötzlich ein weiterer lang anhaltender, schriller Schrei, der die Nacht durchbricht. Sie tritt ans Fenster und späht ins Dunkel, kann nur einen hellen Farbklecks am Strand erkennen. Im Nachbarhaus ist es finster und der Schrei kam definitiv aus der Richtung des Meeres. Stille. Nur das leise Plätschern der Wellen am Felsen. Antonia wirft einen Blick auf die Uhr, es ist 03:30, sie beschließt, nochmal ins Bett zu gehen.

Das Badetuch umgehängt, in Badeanzug und Strandschuhen schlendert Antonia frühmorgens müde über die Stufen zum Strand. Sie erstarrt. Vor ihr liegt ein weißes Kleid auf den Felsen, daneben Flip-Flops und Unterwäsche. Es sind Elisas Sachen, das erkennt sie sofort. Antonia sucht das Meer ab, es ist niemand zu sehen, kein Schwimmer, kein Boot, nichts. Sie läuft die Treppe wieder hoch, sucht Garten und Umgebung des Hauses ab.

„Elisa?“, ruft sie durch das noch immer offen stehende Schlafzimmerfenster. Langsam drückt sie die Türklinke hinunter, es ist offen, sie späht in den Wohnraum. „Elisa?“, fragt sie nochmals. Sie sieht die Unordnung auf dem Sofa und dem Couchtisch. Leere, umgekippte Gin-Flaschen, benutzte Gläser, Kleider, Schuhe, alles wild durcheinander auf Boden und Möbeln. Antonia überlegt kurz, ob sie eintreten soll, entscheidet dann aber, dass sie zur Polizei fährt.

„Policajac Branko Paravić“, steht auf dem Schild an der Tür. Der Händedruck des Kommissars ist kräftig, seine dunklen Augen sind aufmerksam auf Antonias Gesicht gerichtet.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragt er in ausgezeichnetem Deutsch.
„Mein Name ist Antonia Steger. Ich habe ein Haus in der südlichen Bucht gemietet. Mit meiner Nachbarin muss etwas passiert sein, ihre Kleider liegen am Strand und sie antwortet nicht, wenn ich nach ihr rufe.“ Antonia spricht mit zittriger Stimme.
„Ah, in DER Bucht. Heißt ihre Nachbarin zufällig Elisa?“, fragt er.
„Ja, genau. Also ich kenne sie nicht so gut, sie ist erst seit zwei Tagen hier, aber irgendwas stimmt da nicht.“
„Ich werde mir das am besten vor Ort ansehen. Aber sie müssen wissen, dass uns diese Frau schon bekannt ist. Es gab wegen ihr so manche Anfragen, Beschwerden. Wissen Sie, wie die Bucht noch genannt wird?“
„Nein, das weiß ich nicht?“
„Die Bucht der Verrückten.“

Antonia richtet ihren Blick aus dem Fenster. Die bunten Häuser in der engen Gasse stehen dicht aneinandergereiht. Geklapper von Geschirr ist aus den Küchen zu hören und ein verlockender Geruch nach mediterranem Essen dringt an ihre Nase.
„Wir fahren jetzt gemeinsam zum Haus, in Ordnung?“ Der Kommissar nimmt den Autoschlüssel vom Schreibtisch und hält Antonia die Tür auf.

Branko Paravić hockt neben der Kleidung am Felsstrand. Antonia bemerkt den breiten, kräftigen Rücken des Mannes und die grau melierten, dichten Haare. Er macht einen sportlichen Eindruck, ein Mann in den besten Jahren, der sich fit hält.
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“
„Nun, ich wollte Elisa abends zur Rede stellen, weil sie die Musik so laut aufgedreht hatte ...“
„Die Moldau? Von Smetana?“, fragt Paravić und richtet sich wieder auf.
„Ja, genau. Dann habe ich beobachtet, dass sie sich die Haare ganz kurz geschnitten hat. Die schönen Haare …“
„Für mich hört sich das eher nach Suizid an, wenn ich ehrlich bin“, entgegnet der Kommissar.
„Aber warum dann die Schreie in der Nacht?“, fragt Antonia.
„Welche Schreie? Davon haben Sie nichts gesagt.“
„Ich bin um drei Uhr nachts wach geworden. Zweimal hörte ich eine Frauenstimme vom Meer herüber, die Stimme klang sehr ängstlich und beunruhigend!“
„Sind Sie ganz sicher? Nicht geträumt?“
„Aber ja!“

Der Kommissar legt Antonia die Hand auf die Schulter und führt sie über die Treppe in den Garten.
„Sie müssen wissen, diese Urlaubshäuser hier gehörten dem Mann von Elisa. Er ist leider vorigen Sommer mit dem Motorboot verunglückt. Seine Leiche wurde nie gefunden, das Boot ist am Festland gestrandet. Er ist spät abends alleine rausgefahren, nach einem Streit mit seiner Frau.“ Branko Paravić betrachtet die Häuserfassaden, massiert sich den Nacken und fährt fort:
„Darum kam ich auf den Gedanken, dass sich Elisa vielleicht das Leben genommen hat. Sie kam nicht darüber hinweg. Also, ich fahre jetzt mal ins Kommissariat und komme später nochmal vorbei. Geht es Ihnen gut?“
„Ja, ja, alles in Ordnung.“

Später holt Antonia ihre Badesachen, sie will noch eine Runde schwimmen nach diesem aufregenden Tag. Die angenehme Wärme des Wassers umhüllt sie, sie schwimmt hinaus, holt tief Luft, taucht unter und zieht kräftig ein paar Meter unter Wasser. Als sie auftaucht, spürt sie eine seltsame kalte Strömung an den Beinen, ein eigenartiger Wirbel umspült sie und zieht sie hinunter. Mit geöffneten Augen erkennt sie zahlreiche kleine Fische, die dem Strudel zu entrinnen versuchen. Sie kann wieder an die Oberfläche gelangen, schnappt nach Luft, nimmt die plötzliche Trübung des Meeres um sie herum wahr. Ganz verzweifelt paddelt sie mit den Armen, um ans Ufer zu gelangen. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie sehr weit vom Land entfernt ist. Wieder wird sie von einer unsichtbaren Gewalt in die Tiefe gerissen, tosendes Rauschen in ihrem Kopf, sie strampelt, paddelt mit aller Kraft, kommt wieder an die Oberfläche. Antonia sieht das Auto des Kommissars in die Einfahrt fahren, wieder scheint sie etwas an den Beinen zu fassen. Eine Hand, sie umklammert fest ihren rechten Knöchel, zieht an ihrem Fuß, sie taucht wieder unter, strampelt, kurz lässt die Hand ihr Bein los, um, nachdem sie für Sekunden auftauchen und schreien kann, sie wieder in die Tiefe zu ziehen.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um | Inventarnummer: 19137

Wenn sie keiner Menschlichkeit zujubeln

Blaue Alpen,
wachen über uns
Sie bauen uns Zäune,
Der eine oder andere
erzählt von der guten alten Zeit
da haben sie gejubelt vor dem Auto,
Ein Bier
ein Schnitzel
dazu schöne Lieder aus der Heimat
ein schönes Liederbuch
auf das Kapperl
auf zum Fechtkampf
Deutsches Reich ein Traum,
Schau, einen Hund hat man auch mitgebracht
zwar kein Schäferhund
ein wenig kleiner
Hundeliebe kommt einem so bekannt vor
so treu
wie das Volk, das mit den Fahnen weht

Der Immobilienhai ist so ein großer Fan,
schöne neue Wohnungen
unbedingt muss dieser Mann kommen,
Er sieht so ehrlich aus
lächelt immer allen zu,
Meine Nachbarin ist ein großer Fan
er lädt gerne Leute zu sich nach Hause ein
dort hört sie Sachen,
Sie erzählt gerne eine Geschichte
über seltsame Phänomene
von Gift, das auf die Bevölkerung versprüht wird
aus Flugzeugen

Kopfbedeckungen sind ein Gräuel
diese Tücher sind alle gefährlich
diese verschiedenen Farben erst,
Ein Volk braucht Uniform
braun gab es schon
blau fängt mit B an
das würde auch gehen,
Wüstenvölker sind böse
alle
schänden die Frauen
kennen nur Brutalität
Bücher von Propheten - GEFÄHRLICH
Lager
Zäune
Ausgangssperre

Es erinnert ein wenig,
an jene  Zeit,
Meine Großeltern meinen,
diese Verbrecher kommen immer wieder

Muss ich besorgt sein um mein Umfeld
um Menschen, die man zu den Minen schicken will
zu den Autobomben

Wenn Menschlichkeit vergessen wird,
dann haben sie Recht gehabt

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um ... | Inventarnummer: 20005