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Weihnachten – eine kritische Auseinandersetzung

Prolog

Weihnachten ist eine Zeit des Miteinanders, eine Zeit des Innehaltens und der reflexiven Auseinandersetzung mit dem vergangenen Jahr. Eine Zeit, in der wir uns vor Augen führen, dass Geschehnisse zu Jahresbeginn rückblickend vielleicht doch Sinn ergaben, und eine Zeit, in der Dankbarkeit und Freude – sowie ein gewisser Zauber – in und um uns herum spürbar werden.

Doch nicht jeder teilt diese Auffassung, denn für manche ist Weihnachten nichts weiter als Konsum, Kitsch und aufgesetzte Glückseligkeit. Und obwohl diese Weihnachtsgeschichte kein Mahnwerk gegen derlei Entwicklungen sein soll, so ist sie zumindest ein Fernrohr in eine alternative Perspektive.

Die Geschichte von Christian Kindel

Christian, bzw. Chris Kindel, war als einziges und sehnlichst erwartetes Kind von Sissi und Franz Kindel zur Welt gekommen, die zeit ihres Lebens ein Dasein in Abgeschiedenheit vorzogen. Während sie zu Beginn der 80er-Jahre zunächst mit Klein Christian in einer Kommune lebten, zogen sie noch vor seiner Einschulung auf den abgeschiedenen Bauernhof von Christians Großeltern, die ihren Ruhestand im weit entfernten Florida genossen.

Chris’ frühe Kindheit war geprägt von Natur und kritischen Weltansichten, was zunächst durchaus förderlich für den Kleinen war – wäre da nicht die Einschulung gewesen, die sein Leben drastisch veränderte …

Kinder können grausam sein

Gestaltete sich der erste Schultag an der ländlichen Volksschule noch einigermaßen annehmbar, so änderte sich dies bereits in der ersten Woche, da Christian es nicht gewohnt war, mit anderen Kindern zu spielen. Lesen konnte Chris bereits mit vier und mit sechs diskutierte er mit seinen Eltern über das politische Weltgeschehen am Frühstückstisch. Mit seinen Themen fand er kaum Zuspruch unter seinen Altersgenossen, die es ihn auch durchaus spüren ließen.

Es gab täglich Hänseleien aufgrund seiner Kleidung, seiner Jause, bestehend aus Dinkel-Grünkern-Laibchen oder anderen weniger gewürzten Speisen und den Pausengesprächen über Superhelden-Figuren oder Zeichentrickserien konnte er nur schwer folgen, denn einen Fernseher hatten sie nicht.

Zu Weihnachten erreichten die Hänseleien jährlich ihren Höhepunkt, als Chris Kindel nun auch noch aufgrund seines Namens in Ungnade fiel. Seine Mitschüler legten ihm in der Vorweihnachtszeit täglich Stroh auf seinen Platz, sie zierten sein Fach mit weißen Federn und ließen ihm Zeichnungen zukommen, auf denen das Christkind, auf einen Christbaum aufgespießt, Bäche aus roter Farbe blutete.

Und obwohl solche kindlichen Erlebnisse auch die Biographien so mancher  erwachsener Serienmörder zierten, hielt Chris durch, denn die Liebe und Fürsorge seiner Eltern waren ihm gewiss.

In der Schule war Chris, so besang es auch bereits Sting, „a legal Alien“ in einer ihm unbekannten Welt und so zog er sich zurück, wurde still und ein kritischer Beobachter seiner Umwelt.

Jahre später

Die Jahre danach gestalteten sich durchaus erfolgreich. Er studierte Journalismus, wurde direkt nach dem Studium bei einer renommierten Zeitung angestellt und nach wenigen Jahren übernahm er bereits den Posten des Kritikers. Vielleicht war es eine späte Rache des kleinen Jungen an der Gesellschaft oder die Verbitterung eines früh Ausgestoßenen, aber zu Weihnachten ließ er kaum ein gutes Haar an den durch ihn bewerteten Veranstaltungen. Er liebte es, die weihnachtlichen Akteure durch ihren eigenen Kakao zu ziehen, und hätte er gekonnt, er hätte sie darin ertränkt. Nun ja, vielleicht war doch ein kleiner Schaden geblieben aus seiner Kindheit … Aber sei es drum.

Seine Kritiken waren bei den ansässigen Zuckerbäckern so gefürchtet, dass sich die Prämierungen der besten Kekskreationen sogar als nervenaufreibende Thriller-Szenarien darstellten. Während sich die Kontrahenten gegenseitig das Leben schwer machten, hatten sie Chris’ gefürchteten metaphorischen Rotstift im Kopf, paralysiert wie im Angesicht einer geladenen Halbautomatik.

Chris war gnadenlos. Während er bei den Zimtsternen eines Teilnehmers den allzu reichhaltigen Zuckerguss bemängelte und im selben Satz dessen Daseinsberechtigung infrage stellte, kritisierte er bei einer anderen Teilnehmerin die Ungleichmäßigkeit ihrer Vanillekipferl – nebst ihrer gänzlichen Nichteignung für diesen Beruf.

Chris’ Kritiken waren scharfzüngig, vernichtend und über die Maßen unfair und rücksichtslos. So war es kaum verwunderlich, dass viele der ortsansässigen Zuckerbäcker nach wenigen Jahren das Weite suchten, um außerhalb seines Einflussbereiches arbeiten zu können. Andere hatten hingegen mit Nervenzusammenbrüchen zu kämpfen, weshalb die Psychotherapeuten innerhalb seines Landkreises durchwegs große und schnelle Autos fuhren.

Von Keksen und Katastrophen

Chris Kindel saß in seinem Büro und las. Es war ein Kommentar zu seiner letzten Kolumne, in der er einen örtlichen Bäcker mit den Worten zerstört hatte: „Seine Lebkuchenhäuser sehen aus, als hätte ein betrunkener Weihnachtswichtel seine Notdurft darauf verrichtet, nachdem er eine Abrissbirne aus allzu harten Kokosbusserln geschwungen hatte.“ Die Leser waren empört, aber die Klickzahlen schossen durch die Decke, weshalb ihn sein Arbeitgeber auch weiterhin gewähren ließ. Innerlich grinste Chris hämisch, denn er wusste, er war der Dieter Bohlen der Weihnachtskritiker, einer, der immer sagte, was er dachte, und das mit Witz und – nun ja, zugegeben – einer gewissen destruktiven sadistischen Ader.

Doch genau in dem Moment, als er sich über seine eigene Brillanz amüsierte, kam eine unerwartete E-Mail herein. Die Absenderin: Luna, eine Bekannte aus der Kommune seiner frühesten Kindheit. Mit ihr hatte er im Sandkasten gespielt und sie hatten sich gemeinsam Geschichten ausgedacht, bevor Chris mit seinen Eltern wegzog. Luna hatte sich vor Jahren in die Kunstszene abgesetzt und mit esoterischen Malkursen für Furore gesorgt.

Der Betreff lautete: „Adventessen – komm, du brauchst das!“

Die Nachricht war kurz und dennoch typisch Luna: „Chris, ich weiß, du hältst Weihnachten für den schlimmsten Marketing-Trick der Menschheit. Aber bevor du wieder deine bissige Kolumne raushaust, komm doch vorbei. Keine Glitzerkatastrophen, keine gezwungene Fröhlichkeit – nur ein paar interessante Leute, gutes Essen und genug Wein, um die Weihnachtszeit halbwegs zu ertragen. Vielleicht überrascht dich der Abend. LG, Luna.“

Chris schnaubte laut. Ein Adventessen? Was kommt als Nächstes? Ein Singkreis mit Jingle Bells oder eine Runde Wichteln? Sein Finger schwebte schon über der Löschtaste, doch dann hielt er inne. Ein Abend, an dem Weihnachten nicht in Zuckerguss und Kitsch versank, sondern in Wein? Das klang fast … verlockend.

Außerdem war Luna nicht irgendwer. Ihre Fähigkeit, die abstrusesten Menschen zusammenzutrommeln, war legendär. Es reizte ihn, diese Gruppe einmal genauer unter die Lupe zu nehmen – nicht zuletzt, um sich später genüsslich daran zu erinnern, denn tief drinnen war er schon ein Freund des Genusses und der Geselligkeit, aber zugegeben hätte er es nie.

Ein Abend der besonderen Art

Luna lebte in einem aufgelassenen Fabriksgebäude, zusammen mit anderen Künstlern in einer Art WG. Da sie in einer Kommune groß geworden war, war sie die permanente Gesellschaft schließlich gewohnt.

Als Chris an diesem Abend bei ihr eintraf, hörte er bereits im Treppenhaus Stimmen, Gelächter und etwas, das wie ein Schlagzeugsolo klang. Als er eintrat, verschlug es ihm kurz die Sprache: Luna hatte ihre Wohnung in ein groteskes und anarchistisches Weihnachtswunderland verwandelt.

Überall hingen Girlanden, die offensichtlich aus recyceltem Zeitungspapier gebastelt waren. Ein „Weihnachtsbaum“ aus aufgetürmten leeren Weinflaschen thronte in einer Ecke, geschmückt mit LED-Lichtern. Auf dem Tisch stand eine Mischung aus selbstgemachten Gerichten und gekauften Snacks – darunter ein Käseigel mit Plastikschwertern im Leib.

Luna kam auf ihn zu, ein Glas Wein in der Hand, und grinste.

„Chris! Willkommen im Anti-Weihnachtswunderland. Wein? Oder etwas Stärkeres?“

Chris nickte zum Wein. „Ich nehme, was du hast. Hauptsache, es passt zu dieser …  äh … Kunstinstallation hier.“

Luna lachte. „Oh, du bist noch nicht mal ansatzweise auf das vorbereitet, was dich heute erwartet.“ Sie führte ihn zu einer illustren Runde, die bereits mit Essen beschäftigt war.


Die Gäste

Chris setzte sich neben einen Mann namens Thorsten, der sich als „professioneller Weihnachtskritiker“ vorstellte. „Ach, endlich ein Gleichgesinnter“, dachte Chris. Doch schon nach fünf Minuten stellte sich heraus, dass Thorsten Weihnachtsfilme bewertete – mit einem selbst entwickelten Punktesystem, das alles von „Rentier-Echtheit“ bis zur „Emotionalen Weihnachtsbotschaft“ umfasste. Neben ihm saß eine äußerst gutaussehende Frau. Sie war Thorstens Freundin, die er von früher kannte, als er noch Pornos gedreht hatte.

Ihm gegenüber saß Carla, die stolz verkündete, dass sie dieses Jahr ein Buch über nachhaltige Weihnachtsgeschenke veröffentlicht hatte. „Es heißt Frohe Öko-Weihnacht: Vom up-gecycelten Birkenstock bis zur selbstgebrauten Zahnpasta.“ Chris nickte höflich, während er insgeheim überlegte, ob Zahnpasta überhaupt gebraut werden konnte.

Zwischen ihnen saß ein schweigsamer Mann namens Björn, der sich als Holzschnitzer vorstellte. Seine einzige Bemerkung während des gesamten Abends war: „Der Wein schmeckt nach Kork. Aber irgendwie passt das.“

Nach dem Essen kündigte Luna an, dass es Zeit für das „Hauptprogramm“ sei. Chris stöhnte innerlich und vielleicht fürchtete er sich heimlich auch ein bisschen. „Wahrscheinlich eine feministisch-pantomimische Darstellung über Christi Geburt, mit getanzten kirgisischen Untertiteln“, dachte er bei sich.

Doch es kam anders. „Heute Abend werden wir ein modernes Krippenspiel aufführen!“, verkündete Luna stolz. „Jeder von euch hat eine Rolle.“

Chris überlegte, einfach aufzustehen und zu gehen, doch bevor er reagieren konnte, drückte Luna ihm ein Stück Papier in die Hand. Darauf stand: „Rolle: der zynische Hirte.“

Die Aufführung, ein unheiliger Mix aus Improvisationstheater und völliger Planlosigkeit, war eine Katastrophe – aber genau deshalb so witzig. Thorsten samt Freundin spielten Josef und Maria, die in zuckenden Bewegungen den Geburtsvorgang darstellten, jedoch wusste niemand so genau, wieso Thorsten auch zuckte. Carla laberte als einer der Weisen etwas von Gold und Quecksilberbelastung, und Luna glänzte als Weihnachtsstern, indem sie die Szenerie mit ihrer Taschenlampe erhellte.

Als Chris an der Reihe war, stolperte er mit einem theatralischen Schrei über seinen eigenen Stock: „Die Schafe laufen weg! Das war’s mit dem Heiligen Abend!“ Doch da war auch noch Björn das Schaf, der trocken entgegnete: „Das Problem bist du, Hirte. Nicht wir.“

Die Runde brach in schallendes Gelächter aus. Björn stand gemächlich auf, klopfte sich den Staub von den Knien und fügte hinzu: „Manchmal muss eben auch ein Schaf seine Wahrheit sagen.“

Der Abend war ein Highlight in Chris’ Leben. Er fühlte sich wohl unter den schrägen Vögeln, und plötzlich wurde auch ihm bewusst, dass gut auch jenseits der Norm liegen kann.

In Absprache mit den anderen schrieb Chris in seiner Kolumne über den Abend. Doch diesmal war sie anders. Statt einer weiteren Abrechnung mit Weihnachten entschied er sich, das Chaos und die Absurdität zu feiern. Er beschrieb das Krippenspiel mit einer Mischung aus Humor und Zuneigung:

„Manchmal braucht es keinen perfekten Baum, keine glänzenden Kugeln und keine wohltönenden Chöre. Manchmal reichen ein improvisiertes Krippenspiel mit schrägen Typen, ein Käseigel und ein bisschen zu viel Wein, um Weihnachten zu retten.“

Die Kolumne schlug ein wie eine Bombe. Leser schickten ihm ihre eigenen Geschichten von chaotischen Weihnachtsfesten, Chris’ E-Mail-Postfach war so voll wie nie zuvor.

Chris entschied sich, diese Geschichten aufzugreifen und in seiner Kolumne zu veröffentlichen. In seiner kritischen Betrachtung von Weihnachten waren nun auch positive Töne wahrnehmbar, nämlich jene, die die Andersartigkeit feierten.

Vielleicht versöhnte sich hier auch der kleine, gemobbte Chris mit der Welt, die ihn damals nicht akzeptieren konnte? Zumindest die Psychotherapeuten der näheren Umgebung hätten mit diesem Fall ihre helle Freude gehabt.

Ein paar Tage später klingelte es an Chris’ Tür. Vor ihm stand Luna, ein breites Grinsen im Gesicht und eine Tüte in der Hand. „Ich dachte, du könntest ein bisschen Weihnachtsdeko gebrauchen“, sagte sie und drückte ihm die Tüte in die Hand.

Drinnen fand er einen winzigen Weihnachtsbaum – offensichtlich von Björn aus Holzresten geschnitzt – und eine Packung Lametta. Zusammen mit Luna stellte er den Baum auf seinen Couchtisch – zwar ein bisschen widerstrebend, aber doch mit einem Lächeln. Zum ersten Mal seit Jahren wich die Nüchternheit seines Zuhauses etwas Glänzendem – wenn auch nur ein bisschen.

Luna und Chris trafen sich fortan regelmäßiger und, wie könnte es in einer Weihnachtsgeschichte auch anders sein, verliebten sich ineinander. Chris feierte fortan kein einziges Weihnachtsfest mehr allein, denn er hatte eine neue Familie aus schrägen, liebenswerten Vögeln gefunden.

Ein neues Talent

Nach dem triumphalen Erfolg seiner Kolumne und dem Happy-End-Abend bei Luna war Chris Kindel nicht mehr der Gleiche. Er hatte plötzlich eine völlig neue Perspektive auf die Dinge – und vor allem: eine neue Muse.

Gehypt durch das positive Feedback seiner Leserschaft, entschied sich Chris, nun auch ein Buch zu schreiben. Ein lustiges Buch, das ein wenig seine eigene Geschichte erzählte, in der es um ein Happy End ging. Natürlich genau dann, als der verbitterte Protagonist schlussendlich seine Heimat und neue Perspektiven fand.

Das Buch, Arbeitstitel „Von Zimtsternen und Zynikern“, wurde ein Überraschungserfolg. Leser lachten, weinten und schickten ihm ihre eigenen verrückten Erlebnisse. Chris entdeckte etwas, das er nie für möglich gehalten hatte: Es machte ihm Freude, Menschen zum Lachen zu bringen.

Chris Kindel wurde ein Botschafter des unperfekten Weihnachtsfests. Seine Kolumnen wurden zur jährlichen Tradition, in denen er die absurden, chaotischen und manchmal rührenden Geschichten seiner Leser teilte. Und obwohl er immer noch den Biss eines Kritikers hatte, war es nun ein Biss, der zum Lachen anregte – und nicht mehr zum Zittern.

Eine süße Versöhnung

Auch mit den Zuckerbäckern fand Chris einen neuen Umgangston. Eines Tages überredete Luna ihn zu einem Backkurs bei einem seiner früheren „Opfer“ – einem Bäcker, dessen Windringe er einst mit einem besonders unschmeichelhaften Vergleich, die Analregion betreffend, bedacht hatte.

Als der arme Zuckerbäcker ihn in der Gruppe Lernfreudiger entdeckte, wurde er kurz etwas blass um die Nase, aber schlussendlich war der Kurs ein Erfolg, denn Chris wollte gemeinsam mit Luna lernen, wie man gute Kekse machte. Beide liebten den Süßkram, aber vor allem liebten sie es, gemeinsam zu backen.

Weihnachten würde bei Kindels künftig also auch backfreudig ablaufen, in illustrer Runde jedoch auf jeden Fall zum Abkeksen.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 25054

 

Weihnacht

In dieser Zeit funkelnder Besinnlichkeit,
da der Zauber der Nacht
den Himmel noch schwärzer macht,
und in der Weite dunkelnder Unendlichkeit
kaltherzig und glasklar
dir die Endlichkeit entgegenlacht,
ist die innere Einkehr elementar.
Und als Komplementär zur Fülle
die Stille eine schützende Hülle.

Hörst du das leise Knistern in der Luft,
das geheimnisumwobene Wispern?
Das surrende Schwingen sanften Flügelschlags,
das sich auch des Tags nicht verliert
und unbemerkt fein im Schein heller Kerzen
deine Sinne stimuliert?

Dann ist Weihnacht, nur dann.
Engelsgleich ihr Gesang, samtweich.
Und unendlich reich
ihr fast vergessener, ureigener Klang.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 24188

Mit Freundinnen zur Auszeit

Vor über zwanzig Jahren hatten die Ehemänner, meiner eingeschlossen, unseres Freundinnenquartetts eine herausragende Idee: Uns wurde ein gemeinsames Wochenende „Wellnessen“ geschenkt. Frauen, die etwas in die Jahre kommen, wo die Kinder aus dem Gröbsten raus sind und die mal auf „Runderneuerung“ fahren wollen, freuen sich natürlich sehr über diese noble Geste. Knapp über dreißigjährig waren wir vier Ladys damals und die Angebote der hiesigen Wellnesshotels an Kosmetikbehandlungen, Massagen und das ganze Drumherum mit Pool und Saunen haben uns schwer begeistert. Unser Motto: Gemütlich soll’s sein, erholsam und natürlich kann man auch gerne von den diversen Behandlungen profitieren – Frau will wieder verschönert und runderneuert werden. Ob unsere geschätzten Männer damals ahnten, dass dies keine einmalige Sache bleiben wird, wissen wir bis heute nicht und hinterfragen das auch besser nicht. Mit Ausnahme der drei Pandemiejahre waren wir somit gesamt achtzehn Mal in unterschiedlichen österreichischen und bayrischen Hotels einquartiert.

Wäre ich eine Influencerin, hätte ich vielleicht ein wenig daran verdienen können. Tatsächlich ist es aber so, dass kein Hotel eine über fünfzigjährige Frau, die bereits Großmutter ist, als Influencerin anfragt. Ohnehin wäre ein Foto von mir im Bikini vor dem Pool und der Hotelfassade kaum Werbung für das Unternehmen. Die Sache mit dem Business auf Social Media lasse ich also lieber bleiben.

Insgesamt wurden wir in allen Hotels freundlich begrüßt und hatten durchwegs ausgezeichnete Küche. Im Laufe der Jahre haben sich jedoch unsere Prioritäten verändert. Von zu Beginn etlichen Buchungen für Massagen und Beautyanwendungen, bevorzugen wir jetzt eher die Stille in den Ruheräumen zum Lesen und Erholen. Wobei uns schon aufgefallen ist, dass manche Hotelgäste das Wort „Ruheraum“ nicht allzu ernst nehmen. Auf den Liegen wird geratscht, mit Rascheltüten in der Hand Essen verzehrt, es werden Videos am Smartphone angeschaut und manchmal kommt es sogar vor, dass telefoniert wird. Von unseren vier Liegen hört man maximal ein Blättern im Buch, oder ein leises Schnarchen – wobei das Schnarchen nur bei fünfzig Prozent des Quartetts vorkommen kann, also quasi nicht erwähnenswert ist. Aber gut, wir sind ja im Ruhemodus und regen uns über den Lärmpegel der Mitgäste nicht auf. Überhaupt sind wir vier Damen sehr umgängliche und angenehme Gäste, haben keine Extrawünsche und sind sehr anpassungsfähig. Was mich dennoch in einem Hotel etwas stutzig gemacht hat, waren die fix angebrachten Diebstahlschutzsicherungen an allen Kuscheldecken des Ruheraumes. Ich hatte, ehrlich gesagt, bis dahin noch nie darüber nachgedacht, mir eine Decke mit nach Hause zu nehmen?! In meinem Koffer wäre da überhaupt kein Platz dafür?!

Die ersten Jahre in der Beautyabteilung ist es schon mal vorgekommen, dass man bei einer Detoxganzkörperpackung zwei Tage lang riecht wie ein Fisch, Algen helfen, den Körper zu entschlacken und das Hautgewebe zu unterstützen sowie die Durchblutung und den Stoffwechsel anzuregen. Wenn man da eine halbe Stunde in der Versenkung schwitzt und hofft, dass die Kosmetikerin einen nicht vergessen hat, können dreißig Minuten ganz schön lang werden. Vor zwanzig Jahren war ich auch noch eine gute Kundin für den Einkauf an der Theke der Kosmetikabteilung. Ich wollte all die Salben, Seren und Cremes für das heimische Badezimmer kaufen, um Falten vorzubeugen und das Jahr bis zum nächsten Wellnesstermin möglichst straff überstehen. Leider kamen bei der Bezahlung der Hotelrechnung mit den zusätzlich sehr kostspieligen Pflegeprodukten die Sorgenfalten prompt zurück und ins Auto stieg ich dann jeweils mit ziemlich erblasster Gesichtsfarbe. Fazit: Heutzutage bleibt manchmal sogar ein Probepäckchen einer Salbe aus Versehen liegen.

Nachdem wir untertags bei unseren Aufenthalten viel Zeit für Ruhe und Entspannung aufbringen, kann es vorkommen, dass wir abends eine beachtliche Ausdauer für gutes Essen, angenehme Gespräche und den Baraufenthalt vorweisen können. Bei irgendetwas muss sich die angesammelte Energie ja entladen. So wird (aus Macht der Gewohnheit) beispielsweise der leere Suppenteller zur Küche getragen, wenn frau auf dem Weg zum Salatbuffet ist. Daheim verlässt man den Tisch ja auch nicht, ohne abzuräumen. Gut – dieses Versehen ist mir ein einziges Mal passiert –, wird nicht mehr vorkommen, versprochen. Dabei waren wir sogar schon mal in einem Hotel, das als Servicepersonal einen Roboter einsetzt, leider nur zum Wegtransportieren von Geschirr, Bestellungen nahm er keine entgegen, obwohl unsere Kehlen ziemlich ausgetrocknet waren. Das Personal in jenem Haus war recht beschäftigt mit dem Bestücken des Robotertabletts, damit er dieses in die Küche bringen kann. Ehrlich gesagt etwas befremdlich so ein Technikteil, wenn es durch den Restaurantbereich kurvt, denn in diesem Haus ist alles über die Maßen großzügig mit bunten Plastikblumen, glitzernden Tapeten an den Wänden und goldenen Lüstern dekoriert. Über die Dekorelemente des Hotelzimmers werde ich hier nicht näher berichten, denn über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten.

Wie eingangs erwähnt, wurden wir in wirklich allen Hotels ausgezeichnet verköstigt, und zu einem guten Abschluss des Tages gehört natürlich ein Besuch in der Hotelbar. Und da tun sich Gräben auf!! Nicht bei uns, nein, wir sind ja, wie bereits beschrieben, angenehme Gäste! Aber dass in einem einzigen Jobbereich (Barkeeper:In) so viele unterschiedliche Charaktere arbeiten, ist beinahe unfassbar!

Mir fällt da ein überaus engagierter und sympathischer Barmann ein, der nach unserem ersten Abend im Haus keine Orangen und keinen Tequila mehr vorrätig hatte für den nächsten Tag. Nachdem wir den Barbereich – als Abschlussgäste – verlassen hatten, ist er ins Nachbarhotel marschiert und hat in einem Korb Orangen und eine Flasche besten Tequila geholt. Zimt war noch vorhanden und seine gute Menschenkenntnis hat ihn nicht getrogen, er hat auch am folgenden Abend mit uns gerechnet, und wir wurden nicht enttäuscht. Diesen umsichtigen Barkeeper hätten wir gerne auch in andere Hotels mitgebucht für unseren Aufenthalt. Leider ist das in dieser Form noch nicht buchbar.

In einem anderen Haus war ein sehr junger Barverantwortlicher, der vermutlich etwas überfordert war mit uns vier Damen. Die Räumlichkeit war gut besucht und er hatte etwas Not, alle Tische rasch zu bedienen. Wahrscheinlich hat ihn das müde gemacht und er hat deshalb kurz vor Mitternacht begonnen, die Theke und die freien Tische mit Desinfektionsmittel zu reinigen. Den gastunfreundlichen Geruch habe ich heute noch in der Nase. Es hat nur noch gefehlt, dass er die Sessel auf die leeren Tische stellt und den Bürgersteig hochklappt, während wir bei unseren halbvollen Gläsern sitzen.

Das schöne Bundesland Tirol haben wir nur ein einziges Mal für einen Wellnessaufenthalt besucht. Und das ist begründet in einem Wort mit sieben Buchstaben: Schnaps! Die Hotelchefin meinte es nach dem Besuch des Restaurants so gut mit uns, dass sie uns ihre edelsten Tropfen zum Verkosten kredenzte. Und sie hatte etliche Spirituosen! Ein „Nein“ wurde nicht akzeptiert, und zu unserem Leidwesen waren die Gläser nicht in zarter Fingerhutgröße. Wir wollten nicht unhöflich sein und natürlich wollten wir uns auch keine Blöße geben. Über das Befinden am nächsten Tag legt sich bis heute einvernehmlich Stillschweigen.

Den ganzen Barbesuchen die Krone aufgesetzt hat aber eine Dame im Salzburger Land. Wir haben sie damals auf ca. „Kurz-vor-Pensionierung“ geschätzt. Eine schlanke, mittelgroße Frau, hochdeutsch sprechend und mit Mireille-Mathieu-Frisur. Sie ließ sich äußerst selten blicken für eine Neubestellung, das jedoch nicht, weil sie viel zu tun hatte, nein, wir waren ihre einzigen Gäste! Ihrer versteinerten Miene zu entnehmen, hatte sie keine Lust auf Smalltalk und auch sonst keine Ambitionen, den Barumsatz zu steigern. Bei jedem weiteren Glas meinte sie nur: „Das ist jetzt aber das letzte Gläschen, ja?“ Nachdem wir das nicht als Frage verstanden haben, fehlte natürlich eine entsprechende Antwort. Kurz vor Mitternacht meinte Frau Mathieu: „Jetzt gehen wir dann aber alle hübsch schlafen, gestern war hier ein Chirurgenkongress und es ist länger geworden.“ Wir haben uns neugierig umgesehen und fragten, wo die Chirurgen denn wären? „Die sind schon abgereist, also dann – husch husch!“ Ich erinnere mich vage daran, dass sie in die Hände geklatscht hat beim Wort „Husch“! Kurzzeitig fühlten wir vier Frauen im besten Alter uns, als wären wir in der Volksschule und die Lehrerin habe uns energisch zur Eile aufgefordert.

Aufmerksame Leser werden bemerken, dass zu all der Ruhe und Erholung, zu den guten Gesprächen, dem leckeren Essen und den wunderbaren Stunden mit den Freundinnen noch ein weiteres, ganz wichtiges Attribut bei diesen Aufenthalten dazu gehört – Spaß! Jede Menge Spaß und viel Lachen! So werden an den drei Tagen im Jahr zwar die Lachfältchen mehr, aber diese Tage sind immer etwas ganz Besonderes und Kostbares. Ich danke meinen „Mädels“ ganz herzlich dafür.

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 24180

Bezaubernd einfach

Zauberer, Magier, Illusionist, Taschenspielertrickser,
Bällchen unter den Hütchen Verschieber.
Angespannt warten, genau hinsehen, investigativ,
weite Ärmel, „aha, so könnte es gehen“, Erwartungshaltung,
das Taschentuch wird zur Taube aus dem Zylinder,
und doch staunen, „aahh“, macht die Menge.
Die Eltern freuen sich, dass ihre Kinder lachen,
Mann nützt die Gelegenheit, legt Frau die Hand an ihre Hüfte,
sie legt ihre auf seine, streichelnde Finger.
Der Hut geht um, die Hilfiger-Golfer-Verschnitte
und die Prada-Dämchen sind plötzlich in Eile,
die klimperndsten Münzen sind die der kleinen Leute.
Der Zauberer verbeugt sich tief, schwenkt den Arm in Theatermanier,
packt den Koffer wieder ein, das Äffchen klettert von seiner Schulter.

Der Zylinder und der Stab des Zauberers mit Konfetti und falschem Schnee

Der Zylinder und der Stab des Zauberers mit Konfetti und falschem Schnee

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 24169

max, der Bauherr – Auf Rosen gebettet

Aus der Wiener Häuslbauer-Serie

max, der Bauherr, hatte wieder einmal kein Geld. Das war an sich der Normalzustand, denn gegen Ende der Rohbauphase geht allen Häuslbauern das Geld aus und der langjährige finanzielle Seiltanz ohne Netz beginnt. Tatsächlich hatte sich max bereits dermaßen an das geldlose Leben gewöhnt, dass ihm komisch zumute war, wenn er einmal mehr als einen Hunderter in der Tasche hatte. Aber diesmal war es ernst, denn übermorgen war Hochzeitstag und da wollte seine Elli ein bisschen verwöhnt werden – ein verständlicher Wunsch, wenn jeder Euro sofort in Zement, Dachziegel, Baustahlgitter etc. investiert wurde. Es soll schließlich auch ein Leben vor dem Tod geben, mit ein wenig Luxus wie Tanzen gehen, Theater, Restaurants, schöne Sachen zum Anziehen und so. Aber woher nehmen? max hatte gerade den Dachdecker ausbezahlt und das bedeutete monatelange finanzielle Dürre, bis wieder ein paar Euro nachwuchsen.

Anfangs war es ja noch lustig gewesen, seine Leute dergestalt zum Essen auszuführen, dass ein Baustoffhändler oder Möbelhaus beim Sommerabverkauf ein halbes Grillhendl mit einem Krügel Bier um fünf Euro feilbot. Einmal hatte der Computerlieferant von maxens Arbeitgeber eine Produktpräsentation mit spanischem Ambiente veranstaltet und so kam Elli in den Genuss einer Paella mit Flamenco-Tanzdarbietung, ein anderes Mal bekam max eine Einladung zu einer „Together-Party“ vor einer beruflichen Fachmesse und schwindelte seine Gattin mit dem Namensschild einer Kollegin in das Nobelhotel ein, was einen lustigen und luxuriösen Abend ergab. Mit der Zeit bekam max eine phänomenale Spürnase für alles, wo es in schönem Rahmen etwas Feines zu schnabulieren gab – Hausmessen großer Firmen, Jubiläumsfeiern, Vernissagen und so weiter. Aber das alles verflacht irgendwann einmal, ewig kann man sich nicht durchschwindeln.

Und dieses Mal war totale Ebbe; max hockte abends auf seiner Rohbau-Schwelle und seufzte vernehmlich. Sein Schräg-vis-à-vis-Nachbar Karl kam mit dem Hund vorbei und setzte sich verständnisvoll schweigend dazu. Er war mit seinem Haus schon fast fertig, weil er einen wohlhabenden Schwiegervater hatte. Und zwischen den paar Häuslbauern in der Umgebung war eine unglaublich gute Gemeinschaft entstanden, die weit über das Nachbarliche hinausging. Man kannte und vertraute einander, besprach seine Sorgen, half sich gegenseitig aus und hatte dieselben Interessen, unabhängig von Alter, Beruf und sozialem Status. „Thema eins oder zwei?“, fragte Karl mitfühlend (Thema eins war das Geld, Thema zwei waren die Frauen). „Kombiniert“, war die leise Antwort von max, „wir haben übermorgen Hochzeitstag.“ Der Nachbar pfiff leise durch die Zähne und dachte dann laut: „Übermorgen ist Sonntag, und du bist pleite, stimmt’s?“ max drehte in einer hilflosen Geste die Handflächen nach oben: „Wird auch vorbeigehen, mir wird schon was einfallen“, sagte er wenig überzeugend, „reden wir von was anderem, was macht ihr morgen?“ „Ich fange morgen mit dem Garten vor dem Haus an, um sieben Uhr früh kommt die Erde, und um acht der Gärtner, aber Helfer hab ich wieder keinen, weil mir der versoffene Kerl abgesagt hat“, ärgerte sich der Nachbar, „ich weiß noch nicht, wo ich da schnell wen bekommen kann!“

Aber dann hellte sich sein Gesicht auf und er sah max erwartungsvoll an: „Kannst du mir nicht helfen? Hättest du Zeit?“ max zuckte gleichmütig die Achseln: „Die Baustelle aufräumen wollte ich, das kostet nichts. Aber das kann ich immer noch. Ja, komm ich halt um achte zu dir.“ Der Nachbar strahlte: „Da ist mir viel geholfen. Aber ich möchte dir was geben dafür, der Hausarbeiter von meiner Firma hätte mich auch 15 Euro pro Stunde gekostet, ich will mich ja nicht bereichern!“ „Kommt nicht in Frage, Karl, wir haben uns immer umsonst ausgeholfen“, lehnte max kategorisch ab. Aber der Nachbar ließ nicht locker: „Schau, wenn ich es zusammenrechne, hast du mir schon öfter geholfen als ich dir. Und außerdem, den ausgeborgten Zement für meine Außenstiege bin ich dir auch noch schuldig, den muss ich aber zahlen, weil ich kaufe ja keinen mehr, das sind zusammen zwei Hunderter, in Ordnung? Kannst gleich deiner Elli eine Freude machen, ja? Beim Häuslbauen sind unsere Frauen eh selten auf Rosen gebettet!“ Er hielt max die Hand hin und dieser schlug erleichtert ein: „Also gut, wegen der Elli, ausnahmsweise!“

Max pfiff den ganzen Samstag vergnügt vor sich hin, der Hochzeitstag war gerettet. Abends besorgte er zwei Theaterkarten und bestellte für nachher einen Tisch im bewährten Restaurant. Aber irgendein „Highlight“ sollte es noch geben, etwas Extravagantes, Überraschendes. „Nicht auf Rosen gebettet“, hatte Karl, der Nachbar, gesagt. Es war Mitte Juni, überall blühten Rosen. Und Elli liebte Rosen, besonders die stark duftenden, wie sie die Schwester vom Karl am Zaun vom Nachbargrundstück stehen hatte, einen Riesenstrauch voll erblühter Rosen. max sprach mit Karl, dieser mit seiner Schwester, und alles war paletti.

Nach dem sonntäglichen Mittagessen fuhr max unter einem Vorwand zur freundlichen Nachbarin und pflückte büschelweise die lose überquellenden Rosenblätter in eine mitgebrachte große Keksdose. Als er diese aber im Auto noch einmal öffnete, um daran zu schnuppern kletterten einige kleine schwarze Käfer heraus! Max erschrak – das hätte noch gefehlt. Er gedachte nämlich Ellis Bettseite vor dem Theaterbesuch heimlich mit den Rosenblättern zu bestreuen, sie einmal im Leben echt auf Rosen zu betten, und wenn da die Käfer herumgekrabbelt wären – entsetzlich. Also leerte er die Dose auf den Nebensitz und füllte nun die Blüten kontrolliert wieder zurück, dabei die ehemaligen Bewohner von den Blättern pustend. Dann den Deckel zu und nach Hause.

Es ging alles gut, er konnte ungesehen sein Vorhaben ausführen. Sie genossen die Boulevardkomödie und anschließend ein lecker-leichtes Abendessen – Elli war selig. Und als sie vor dem Duschen ihr Nachthemd holen wollte, versprach max, es nachzubringen. Als die Angetraute nach der Wäsche rief, kam max ohne diese ins Bad und sagte mit dem gewissen Lächeln: „Wer braucht denn ein Nachthemd?“ Dann hob er – seine Kreuzschmerzen nicht achtend – sein nacktes Weib hoch und trug mit der Bemerkung: „Ich hab dir ja versprochen, dich auf Händen zu tragen“ die nunmehr großäugig Erwartungsvolle ins Schlafzimmer:

Der ganze Raum war erfüllt vom berauschenden Duft der überall verstreuten Rosenblätter. Elli kriegte fast einen Herzinfarkt vor Freude und schrie ekstatisch auf: „Jö, das gibt’s ja nicht, ach max, das hab ich mir immer schon gewünscht!“ Nun konnte max seine Last nicht mehr halten und ließ die hüllenlose Angetraute auf die Rosen gleiten. Aber der Effekt war unerwartet: Ellis erschrockenem Mund entfuhr ein eiskalter Aufschrei „Huhhuhuhuuu“ und sie sprang gänsehäutig wieder auf. Entschuldigend und verschämt erklärte sie dann: „Weißt, es war auf einmal so kalt auf der Haut nach der warmen Dusche, aber du hast mir so auch eine Riesenfreude gemacht. Das war der schönste Hochzeitstag seit Jahren! Und die Rosen heb ich in einem Glasl auf solang ich leb!“

Am nächsten Morgen, als Elli ins Auto stieg, krochen einige kleine schwarze Käfer über ihren Rock. Erschrocken und zornig hüpfte sie wieder heraus, kehrte die Krabbeltiere von Kleidung und Sitz und keifte max gehörig an: „Wo hast denn das Viechzeug her, direkt genier’n müssert man sich, wenn da wer mitfahrt!“ Und sie konnte nicht verstehen, warum max brüllend lachte, bis ihm die Tränen kamen – was denn daran so lustig sei?

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 24090

Heiliger Abend

Was kümmert uns der Weihnachtstrubel
Party, Feiern, Festtagsjubel
Geschenke kaufen, die keiner braucht
Pflichterfüllung bloß – schon die Auswahl schlaucht

Wir haben es da besser
Denn wir haben uns
Du hast mich und ich hab dich
Das ist das größte Geschenk, das man nicht kaufen kann

Wir feiern den Weihnachtsabend schlicht und einfach
Vitello Tonnato und ein Gläschen Wein
Ist das nicht fein?
Ohne Jubel, ohne Trubel

Denn du hast mich und ich hab dich
Das Christkind kommt geflogen
Hat ein Briefchen in den Händen
Darinnen steht in großen Lettern

Sie hat dich und du hast sie
Ihr habt euch
Welch Freude, dieser wahre Satz
Komm her zu mir mein Schatz

Frohe Weihnachten, meine liebe Schnuckelente!

Copyright: Wilfried Ledolter

Copyright: Wilfried Ledolter

Wilfried Ledolter (Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23190

Überraschungen am Heiligabend

Kira wälzt sich genüsslich im Schnee und läuft dann freudig weiter durch den Park. Unsere kleine Malteserhündin liebt ihre Gassi-Runden vor allem im Winter. Ungewohnt still ist es heute, am Nachmittag des Heiligabends. Ich treffe keinen einzigen Menschen im Park, nicht einmal Rudi, den Obdachlosen, der sonst immer um diese Zeit die Tauben füttert. Nur ein Jugendlicher schlurft beim Rückweg an mir vorbei, in ganz offensichtlich schlechter Laune: gerunzelte Stirn, finsterer Blick, verkniffener Mund. Ich muss an die Zeit denken, als ich in seinem Alter war und Weihnachten zuhause mit meinen Eltern und mit Tante Berta feierte. Vielleicht erwartet diesen missmutigen Jungen Ähnliches wie mich damals.

Heiligabend mit meinen Eltern, das wäre ja sehr schön gewesen, aber mit Tante Berta – tja, das war, gelinde gesagt, der Alptraum eines jeden Jugendlichen. Da gab es Tante Bertas Umarmungen, bei denen man in eine Wolke von Lavendelduft eingehüllt wurde, und ihre unangenehmen Fragen, von denen jene wie: „Erzähl mal, wie geht es dir in der Schule?“ oder „Jetzt mal ehrlich, Jonas, hast du schon eine Freundin?“, noch die harmloseren waren. Im fortgeschrittenen Weihnachtspunsch- und Eierlikörstadium erzählte sie dann langatmige Anekdoten, die niemanden interessierten, über die sie selbst sich jedoch köstlich amüsierte.

Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Viele Kilometer liegen zwischen Tante Berta und mir. Den Heiligabend verbringe ich seit Jahren ausschließlich mit meiner kleinen Familie, meiner Frau Klara und unserer Tochter Christie, die außerdem auch heute ihren neunten Geburtstag feiert. Meine Eltern werden wir morgen besuchen, und Tante Berta wird wie jedes Jahr kurz angerufen.

Ich biege mit Kira in die ruhige Straße, in der wir wohnen, und öffne wenig später die Wohnungstür. Kira läuft mir voraus durch den Vorraum Richtung Wohnzimmer. Ich ziehe meine Jacke aus und schnuppere in Erwartung des Duftes nach Tannenzweigen oder gar schon nach dem eines köstlichen Weihnachtsbratens. Doch ein völlig anderer Geruch als erwartet steigt mir in die Nase. Es riecht seltsam muffig, wie nach ungewaschener Kleidung.

Klara kommt aus der Küche zu mir, sie hat einen seltsam ratlosen Ausdruck in den Augen und rote Flecken im Gesicht. Die Flecken bekommt Klara immer, wenn etwas Unerwartetes, Stressiges passiert.

„Was ist los, Liebling?“, frage ich besorgt. „Ist etwas mit Christie?“

„Christie geht’s blendend. Sie unterhält sich im Wohnzimmer mit unserem Gast.“

„Mit unserem Gast? Aber wir haben doch niemanden eingeladen. Mit welchem Gast denn?“

Klara seufzt. „Mit Rudi, dem Obdachlosen. Du weißt schon, der Bärtige, der immer im Park die Vögel füttert. Christie hat ihn eingeladen. Sie sagte, dass du gemeint hast, es wäre für dich das Allerschönste, Weihnachten gemeinsam mit einsamen Menschen zu feiern.“

Ich bin sprachlos. Tief atme ich durch und gehe ins Wohnzimmer. Da sitzen eine strahlende Christie und ein verwahrloster Rudi auf dem Sofa. Kira liegt neben ihm und lässt sich von ihm streicheln. Christi springt auf und umarmt mich, und zugleich überfällt mich ein dankbarer Wortschwall von Rudi. Überschwänglich beteuert er, wie sehr er es zu schätzen wisse, eingeladen worden zu sein, und er bedanke sich sehr für die persönlichen Zeilen, die ihm meine Tochter gestern zu seiner größten Überraschung und Freude überreicht habe.

Bevor ich zu Wort kommen kann, sagt Klara, die neben mich getreten ist und augenscheinlich ihre Fassung wiedergewonnen hat, freundlich: „Vor der Bescherung und dem Essen ziehen wir uns immer um. Komm, Rudi, ich zeige dir das Badezimmer. Jonas schenkt dir gerne Kleidung von sich, stimmt’s, Schatz? Ihr scheint dieselbe Größe zu haben.“

Und schon geht sie mit Rudi, der mir im Vorbeigehen auf die Schulter klopft, aus dem Wohnzimmer und Richtung Badezimmer.

„Christie“, sage ich leise zu meiner Tochter, „Was ist dir da bloß eingefallen? Du kannst doch nicht einfach wildfremde Leute zu uns einladen?“

„Aber heute ist Weihnachten und mein Geburtstag und Rudi ist so nett“, sagt sie. „Er freut sich so sehr, bei uns zu sein. Er ist ein Supergast. Und du hast ja zu mir gesagt, zu Weihnachten soll man besonders an die denken, die einsam sind, und dass es für dich das Allerschönste wäre, mit ihnen zu feiern.“

Das habe ich bestimmt nicht gesagt, will ich sagen, doch da fällt es mir ein. Vorgestern haben Christie und ich über Weihnachten geredet. Das heißt, Christie hat geredet, und ich habe zugehört, mit nur einem Ohr, weil ich gleichzeitig ein wichtiges Fußballmatch verfolgt habe. Dunkel erinnere ich mich, dass sie gesagt hat, wie schön es sei, dass sie am selben Tag wie das Christkind geboren ist, doch es sei auch etwas traurig, weil sie nie eine Geburtstagsparty haben könne, weil natürlich alle ihre Freundinnen Weihnachten mit ihren Familien zuhause feiern. Aber eigentlich könne sie ja diejenigen einladen, die zu Weihnachten allein wären. Und dann weiß ich noch, dass ein ungerechtfertigter Elfmeter gegeben wurde und ein ärgerliches Tor für die Gegenmannschaft gefallen ist, danach war wieder Christies Stimme an meinem Ohr:

„… wäre das nicht am allerschönsten?“ „Jaja, das wäre am allerschönsten“, habe ich geantwortet, obwohl ich den Anfang des Satzes nicht mitbekommen hatte, und Christie hat mich glücklich umarmt und ist in ihrem Zimmer verschwunden.

Ich seufze wieder, dann sage ich: „Gut, Christie, nun ist es so, wie es ist, machen wir also das Beste daraus. Feiern wir gemeinsam mit Rudi ein schönes Weihnachts- und Geburtstagsfest.“

Eine halbe Stunde später wähne ich mich in einer dieser Vorher-nachher-Serien, die Klara manchmal ansieht. Ein frisch geduschter, dezent parfümierter Rudi erscheint. Sein ungepflegter Bart ist abrasiert, das weiße, lockige Haar ist gekämmt. Mein schwarzer Rollkragenpulli und meine schwarze Lieblings-Jeans stehen ihm hervorragend. Er sieht um Jahre jünger aus.

Klara schenkt uns drei Gläser Sekt und einen Kindersekt für Christie ein.

Wir stoßen an und plaudern Belangloses. Dann erzählt Rudi aus seinem Leben. Er erzählt, dass er noch nicht lange obdachlos ist, dass er noch vor einem Jahr eine kleine Wohnung und einen Arbeitsplatz besessen hat, doch dann sei es schnell gegangen. Scheidung, Verlust der Arbeit. Die Exfrau bekam die Wohnung und die Sparbücher, und er, der Rudi, stand plötzlich mit nichts vor dem Nichts.

„Tja“, sagt Rudi, „mit den Frauen hatte ich nie Glück. Nur eine hat es gegeben“, seine Augen leuchten sehnsüchtig auf, „eine, die wäre die Richtige für mich gewesen. Betty. Wir sind in dieselbe Volksschule gegangen. Jeden Tag habe ich ihr die Schultasche getragen und ihr in der Pause einen Kakao gebracht. Betty hat mir gesagt, was ich für sie machen soll, und ich habe ihre Wünsche erfüllt. Das brauche ich, eine Frau, die den Ton angibt, mich aber nicht ausnutzt.“

„Und wo ist Betty jetzt?“, fragt Christie.

„Das weiß ich nicht, Kind, die Stadt ist groß. Vor ungefähr zwei Jahren habe ich sie zufällig am Bahnhof getroffen. Mit ihrem Mann. Sie hat mich angesehen, hat den Kopf geschüttelt und gesagt: „Du siehst nicht gut aus, Rudolf Knopf. Da stimmt etwas nicht in deinem Leben. Achte besser auf dich.“ Dann war sie wieder weg, sie und ihr Mann sind in einen Zug gestiegen.“ Rudi seufzt.

Da klopft es plötzlich laut an der Wohnungstür. Alarmiert sehen Klara und ich uns an, dann schauen wir beide zu Christie.

„Christie“, sage ich, „hast du noch jemanden eingeladen?“

Christie lächelt mich lieb an. Es klopft wieder, und Klara geht in den Vorraum zur Tür. Kurz darauf ist eine laute Frauenstimme zu hören.

„Danke für die Einladung, Frau Nachbarin, die Ihre Tochter mir überreicht hat. Freut mich außerordentlich. Sie wissen ja, dass ich allein bin, und allein sein ist grad am Heiligabend nicht schön.“

Es ist eindeutig Elsbeth Hasenschreck, die nebenan wohnt. Seitdem vor einem Jahr ihr Mann gestorben ist und vor allem seit ihrer Knieoperation im Sommer braucht sie des Öfteren unsere Hilfe. Klara erledigt Besorgungen für sie, und ich habe erst kürzlich etwas bei ihr montiert, und war froh, als ich damit fertig war, denn Elsbeth Hasenschreck spricht immer im unangenehmen Befehlston, sogar ihr ‚Danke schön‘ klingt wie eine Zurechtweisung.

Anklagend sehe ich zu Christie und schüttle leicht den Kopf. Warum lädt meine Tochter ausgerechnet die herrische Elsbeth ein?

Da bemerke ich, dass Rudi, plötzlich blass im Gesicht, aufgeregt aufgesprungen ist, und sich seine Wangen purpurrot verfärben, als Elsbeth Hasenschreck auf Krücken das Wohnzimmer betritt.
Stumm sehen sich die beiden an. Rudi lässt sich ins Sofa sinken und greift nach seinem Sektglas.

„Das würde ich bleiben lassen, Rudolf Knopf. Das Trinken hat dir nie gutgetan“, sagt unsere Nachbarin streng.

„Du hast recht, Betty“, sagt Rudi und stellt das Glas sofort wieder auf den Tisch.

Erstaunt sehen Klara, Christie und ich von einem zum anderen.

„Ist Frau Hasenschreck die Betty, von der du uns vorhin erzählt hast?“, kombiniert meine Tochter klug und hüpft aufgeregt auf dem Sofa. „Die, der du immer die Schultasche getragen hast und in der Pause Kakao gebracht hast? Die, die du am Bahnhof getroffen hast?“

Rudi nickt. Er wirkt nach wie vor fassungslos.

„Was erzählst du meinen Nachbarn für Unsinnigkeiten, Rudolf Knopf?“, fragt Elsbeth Hasenschreck streng. „Und überhaupt, warum bist du hier? Wer hat das arrangiert?“

„Ich, ich“, ruft Christie übermütig, „ich war das! Weil heute Weihnachten ist – und mein Geburtstag!“

„Jetzt ist mir alles klar“, flüstert Rudi, und lässt sich ins Sofa sinken. „Du bist das Christkind, Christie.“

„Das stimmt, Rudi. Christie ist tatsächlich unser Christkind“, sagt Klara stolz. „Ihr Geburtstermin wäre ja erst Mitte Jänner gewesen, aber Christie kam ausgerechnet am Heiligabend zur Welt.“

„Wie auch immer“, sagt Elsbeth Hasenschreck, „Alles Gute zum Geburtstag, Kind!“

Und an mich gewandt: „Jonas, jetzt nehmen Sie mir doch endlich meine schwere Tasche ab, bevor ich zusammenbreche. Es sind Geschenke drin, die legen Sie unter den Christbaum.“

„Apropos Geschenke“, sagt Klara, „ich finde, es ist höchste Zeit für die Bescherung, was meinst du, Christie?“

„Jaaa!!“

Beim Essen nach der Bescherung werden wir Zeugen eines echten Weihnachtswunders und einer rührenden Liebesgeschichte. Rudi und Betty wirken so vertraut miteinander, als ob sie ihr Leben lang jeden Tag zusammengewesen wären. Als unsere Nachbarin erfährt, dass Rudi seit gut einem Jahr keine Unterkunft hat, sagt sie resolut:

„Damit ist es jetzt vorbei, Rudolf Knopf. Ab sofort wohnst du bei mir. Ich habe Platz genug und brauche dringend jemanden, der meine Einkäufe erledigt und mir im Haushalt behilflich ist. Freie Kost und Logis für deine Hilfe. Bist du einverstanden?“

Rudolf schweigt und räuspert sich ein paar Mal.

„Ja, natürlich, Betty, furchtbar gerne, danke, ich – ich bin einverstanden“, stottert er, und seine Augen glitzern und strahlen heller als die Weihnachtslichter am Baum.

Es ist ein fröhlicher, schöner Abend mit Rudi und Betty. Gegen zwanzig Uhr wollen sich die beiden verabschieden, und wir begleiten sie in den Vorraum.  Rudi bedankt sich zum wiederholten Mal bei Klara, Christie und mir, als Kira plötzlich die Eingangstür anbellt. Ein paar Momente später läutet es anhaltend draußen an der Tür.

„Christie?!“, mir schwant Böses. „Hast du noch jemanden eingeladen?“

Christies strahlendes Gesicht erklärt alles. Und dann geschieht ein fliegender Wechsel. Rudi und Betty verlassen unsere Wohnung und eine mir sehr vertraute Person betritt diese, einen großen Rollkoffer hinter sich herziehend. Christie und Klara werden geherzt und geküsst, dann hüllt mich eine vertraute Wolke von Lavendelduft ein. Es ist tatsächlich Tante Berta.

„Na endlich sehen wir uns wieder, mein Junge“, hält sie mich fest umarmt. „So lange habe ich auf eine Einladung gewartet! Aber nun ist sie ja, noch dazu auf so reizende Art und Weise, durch eure liebe Christie, gekommen. Da konnte ich natürlich nicht nein sagen, heute Morgen habe ich mich in den Zug gesetzt – und ja, ehe du mich fragst, ich habe Zeit und kann einige Tage bei euch bleiben!“

Mir verschlägt es die Stimme, ich höre Klara herzlich antworten, wie sehr sie sich über ihren Besuch freue. Dann hakt sich Tante Berta bei mir unter, schleift und trägt mich beinahe mit sich ins Wohnzimmer zum Sofa.

Zufrieden lässt sie sich mit mir darauf nieder und sagt:

„So, mein Junge, jetzt schenke mir mal einen kleinen Eierlikör ein, und dann erzähle mir in Ruhe. Wie geht’s Christie in der Schule? Und wie läuft’s denn so in deiner Firma? Und sag mal, bist du noch immer so verrückt nach Fußball?“

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23188

Die Farben der Weihnachtszeit

In dieser Geschichte geht es, wie auch nicht anders zu erwarten, um Weihnachten. Jedoch geht es dabei mehr um ein Kaleidoskop an Emotionen, die diese wunderbar besinnliche Zeit mit sich bringt.

Denn nicht immer ist es einem vergönnt, sich in flauschige Decken gekuschelt und die Füße in Wollsocken gehüllt hinter einem spannenden Roman zu vergessen oder gedankenverloren die Lovestory im neuesten Netflix Weihnachtsfilm zu beseufzen.

Viel mehr ist diese Zeit – nicht nur, aber auch – durch äußere Einflüsse geprägt, die einem regelrecht die Sinne fluten. Sei es durch hektische Menschenmengen in Einkaufszentren, Mariah Carey oder Wham, die aus den Lautsprechern dröhnen, und nicht zuletzt durch organisatorische Belange, die für ein „besinnliches“ Weihnachtsfest geplant und umgesetzt werden wollen. Denn am Weihnachtsabend alle an einen Tisch zu bekommen, ist wahrlich ein frommer Wunsch, dem das eine oder andere graue Haar entschlossen zur Seite steht.

Emotionen sind bunt. So auch bei Helga, der Heldin unserer heutigen Geschichte. Und was wäre reizvoller, als diese Emotionen farblich zu untermauern – nicht zuletzt, um der allgemeinen Befindlichkeit unserer Protagonistin ein adäquates Bühnenbild zu gestalten und ihrem persönlichen Weihnachtsfilm das passende Drehbuch zu liefern.

Wir starten daher mit dem allseits bekannten Ampelsystem in den Farben Grün, Orange und Rot. Welche Farben danach noch hinzukommen, wird im Laufe der Geschichte vielleicht zu erahnen sein.

Helga

Helga war Mitte fünfzig und alleinerziehende Mutter zweier Teenager, da Karl – ihr Ex-Mann – im Rahmen seiner Midlife-Crisis vor zwei Jahren durchaus mehr mit seiner Pilates-Trainerin turnte, als seiner Ehe dienlich gewesen wäre. Doch als treibende Kraft eines gutbürgerlichen, familiären Konstrukts ließ sich Helga davon wenig beeindrucken, da Karls Qualitäten als Ehemann auch davor schon nicht von großer Ausdauer und Hingabe geprägt gewesen waren.

Helga war die zentrale Anlaufstelle der Familie. Die, die das Sonntagsessen mit einer extra Portion Liebe zubereitete, und die, die ihre Familie zusammenhielt, was auch immer geschehen mochte.

So ist es auch kaum verwunderlich, dass ihr gerade die kleinen Herausforderungen des Alltags, wie Feiertage und Familienfeiern, ein ganz besonderes Anliegen waren. Diese meisterte sie stets mit absoluter Präzision und subtilem Nachdruck, denn: Wenn man seine Lieben zusammenhalten wollte, war eine Prise latenten emotionalen Zwangs eine äußerst wirkungsvolle Maßnahme.

Doch eines sei an dieser Stelle festgehalten: Trotz ihrer Niederlagen und Schicksalsschläge, die sie im Laufe ihres Lebens erleiden musste, hatte sie ein Herz in der Größe eines Kontinents, das jedem Hilfe zukommen ließ, wenn es notwendig war, und das für die Sorgen der Liebsten immer da war.

Doch nun wollen wir Helga ein Stück ihres Weges begleiten und mit ihr gemeinsam in eine phantastische Vorweihnachtszeit eintauchen - lasset die Spiele beginnen …

Grün

Es war der erste Dezember und Helga, die bereits tags zuvor die Herbstdekoration in den entsprechenden Kisten verstaut hatte, freute sich bereits auf Weihnachten und darauf, das Haus weihnachtlich zu dekorieren.

Die ersten Kekse waren schon gebacken und auch das Haus duftete bereits nach Zucker, Zimt und Schokolade. Im Radio liefen die ersten Weihnachtslieder und Helga konnte es sich nicht verkneifen, ihre vollen Hüften im Takt der Musik zu bewegen.

„Endlich Weihnachten“, dachte sie sich und machte sich frisch ans Werk, um auch die restlichen Familienmitglieder sowie die Nachbarn mithilfe zahlreicher LEDs an ihrer Freude teilhaben zu lassen.

Es dauerte knapp zwei Tage, doch dann war es vollbracht. Am dritten Dezember erstrahlte das Haus von innen und von außen in warmweißem Licht, wodurch ihre weihnachtliche Vorfreude visuell zum Ausdruck gebracht werden konnte.

Helga tänzelte durchs Haus und streichelte in Gedanken die Blasengel, die auf der Anrichte im Wohnzimmer drapiert waren. Am Ende ihrer Inspektion angekommen, betrachtete sie zufrieden den Adventkranz, dessen erste Kerze morgen angezündet werden würde.

Dazu hatte sie auch ihre Kartenrunde eingeladen. Eine gesprächige Gruppe an Mittfünfzigerinnen, die es liebten, in ihrer Freizeit Karten zu spielen und den einen oder anderen Dorftratsch zu teilen.

Auch am nächsten Tag ergossen sich Weihnachtsklänge aus dem Radio und Helga hatte bereits am frühen Morgen die Keksplatte vorbereitet, die ihr vor ihren Freundinnen als Trophäe und Beweis ihrer perfekten Backkünste dienen sollte.

Und was am ersten Adventsonntag auf keinen Fall fehlen durfte, war der Eierlikör – selbstverständlich aus eigener Produktion und im Laufe der Zeit perfektioniert, war er ihr absolutes Geheimrezept.

Als die Kartenrunde vollzählig versammelt war, bestaunte man die imposante Dekoration sowie die perfekt geformten kleinen Kekse und ging dann über in den herkömmlichen Rhythmus.

„Hast du schon gehört“, begann Ilse, „die Frau von unserem Bürgermeister hat bei der Gemeindeweihnachtsfeier das Klo vollgekotzt.“

„Na ja, entweder ist sie wieder schwanger, oder sie hat ein Gläschen zu viel erwischt“, entgegnete Maria schulterzuckend.

„Na ja, als Bürgermeistergattin sollte man sich schon zu benehmen wissen“, warf nun Herta ein, woraufhin Sissi erwiderte:

„Aber, aber, wir sind hier ja nicht bei den Royals in Großbritannien, und so ansehnlich sind unsere Häuptlinge auch nicht.“

Daraufhin folgte einstimmiges Gelächter und die illustre Damenrunde war bereits bei der zweiten Runde Canasta angelangt. Man leerte ein ums andere Gläschen Eierlikör, als die sonst eher stille Josefine plötzlich das Wort ergriff:
„Helga, ich muss dir was erzählen.“ Alle Anwesenden hoben neugierig die Köpfe und Helga, die erst neugierig und dann etwas verlegen hinter ihren Karten hervorlinste, erwiderte:

„Spuck’s aus, es wissen ohnedies schon alle …“

„Was, dass dein Karl mit der Pilates-Tussi ein Kind bekommt?“, fragte Josefine unsicher, und Helga entgegnete nüchtern:
„Ja, genau das hab ich gemeint. Und er ist nicht mehr mein Karl, schon lange nicht mehr!“

Die Damen der Kartenrunde blickten teils verächtlich, teils mitfühlend zu Helga, deren Missstimmung nun kaum noch zu verbergen war.

„Was soll man sagen“, durchbrach sie die Stille des Augenblicks, „er war schon immer ein Lump und das wird er auch immer bleiben.“

Die vermeintlichen Freundinnen zuckten bloß die Schultern, doch diese Geste ließ Helga in ihrem emotionalen Elend alleine zurück. Zwar hatte sie im Laufe der Zeit mit der einen oder anderen auch tiefsinnigere und unterstützende Gespräch geführt, doch am Ende des Tages waren sie Hyänen, die sich insgeheim am Leid der jeweils anderen gierig labten.

Orange

Am Ende dieses Tages war Helga deprimiert. Zwar wusste sie bereits um die Schwangerschaft, doch bis heute hatte sie es gekonnt verdrängt.

„Zum Gespött macht er mich, der Saukerl, und ich bin die verlassene Ex-Ehefrau, die mit den zwei Teenagern, die keiner mehr will und die ausgetauscht wurde gegen ein jüngeres, knackigeres Exemplar“, dachte sie insgeheim, als sie die Überbleibsel der Kartenrunde in den Geschirrspüler räumte.

Hübsch war sie gewesen, die Neue, und durchtrainiert, da konnte sie selbst wohl kaum mithalten.

An diesem Abend tröstete sie sich mit ein paar Gläschen Rotwein sowie einem Weihnachtsfilm, in dem der reiche Erbe eines Imperiums durch die sozialen Fähigkeiten einer im Ort beliebten Anwältin nachhaltig den Wert der Nächstenliebe kennenlernte und auch gleich umzusetzen vermochte, und der sich natürlich auch in die hübsche, junge Anwältin verliebte. Friede, Freude Hochzeit – am Weihnachtabend – und die Welt war wieder wunderbar. Zumindest im Fernsehen.

Doch Helga war noch immer am Grübeln, denn ER war noch immer da, der gekränkte Stolz. Er, der ihr die ganze Weihnachtsstimmung vermieste und der an ihr nagte, wie ein Hamster an einer Handvoll Körner.

Am nächsten Tag versuchte sie, die Blicke der Hyänen zu vergessen und ihren Alltag wie gewohnt wieder aufzunehmen. Sie war schließlich ein eigenständiger Mensch und NIE UND NIMMER ließ sie sich ihre heilige Vorweihnachtszeit durch ihren Ex vermiesen.

Gesagt, getan, setzte sie sich in ihr Auto und fuhr ins nahegelegene Einkaufszentrum. Denn einer vorweihnachtlichen Depression musste man mit einer Überdosis Weihnachten begegnen.

Dort angekommen, warf sich Helga todesmutig ins Getümmel. Sie shoppte, was das Zeug hielt, und als die Einkaufstaschen drohten zu platzen, setzte sie noch einen drauf und machte noch einen Abstecher zu Ikea.

Nach all den Vorbereitungen und Einkäufen war sie abends zu Recht müde. Und auch ihr kleines Auto hätte wohl kaum mehr in sich aufnehmen können, ohne mit dem Heck am Boden zu schleifen. Helga fuhr gemächlich zurück nach Hause. Draußen schneite es dicke weiße Schneeflocken und im Autoradio besang – parapapapam – David Bowie seinen „Little Drummer Boy“.

  • Fast wäre Helga glücklich gewesen.
  • Fast hätte sie die Demütigungen des letzten Tages vergessen und
  • fast hätte sie den Weg nach Hause geschafft, wäre da nicht die Eisplatte gekommen, die unter dem Schnee in der nächsten Kurve schadenfroh auf sie wartete.

Helga gab alles. Sie riss das Lenkrad von links nach rechts, versuchte die Rutschpartie durch gekonntes Gegenlenken zu beenden – wie man es im Schleuderkurs gelernt hatte –, doch vergebens. Das Auto rutschte samt Helga und all ihren Einkäufen heckseitig in den Graben.

Rot

„Whoaaaa“, stöhnte Helga, was war das für ein Ritt. War noch alles dran an ihr? Und wie war es um ihr Auto bestellt? Mit zitternden Händen löste Helga den Sicherheitsgurt, öffnete die Autotür und stieg mit ebenso zitternden Knien aus dem Auto, das mit der Hinterseite ein wenig nach unten hing.

Helga stand schweigend da. Sie betrachtete fassungslos ihr Auto, das in ein Bachbett geschlittert war. Trotz ihres Schadens schickt sie ein rasches Stoßgebet nach oben, denn diese Misere hätte noch weitaus schlimmer ausgehen können. Als sie sich einigermaßen gefangen hatte, griff sie nach ihm Handy. Die Nummer des regionalen Abschleppdienstes war rasch gefunden, doch bevor sie die Nummer wählen konnte, hörte sie ein fernes Geräusch, das näher zu kommen schien – war das ein Traktor?

Geistesgegenwärtig startete Helga die Warnblinkanlage ihres Autos und hupte lange und entschlossen, um den Fremden auf sich aufmerksam zu machen. Und tatsächlich: Wenige Minuten später stand da ein Traktor und ein bärtiger Mann stieg aus der Fahrerkabine.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte er Helga, die ihm nun heulend ob des nachlassenden Schocks „ja bitte“ entgegenhauchte.

Ein Abschleppseil war schnell zur Hand und eins, zwei, drei stand ihr Auto wieder auf der Straße.

„Was für ein Glück, dass Sie in der Nähe waren – vielen DANK für Ihre Hilfe“, bedankte sich Helga bei dem Fremden und musterte ihn nun von oben bis unten. Obwohl sie nicht zu sagen vermochte, woher sie ihn kennen könnte, fragte sie: „Kennen wir uns? Sie kommen mir so bekannt vor.“ Auch der Fremde musterte sie nun eindringlicher.

„Bist du die Helga?“, fragte er nach ein paar Sekunden, Helga Enzenbacher? „Fischer“, entgegnete sie nun ein wenig verwirrt. „Enzenbacher ist mein Mädchenname. Und wer bist du?“, fragte sie den Fremden. „Thomas Bauer, wir sind gemeinsam in die Volkschule gegangen, erinnerst du dich nicht mehr?“

Und plötzlich durchfuhr sie ein Geistesblitz, und Erinnerungen über eine längst vergessene Zeit machten sich in ihr breit.

Thomas war ein stiller, freundlicher Junge gewesen. Einer, der sich nicht an den Streichen der anderen beteiligte, und einmal ist er sogar dazwischengegangen, als die restlichen Jungs eine Gruppe von Mädchen, der sie auch angehörte, an den Zöpfen zogen.

„Bist du nicht nach Kanada ausgewandert?“, fragte Helga neugierig. „Du hast doch irgendwas Technisches studiert und dann dort Karriere gemacht. Zumindest erzählt man sich das so bei den Klassentreffen.“

„Ja, so ähnlich“, erwiderte Thomas. „Ich durfte in Kanada bei einigen Forschungsprojekten mitmachen, aber da meine Eltern jetzt zu alt sind, um sich um unseren Hof zu kümmern, bin ich vor drei Wochen zurückgekommen, um ihn zu übernehmen.“

„Na da schau her“, staunte Helga. „Der verlorene Sohn ist zurück aus Übersee, da werden sich deine Eltern sicher sehr freuen, und wie man sieht – sie deutete auf ihr Auto –, war das nicht die einzige gute Tat, seit du zurück bist.“

„Zur rechten Zeit am rechten Ort“, entgegnete er und lächelte ein wenig schelmisch.

Helga war nun gänzlich durchgefroren und auch Thomas spürte die Kälte dieses Winterabends, die ihnen beiden zunehmend unter die Kleidung kroch. Beide waren sich einig, dass sie sich bald auf einen Kaffee im Warmen treffen wollten, um die Erinnerungen der Kindheit nochmals aufleben zu lassen. Zudem wollte Helga ihren Retter auch auf ein Stück Kuchen einladen, denn für seine rasche Hilfe war sie ihm mehr als dankbar.

Zu Hause angekommen bemerkte Helga ihre schweren Glieder. Die Muskeln taten ihr am ganzen Körper weh und sie fühlte sich, als hätte sie ein ganzer Konvoi an weihnachtlichen Coca-Cola-Trucks überfahren. Das musste der Schock gewesen sein, der nun ausließ, und auch die Schlitterpartie ins Bachbett hatte sie ordentlich durchgebeutelt.

Als sie endlich die letzten Einkäufe verstaut hatte, ließ sie sich auf die Couch fallen und ein paar Tränen kullerten ihr über ihr müdes Gesicht: Die Bilanz der bisherigen Weihnachtszeit ließ zu wünschen übrig:

  • Ihr Ex, der sie betrogen und für eine Jüngere verlassen hatte, wurde nochmal Vater.
  • Die Kartenrunde, oder besser gesagt, die Dorfweiber wetzten das Maul hinter ihrem Rücken und geiferten nach Dramen, um nicht vor ihren eigenen Türen kehren zu müssen,
  • und vor wenigen Stunden hatte sie auch noch einen Autounfall. Das war zu viel in zu kurzer Zeit, und weinen half – zumindest für den Moment.

Auch die Tage darauf waren nicht von Glücksgefühlen gekrönt. Sie spürte ihren geschundenen Körper noch immer und auch die depressive Verstimmung wurde nur langsam besser.

Doch nun freute sie sich doch ein wenig, denn am Abend würden ihre Söhne wieder nach Hause kommen. Sie waren in der vergangenen Woche mit ihrem Vater – dem Lump – Schifahren gewesen und obwohl ihr eine kleine Pause vom pubertären Alltag durchaus guttat, hatte sie die beiden ganz schön vermisst.

Beim gemeinsamen Abendessen freute sich Helga schon auf die Geschichten, die die beiden von ihrem Ausflug erzählen würden.

Um die beiden gebührend zu begrüßen, hatte sie Spaghetti Bolognese gekocht und für die selbstgemachten Nudeln war sie fast drei Stunden in der Küche gestanden.

Beim Essen waren ihre Jungs eher wortkarg gewesen. Keine Geschichten über wilde Abfahrten, Après-Ski oder neue Bekanntschaften. Der eine beschwerte sich darüber, dass ihm in der Sauce zu viel Fleisch sei, denn er wollte sich künftig vegan ernähren, wie die Freundin des Vaters, und auch beim Weihnachtsessen könne Helga künftig doch bitte mehr auf Nachhaltigkeit achten.

Der andere war mit seinem Handy beschäftigt, um die coolsten Schnappschüsse aus dem Schiurlaub auf Instagram zu posten. Und als Helga und Sohn 1 bereits fertig gegessen hatte, saß Sohn 2 noch immer vor einem vollen Teller. Nur um sich dann bei Helga zu beschweren, dass das Essen kalt war.

Obwohl Helga ihre Sprösslinge abgöttisch liebte, stieg ihr der Zorn immer weiter hoch. Verwöhnt hatte sie diese Fratzen. Einer undankbarer als der andere, keiner half im Haushalt und ihr Held war ausschließlich ihr Vater. Sie, die Mutter, war schon seit einigen Jahren abgeschrieben.

Als die Jungs wieder mal aufstehen wollten, ohne ihre Teller in den Geschirrspüler zu räumen, platzte ihr der Kragen.

„Bin ich eure Dienstmagd?“, feuerte sie in ihre Richtung. „Räumt eure Teller ab und in Zukunft spielen wir hier andere Töne, habt ihr mich verstanden? Ihr werdet künftig beide im Haushalt helfen, sonst ist euer Taschengeld gestrichen.“

Unbeeindruckt über Mutters kleinen Wutanfall stellten die Jungs ihre Teller in die Spüle und gingen mit verächtlichen Blicken in ihre Zimmer. Aus dem Flur entnahm Helga dann noch einzelne Worte wie „uncool“, „hysterisch“ und „alt“, bevor sich die Zimmertüren für den Rest des Abends schlossen.

Das Letzte, was Helga an diesem Abend durch den Kopf ging,  bevor sie – innerlich ein wenig leer – einschlief, waren die Worte „uncool“ und „hysterisch“ und „alt“, die sich wie ein negatives Mantra in ihren Träumen manifestierten.

Schwarz

Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Flug und plötzlich war bereits das dritte Adventwochenende erreicht. Eine Woche noch und Weihnachten stand vor der Tür. Sie freute sich auf den Weihnachtsabend, an dem sie mit ihren Söhnen, ihrer Mutter sowie mit ihrer Schwester und deren Familie das Weihnachtsessen genießen würde. Das Haus würde voll sein, der Tisch würde sich biegen und ihre kleinen Nichten würden große Augen machen, wenn das Christkind im Nebenraum klingelte.

Helga hatte bereits alle Weihnachtsgeschenke beisammen. Die Lebensmittel für das Weihnachtsessen waren weitestgehend besorgt und auch das Haus hatte sie schon vor Wochen blitzblank geputzt.

Am heutigen Adventsamstag würde sie ein letztes Mal ins Einkaufszentrum fahren, um die letzten Besorgungen zu machen.

Dort angekommen staunte sie nicht schlecht, als sie mit Müh und Not noch einen Parkplatz finden konnte. Auch die Fahrt selbst war etwas holprig gewesen, da ihr der junge Fahrer einen Golf GTI frech den Mittelfinger gezeigt hatte, bevor er mit voll Speed an ihr vorbeischoss, und sie konnte gerade noch ausweichen, als ihr ein älterer Herr mit Hut und Brille die Vorfahrt nahm.

Im Geschäft ihres Vertrauens musste sie sich mit einer Altersgenossin verbal um das letzte Stück Butter prügeln, doch dieses würde sie nun als stolze Beute beharrlicher Zickerei im letzten Keksteig verarbeiten.

An der Kasse angekommen, spürte sie mehrmals den Einkaufswagen des Hintermannes in ihrem Rücken, der offenbar versuchte, sie damit zu penetrieren. Helga drehte sich um und blickte ihm geradewegs in sein ignorantes Gesicht.

Der innere Monolog beider Parteien gestaltete sich in absoluter Stille, doch auch Gedanken sind dann und wann telepathisch hörbar:

Helga: „Wenn du mir deinen verdammten Einkaufswagen noch mal in die Flanken schiebst, verprügle ich dich mit deinem Baguette und reibe dir das Gesicht mit deinem beschissenen Vanilleeis ein.“

Hintermann: „Wenn du blöde Zicke mich noch länger anstarrst, anstatt deine scheiß Sachen aufs Förderband zu legen, falte ich dich in deinen Einkaufswagen und schieb dich mitsamt deinen Einkäufen in den nächsten Gully.“

Helga: „Bevor du mich in den Gully schiebst, tunke ich dich mit dem Gesicht voraus ins nächste Kaufhausklo.“

Obwohl die Stille des Augenblicks nie durchbrochen wurde, einigten sie sich dann nonverbal darauf, den Bezahlvorgang so rasch wie möglich abzuschließen.

Auch die letzten Meter zum Auto gestalteten sich abenteuerlich, als ein sensorisch überfordertes Kind Helga brüllend gegen das Schienbein trat, ihr im Wutanfall seinen Kakao vor die Füße kotzte und die Eltern des Kindes sie vorwurfsvoll ansahen, weil sie ihnen nicht half, die Sauerei wegzuputzen.

Zu Hause angekommen wollte sich Helga regelrecht verbarrikadieren. „Nur noch Verrückte da draußen“, dachte sie mit pochendem Herzen, „eine Zombieapokalypse ist ein Dreck dagegen.“

Die folgenden Tage waren eher ereignislos. Zu Weihnachten selbst stand sie bereits um 6:00 morgens auf, um rechtzeitig mit allem fertig zu werden. Sie hackte, kochte, rührte und buk, als würde ihr Leben davon abhängen, und als die letzte Serviette feinsäuberlich gefaltet auf dem Teller drapiert war, kamen auch schon die Gäste.

Beim Essen lästerte Sohn Nr. 1 über die Fleischvielfalt am Tisch, die Nichten bewarfen sich gegenseitig mit Rotkraut und die Schwester schickte Helga drei Mal in die Küche, um das Fresschen von Daisy, ihrem geliebten Chihuahua, auf Temperatur zu bringen. Obwohl Helga all das schon lange gewohnt war, war es diesmal anders. Sie spürte, wie ihr linkes Augenlid zuckte, doch sie wollte sich vor den anderen nichts anmerken lassen.

Als Helgas Mutter das Thema Karl – der Lump – zur Sprache brachte, kochte die Situation jedoch über. Neben Bemerkungen wie „hättest du dich mehr gekümmert“ und „er war ja immer ein guter Ehemann“, war ihr wieder einmal die Schuld in die Schuhe geschoben worden, dass ER fremdgegangen war.

Helga sah rot, dann schwarz und plötzlich hörte sie sich selbst schreien, wie aus weiter Ferne, doch unfähig die Szene harmonisierend zu beeinflussen:

„…Und hättest du, liebe Mutter, dich nicht permanent eingemischt und mir gesagt, was für eine miese Mutter und Hausfrau ICH bin, wäre ich der Situation vielleicht gewachsen gewesen.“

Sie sah zur Schwester, die ihr gerade erneut Daisys Napf in die Hand drücken wollte, und fuhr fort: „Und du meine Liebe bewegst jetzt deinen Hintern in die Küche und wärmst dein Hundsfutter gefälligst selber auf.“

Auch die Jungs bekamen ihr Fett ab, als Helga ihnen die Handys aus der Hand riss, um sie mit einer gekonnten Handbewegung direkt aus dem Fenster zu werfen.

Am Ende war es nun doch eskaliert. Sowohl die Gäste als auch Helga sahen sich schweigend an. Auch den Rest des Abends verbrachte man eher still, und als die Geschenke verteilt waren, verabschiedeten sich alle in Windeseile, auch die Jungs, die hysterisch nach ihren Handys suchten.

Weiß

Helga war müde. Nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen, des heutigen Tages selbst, an dem sie den ganzen Tag in der Küche gestanden hatte und nicht zu vergessen, der Wutanfall, setzte sie sich auf die Couch, legte die Füße auf den Tisch – was sie sonst eigentlich nicht tat – und schloss für einen Moment die Augen. Die Jungs waren mit den Fahrrädern zu ihrem Vater gefahren und Helga genoss die Stille. Als ihr Handy vibrierte, sah sie eine Nachricht von Thomas, der ihr – und sicher auch vielen anderen – „Merry Christmas“ wünschte.

Sie antwortete ihm prompt, doch damit, dass er sie anrufen würde, hatte sie nicht gerechnet. Es war erst 21:30 gewesen und er fragte sie, ob sie auch ins nahegelegene Pub mitkommen möchte. Der Wirt öffnete das Pub am Weihnachtsabend ab 22:00 Uhr und jene, die ein wenig ausgelassener feiern wollten, trafen sich dort noch auf einen nach-weihnachtlichen Umtrunk.

Helga willigte sofort ein. Denn weshalb sollte sie alleine zu Hause bleiben, wenn woanders die Post abging. Lang genug war sie die brave Hausfrau gewesen, doch jetzt wollte sie einfach einmal Gas geben.

Gesagt, getan, trafen sie sich im Pub und ein paar Bier später wusste Thomas, dass Helgas Ex fremdgegangen war, dass Karl ein Lump war, sie zwei undankbare Teenager großzog. Thomas hörte zu, und als sie ihm redlich angeschickert ihr Leid klagte, sich wertlos und alt zu fühlen, ergriff er die Gunst der Stunde, um sie auf den Mund zu küssen.

Helga war verblüfft, doch dem ersten Kuss folgten an diesem Abend noch weitere. Am übernächsten Tag verabredeten sie sich bei Thomas zu Hause. Denn er wollte ihr seinen Hof zeigen und vielleicht noch ein bisschen mehr.

Als Helga den Traktor sah, der sie aus ihrer Misere gerettet hatte, fragte sie schüchtern, ob sie nicht eine kleine Runde drehen könnten. Helga wollte schon immer mal auf einem Traktor mitfahren, doch es hatte sich bis heute nicht ergeben.

Thomas freute sich über Helgas Interesse, und als die Fahrt losging, strahlten beide übers ganze Gesicht. Helga gefror jedoch ihr Lächeln, als sie bemerkte, dass die Fahrt etwas holpriger sein würde als zunächst gedacht. Sie blickte an sich hinab und sah ihren Busen, der sich im Takt des Motors bewegte.

„Herrje“, dachte sie, „ich hätte meinen Sport-BH anziehen sollen.“ Sie ließ sich jedoch nichts anmerken und lächelte ihm immer noch zu.

Auch Thomas waren die aktuellen Geschehnisse nicht entgangen.

„Bewegte Aussicht“, dachte er und gab ein bisschen mehr Gas, um die Dynamik des Augenblicks proaktiv zu unterstützen.“

Helga, die sich noch immer nichts anmerken ließ, hüpfte in der Kabine auf und ab. Thomas genoss den Anblick, doch Helga wurde langsam etwas mulmig:

„Ich muss gleich kotzen“, dachte sie und legte ihm intuitiv die Hand auf die Schulter. Thomas verstand die Geste und blieb stehen. Er zog Helga auf seinen Schoß und die Küsse des Weihnachtsabends fanden ihre Fortsetzung.

Weiß beschreibt den Neuanfang in unserem Bühnenbild. Wie Buchstaben, die sich auf weißem Papier zu neuen Sätzen formen. Auch für Helga ist in neues Kapitel angebrochen, und was bleibt uns anderes, als ihr Glück zu wünschen, und dass sie den nächsten Weihnachtsbaum gemeinsam mit ihrem Thomas schmücken wird.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23180

 

Christas letztes Spotlight: Aus dem Leben einer depressiven Christbaumkugel

Gruppenleitung:
„Schönen guten Abend und herzlich willkommen in unserer Selbsthilfegruppe für benachteiligte Weihnachtsdekorationen. Bitte hören Sie aufmerksam zu und wichtig: Bitte werten Sie nicht. Auch das geringste Anliegen hat ein Recht darauf, gehört zu werden …“

Christa:
„Hallo, mein Name ist Christa und als Christbaumkugel fühle ich mich massiv benachteiligt. Jahr für Jahr erlebe ich dasselbe Drama: Von Jänner bis November kümmert sich keiner um dich und plötzlich wirst du aus deinem gewohnten Umfeld gerissen, man steckt dir einen Haken durch die Öse und du wirst wahllos an einen Baum gehängt – glänzend, prall und nackt!

Und dann hängst du da und alle gaffen … besonders der wollene Wichtel hinten links, der, der immer in seinen Bart murmelt und seine Zipfelmütze nicht im Griff hat. Alle Versuche, mich dem zu entziehen, mündeten bisher im Nichts und meine Beschwerde an die Obrigkeit wurde maximal strahlend belächelt. Es würde mich sogar wundern, wenn der Blasengel an der Baumspitze mein Ansinnen überhaupt registriert hätte. Und hier steckt das Problem, meine Lieben – tief in den unausgesprochenen Hierarchien weihnachtlichen Baumgehänges! Und nur, dass wir uns richtig verstehen: Der Baum fängt immer an der Spitze an zu stinken:

Keiner schert sich um die Standard-Deko! Wie sehr man sich auch bemüht, drall und prall aus dem Deko-Körbchen hervorzustechen – prominent platziert und entsprechend gewürdigt werden immer nur die anderen. Unsereins darf sich lediglich als Lückenfüller verstehen, um die Deko-Löcher am Baum zu stopfen. Auch die althergebrachte Diskussion über Glas, Plastik, Keramik und Holz schwingt hier latent Hintergrund. Die traumatisierenden Auswirkungen dieses selektiven Verhaltens will ich gar nicht näher erwähnen, das würde hier definitiv den Rahmen sprengen.

Wie man sich sicher vorstellen kann, mache ich mir als überzeugte Plastik-Anhängerin nicht allzu viel aus diesen natürlichen Materialien – sollen sie doch gehen in ihren Birkenstocks, Tannennadeln rauchen und über die Gleichstellung aller Dekoartikel philosophieren, am Ende des Tages glaubt es ihnen eh keiner und sobald die Kerzen am Baum brennen, ducken sie sich und die Forderung nach freier Platzwahl am Weihnachtsbaum weicht dem sicheren Hafen, glücklicherweise weit genug vom Feuer entfernt zu hängen – Feiglinge sind das, allesamt!

Ich steh da mehr auf handfeste Künstlichkeit, das hält für die Ewigkeit und auch die Enkel Ihrer Enkel werden sich definitiv noch daran erfreuen!

Grundsätzlich halte ich ja viel von Nachhaltigkeit – auch ich bin schon zum zweiten Mal inkarniert! Das heißt, bevor ich als Christbaumkugel wiedergeboren wurde, war ich ein waschechtes Plastiksackerl. Ich hing in einem Shop, draußen leuchtete eine Reklametafel in fluoreszierenden Rot-Tönen und wenn die Menschen gingen, hatten sie meist einen recht freudvollen Gesichtsausdruck. Als ich auserwählt wurde, füllte man mich mit konischen Formen, Batterien und anderen undefinierbaren Gegenständen und vollbepackt mit guten Sachen, die das Leben schöner machen, ging es dann nach Hause, in meine neue Welt. Man packte mich von unten und ich entleerte meinen Inhalt dienstbeflissen auf den Küchentisch – danach fehlt mir jede Erinnerung.

Am Ende dieses Lebens wurde ich als Müllsack weiterverwendet und artgerecht recycelt. Das ist wahre Wertschätzung, meine Lieben, man will gebraucht werden, denn im Lebenszyklus eines Kunststoffgegenstands bleibt einem sonst nur die Flucht ins Meer.

Als Christbaumkugel ist das eher dürftig. Mittlerweile bin ich so deprimiert, dass ich schon überlege, mich an Heiligabend mit der Hinterseite heimlich etwas nach rechts zu biegen, um mich in der Hitze des Gefechts von der Kerze neben mir bewusst ansengen zu lassen. Meinen Wert werden sie nach diesem Akt der Selbstaufgabe zwar trotzdem nicht erkennen, aber vielleicht werde ich ja als eines jener Produkte wiedergeboren, die man jeden Tag braucht, weil sie so gut in der Hand liegen – als Plastik-Kochlöffel beispielsweise.

Aber mein letztes Weihnachtsfest will ich mit Würde und absoluter Hingabe begehen: Ich will den zarten Tönen der Blockflöte zu „Alle Jahre wieder“ lauschen, mich darüber amüsieren, wie Onkel Hans zu späterer Stunde die Feinmotorik und dann auch das Sprechen verlernt, wie die Kinder nach der Bescherung heulen, weil eines mehr bekommen hat als das andere und wie sich Tante Sabine mit der Oma zofft, weil sie eigentlich auf Frauen steht. Sie hat ja schon was, diese besinnliche Zeit – nicht wahr?

Doch lauschen Sie, mein Einsatz naht … In diesem Sinne – frohes Fest, the show must go on!

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23161

Party People

Ach, ihr Leute!
Der Saal ist voll
beim Konzert von Alma und Tove Lo in der Arena Wien.
Wir sind doch alle Party People.
Heute feiern wir,
und morgen sieht die Sache wieder ganz anders aus.

Die Crowd in der Arena Wien vor Alma und Tove Lo zu Midsommar 2023

Die Crowd in der Arena Wien vor Alma und Tove Lo zu Midsommar 2023

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 23166