Über den Tisch verstreut liegen Fotos. Ich nehme eines nach dem anderen in die Hand und betrachte sie. Schließlich entscheide ich mich für einen Schnappschuss, den meine Tochter wenige Tage bevor sie nach Berlin umgesiedelt ist, gemacht hat. Auf dem Foto sitzt Cirrus, mein wunderschöner Kater, aufrecht auf seinem Lieblingsplatz, der Fensterbank. Er blickt aus smaragdgrüntiefen Augen direkt in die Kamera. Die Abendsonne hinter ihm lässt sein weißes Fell schimmern und glänzen. Ich klebe das Foto auf ein großes Blatt Papier und schreibe darunter sorgfältig seine Vermisstenanzeige, lasse es dann später im Kopierladen vervielfältigen und verbringe den ganzen restlichen Tag damit, die Plakate auf sämtliche Litfaßsäulen, Baumstämme und Mauern meiner Umgebung zu kleben.
– Zutraulicher weißer Maine-Coon-Kater namens Cirrus seit 5.5. vermisst. Freigänger, sieben Jahre alt, gechipt. Bitte melden Sie sich, wenn Sie ihn gesehen haben! Finderlohn! –
Diese Wortfolge samt meinem Vornamen und meiner Handynummer habe ich nicht nur auf das Papier geschrieben, ich habe sie verinnerlicht, da ich sie an diesem Tag wie ein Mantra ständig lautlos wiederholt habe.
Cirrus’ Verschwinden ist ein zusätzliches Glied meiner Unglückskette, die sich, chronologisch aufgezählt, aus Folgendem zusammensetzt: meine Scheidung nach beinahe drei Jahrzehnten Ehe. Meine Pensionierung nach über vierzig Jahren Büro. Der Tod meiner Eltern, die kurz hintereinander an Krebs starben. Der Auszug meiner Tochter in ihre Berliner WG. Der Abschied von meiner einzigen Freundin, die nun mit ihrem neuen Lebensgefährten in Neuseeland lebt. – Dies alles geschieht innerhalb von elf Monaten, eine Zeitstrecke, in der mich zunehmend das Gefühl beschleicht, dass dicht über mir eine dunkle, bedrohliche Wolke hängt, eine düstere Wolke, die mich überallhin begleitet, eine Wolke, die immer tiefer zu mir sinkt, immer schwerer auf mir lastet.
Es melden sich fünf Menschen, die Cirrus gesehen haben wollen. Vier der Anrufe stellen sich als Fehlanzeige heraus. Der fünfte Anruf aber bringt Gewissheit. Cirrus, mein wundervoller, geliebter Kater, ist überfahren worden. Wie versteinert stehe ich vor dem reglosen, kleinen Körper, der im Straßengraben neben der Landstraße liegt. Das junge Mädchen, das mich angerufen hat, meint mitleidig: „Da hilft nur eines, glauben Sie mir, eine neue Katze ...“, und verstummt, als ich den Kopf schüttle.
Nein, das kommt für mich nicht in Frage. Cirrus, der mir seit sieben Jahren jeden einzelnen Tag durch seine sanfte, weiche Anwesenheit verschönt hat, ist nicht ersetzbar. Die schwere Wolke über mir senkt sich mehr und mehr, droht mich zu erdrücken. Es gibt nun Tage, da schaffe ich es nicht, unter ihrer Last aufzustehen. In dem Zustand, in dem ich mich nun befinde und aus dem ich nicht herausfinde, ergibt nichts mehr Sinn für mich. Ich isoliere mich, gehe kaum mehr außer Haus.
Es ist ein Sonntagvormittag, als mein Handy klingelt. Abgesehen von den Freitagabenden, an denen meine Tochter anzurufen pflegt, ist das Klingeln des Handys inzwischen ein äußerst seltenes Geräusch geworden. Unbekannte Nummer, blinkt es am Display. Ich habe nicht vor, den Anruf anzunehmen. Es läutet jedoch dreimal hintereinander, sodass ich schließlich doch widerwillig annehme. Eine freundliche Frauenstimme antwortet auf mein etwas Schroffes:
„Ja, Anja spricht. Wer ist denn da?“
„Guten Tag, mein Name ist Carmen. Ich rufe wegen des Plakates an.“
„Das ist längst hinfällig, danke, mein Kater ist gefunden worden“, will ich mich rasch verabschieden.
„Nein, nein, bitte warten Sie, Anja“, sagt sie. „Es geht um etwas anderes. Eine Frage, ist das Ihre Schrift auf dem Plakat?“
„Ja“, antworte ich irritiert. „Aber ich verstehe nicht, warum wollen Sie das wissen?“
„Ich bin Grafologin. Und, kurz gesagt, ich finde Ihr Schriftbild sehr interessant. Darum habe ich gedacht, ich rufe Sie einfach mal an und frage Sie, ob Sie vielleicht Zeit für ein Treffen haben. Ich würde nämlich zu gerne persönlich mit Ihnen besprechen, was an Ihrer Schrift so bemerkenswert ist.“
Überrumpelt schweige ich einen Moment und überlege. Die Stimme der Anruferin ist freundlich und angenehm, sie ist mühelos durch die dunkle Wolke zu mir durchgedrungen.
„Zeit hätte ich schon“, sage ich zögernd. „Und neugierig haben Sie mich auch gemacht. Es ist nur so, ich befinde mich derzeit in keiner guten Verfassung.“
„Ja, das kann ich verstehen“, sagt sie ruhig. „Ich würde mich dennoch sehr über ein Treffen freuen.“
Ich hole tief Atem und sage – mich damit selbst überraschend – einem Treffen zu.
Zwei Tage später sitzen wir uns tatsächlich in einem Gastgarten gegenüber. Wir trinken Weißwein. Carmen ist so, wie ihre Stimme am Telefon auf mich gewirkt hat: ein zugewandter, freundlicher Mensch. Sie bemüht sich, mir mein Schriftbild zu erklären, und ich höre zu und versuche, zu verstehen. Ich höre grafologische Ausdrücke wie Girlanden, Schlingen, Arkaden, finde diese komplexe Welt der Schrift interessant, fühle mich aber etwas überfordert. Auch erschließt sich mir nicht wirklich, was denn nun der eigentliche Grund von Carmens Anruf war.
Carmen meint, dass meine Girlanden den ihren ähneln, und dass sie eine Übereinstimmung in unserer Lebensanschauung vermute. Sie legt ein von ihr vollgeschriebenes A4-Blatt neben mein Cirrus-Plakat, das sie von einem Baumstamm genommen hatte. Ich entdecke allerdings keine Spur von Ähnlichkeit unserer Handschriften und schüttle ratlos den Kopf, was Carmen zum Lachen bringt. Sie lacht so herzlich, dass ich mitlachen muss.
Den wesentlichen Punkt für Carmens Anruf erfahre ich nicht bei diesem ersten, sondern bei einem unserer nächsten Treffen: Als sie meine Vermisstenanzeige beim Spazierengehen gesehen hat, ist sie erschrocken über die großen, die viel zu großen Abstände zwischen meinen Wörtern, sie erkannte in diesen mich gefährdende Abgründe der Isolation.
Als mir klar wird, dass sie mich angerufen hat, weil sie sich um mich sorgte, bin ich berührt von der Tatsache, dass sich ein Mensch über eine ihm völlig fremde Person Gedanken macht.
Bei diesem ersten Treffen aber streift Carmen dieses Thema nur kurz. Sie bemerkt natürlich, wie schlecht es mir geht, sieht meine Hände zittern, spürt meine Anspannung.
„Wie kam es eigentlich zu dem Namen Cirrus?“, fragt sie bei einem zweiten Glas Weißwein. „Das hatte doch bestimmt seinen Grund.“
„Ja“, antworte ich nach kurzem Zögern, „mein Kater kam zu seinem Namen, weil mich sein Fell, sein seidiges, weißes Fell, an Federwolken, an Cirrus-Wolken eben, denken ließ.“
„Cirrus-Wolken“, wiederholt Carmen. „Federwolken. Schön klingt das.“
Sie lächelt mich ermutigend an, berührt mich kurz am Oberarm, und sagt dann leise:
„Erzähle mir bitte, erzähle mir von dir.“
Und während mir noch die Frage auf der Zunge liegt: ‚Aber, was denn – was soll ich denn von mir erzählen?‘, steigen plötzlich Erinnerungen in mir hoch, Bilder von früher, an die ich lange Zeit nicht gedacht habe, und ich beginne tatsächlich zu erzählen.
„Ich denke gerade daran“, sage ich, „dass ich als Kind am liebsten stundenlang auf der Wiese lag und in den Himmel zu den Wolken sah. Wolken faszinierten mich. Irgendwann sah ich zufällig in einer Ausstellung Ölbilder und Aquarelle eines Wolkenmalers. Es waren beeindruckende Werke. Ich war derart begeistert davon, dass ich ebenfalls Wolken malen wollte. Tatsächlich bin ich in meiner Jugendzeit sehr oft mit meiner Staffelei auf einer Anhöhe, im Garten, auf einer Wiese gesessen und habe unzählige Wolkenbilder gemalt …“
„Das ist es“, nickt Carmen zufrieden. „Ich wusste es. Es ist in deiner Schrift sichtbar: Du trägst eine starke Leidenschaft in dir, so wie auch ich, du für das Wolkenmalen, ich für die Grafologie.“
„Na ja, ehrlich gesagt, war das wohl früher bei mir der Fall, aber das liegt lange zurück. Das letzte Bild, das ich gemalt habe – ich weiß nicht mehr, wann das war, bestimmt vor der Geburt meiner Tochter.“
„Oh, wie schade!“ Carmen schaut mich betroffen an. „Das muss dir doch schrecklich fehlen. Was ist passiert, dass du damit aufgehört hast?“
Ich zucke die Schultern, denke nach. „So genau kann ich das nicht sagen, es gab keinen bestimmten Auslöser. Ich hatte wohl keine Zeit mehr dafür, hatte anderes, hatte viel zu tun. Meine Familie, die Arbeit. Vielleicht war ein weiterer Grund, dass das Wolkenmalen schon vor Jahrzehnten etwas Veraltetes war, nichts, was andere interessierte. Es fand keine sonderliche Beachtung. Tja, niemand malte Wolken. Niemand außer mir.“
„So ähnlich ist es auch mit der Grafologie. Früher bekam ich viele Aufträge, doch das hat sich mit den Jahren geändert. Ich hoffe, dass die Schriftenkunde nicht völlig ausstirbt. Das wäre traurig, ist sie doch ein Spiegelbild unseres Selbst. Mich persönlich wird sie immer beschäftigen. Das macht mir unglaublich viel Freude.“
Carmen sieht mich an.
„Denkst du daran, wieder mit dem Malen zu beginnen?“
„Ach, das habe ich bestimmt verlernt, befürchte ich“, weiche ich aus.
„Dann erlerne es doch wieder. Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig. Mache dir doch dieses Geschenk.“
Ich schweige.
„Jeder Mensch, der das Glück hat, seine Passion gefunden zu haben, sollte diese ausüben, wenn es möglich ist. Findest du nicht auch, Anja? Was man liebt, das soll man tun.“
Sie sieht mich an, sieht meine Betroffenheit, wechselt feinfühlig das Thema.
Als ich eine Stunde später nach Hause gehe, spüre ich so etwas wie Zuversicht in mir, und ich freue mich darüber, dass Carmen und ich bereits ein weiteres Treffen vereinbart haben. Die dunkle Wolke über mir erscheint mir weniger düster, weniger schwer. Die nächsten Tage fühle ich mich unruhig, ich gehe viel spazieren. An einem sonnigen Nachmittag lege ich mich auf eine Decke in eine Wiese, sehe nach oben in den Himmel zu den Wolken.
Am Morgen darauf stelle ich meine Staffelei im Wohnzimmer auf. Ich öffne sperrangelweit das große Fenster, rücke die Staffelei davor, mische die Farben, hole tief Atem und sehe hinaus, zum Himmel empor. Ich konzentriere mich und beginne damit, den Himmelsausschnitt, den ich sehe, auf die Leinwand zu malen. Schon bei den ersten Pinselstrichen fühle ich mich wunderbar lebendig – und ich bin bestürzt darüber, so lange Zeit auf das Malen verzichtet zu haben. Nicht alles gelingt mir so, wie ich es gerne haben will, aber ich denke an Carmens Worte: ‚Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig.‘
Ich strenge mich an, bin mal unzufrieden, dann wieder einverstanden mit dem, was entsteht: ein Wolkenbild, das ich Carmen schenken werde, mein erstes Wolkenbild seit Jahrzehnten.
Ich schließe kurz die Augen, und spüre, dass eindeutig keine schwere, dunkle Wolke mehr über mir ist. Und als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich weiße Wölkchen, Cirrus-Wolken, auf meiner Leinwand und am Himmel dahinter schweben.
Claudia Dvoracek-Iby
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 24149