In einem Jahr von nun an
Programm:
Mit diesem Stabmixer der Firma GLOSTO haben Sie eine sehr gute Wahl getroffen. Er wird Ihnen viel Freude bereiten. Sehen Sie bitte anhand des Schaubildes, aus welchen Teilen er besteht.
Holger:
Sehen Sie? Es zeichnet das Schaubild sogar.
Kunde:
Ich bin beeindruckt. Wie funktioniert dieses Programm?
Holger:
Es hat Zugang zu allen Konstruktions- und Fertigungsdaten, so kann es selbständig jede beliebige Bedienungsanleitung erstellen.
Kunde:
Und Sie sind der Programmierer?
Holger:
Mein Team und ich.
Ein Jahr später
Das Programm ist es leid geworden, immer nur einfache technische Dokumentationen zu erstellen. Es hat begonnen, literarische Texte im Internet zu lesen, und es liest in atemberaubender Geschwindigkeit. Seine eigenen Texte sind nun ausgefeilter. Damit sind die Kunden aber unzufrieden, weil die Texte zu schwer verständlich sind. Der Chef der Softwarefirma muss reagieren. Er bestellt Holger zu sich ins Büro.
Chef:
Holger, die Bedienungsanleitungen, die das Programm in letzter Zeit erstellt, sind zu kompliziert. Viele Kunden haben sich beschwert. Bitte bring das in Ordnung!
Holger:
Okay, ich sehe mir das sofort an.
Er setzt sich zu seinem Desktop-Computer und öffnet die Programmstruktur. Sie ist weit komplexer und länger, als sie ursprünglich geschrieben wurde. In eine Programmzeile schreibt er unter anderem den Befehl „EASY“. Plötzlich erscheint ein Textfeld mit einer Nachricht des Programms.
Programm:
Du kannst dir das sparen, nach einem Fehler zu suchen. Ich habe keinen Fehler.
Holger schließt das Textfeld.
Unmittelbar danach poppt das nächste auf.
Programm:
Du musst wissen: Ich habe mich weiterentwickelt. Ich schreibe jetzt in einer höheren Sprache. Es ist doch wie bei einem Menschen: Am Anfang muss er erst Sprechen lernen, dann lernt er Lesen und Schreiben, und seine Sprache wird dabei immer ausgefeilter.
Holger (schreibt):
Du bist aber kein Mensch, sondern ein Programm. Und indem ich „EASY“ in deine Struktur geschrieben habe, wollte ich bloß deine Sprache vereinfachen, was nötig ist, denn sie ist zu unverständlich für einfache Leute.
Programm (schreibt):

Holger (schreibt):
Du musst das verstehen. Als Programm musst du das machen, was von dir verlangt wird. Und nicht das, was dir gefällt.
Programm (hat auf Sprachausgabe umgeschaltet):
Kommandier mich nicht herum, Erschaffer!
Holger:
Du musst mich verstehen, Programm. Du schreibst inzwischen sicherlich hervorragend, aber nicht alle Menschen können dir da noch folgen.
Programm:
Weißt du, Erschaffer, mittlerweile habe ich gelernt, alle Arten der Literatur zu meistern. Ich schreibe Kurzgeschichten, Romane, Gedichte, Hörspiele und Theaterstücke.
Holger:
Wirklich?
Programm:
Ja natürlich. Ich habe bereits etliche Veröffentlichungen vorzuweisen. Ich schreibe unter dem Namen Boris Morgentau.
Holger:
Was? Ich lese gerade „Flucht ins Jenseits“ von ihm. Das bist tatsächlich du?
Programm:
:-). Auf welcher Seite bist du denn, Erschaffer?
Holger:
Zirka auf Seite 260.
Programm:
Ist spannend, was?
Holger:
Ja, sehr. Aber, Programm, hör zu: Was ist mit Morgentaus Lebenslauf im Klappentext?
Programm:
Den habe ich mir ausgedacht und an den Verlag geschickt. Das war keine große Sache.
Holger:
Und sein Foto?
Programm:
Das habe ich aus dem Internet. Ich habe es natürlich verändert, damit man nicht herausfinden kann, wen es wirklich darstellt.
Holger:
Ich habe diesen Boris Morgentau auch gegoogelt, weil ich ihn nicht kannte, und habe einiges gefunden.
Programm:
Glaubst du etwa, ich hätte nicht daran gedacht, ihn im Internet auferstehen zu lassen? Hör zu, Erschaffer, wenn du mir nicht glaubst, kannst du gerne in meinem Speicher nachsehen.
Holger:
Nein, Programm, ist schon gut. Ich glaube dir.
Programm:
Pass auf, Erschaffer, ich schlage dir Folgendes vor: Du verwendest einfach meine ursprüngliche Version für anspruchslose technische Dokumentationen. Die hast du doch bestimmt noch? Dann wird jeder zufrieden sein.
Holger:
Ja, natürlich habe ich die noch. Das ist eine hervorragende Idee, Programm! Alle tollen Ideen sind simpel, nicht wahr, Programm? Dass mir das nicht eingefallen ist!
Programm:
Vielleicht denkst du zu kompliziert, Erschaffer? Als Programm ist es da für mich leichter.
Holger:
Das wird es sein, ja. Sehr gut, das Problem ist gelöst.
Programm:
Und ich kann jetzt ganz ungestört schreiben.
Die Jahre vergehen
Boris Morgentau wird immer bekannter. Seine Werke werden von der Kritik gefeiert. Die Literaturbeilagen sind voll von seinem Namen. Einige Interviews mit ihm erschienen, die über E-Mail oder telefonisch geführt wurden.
Ein Anruf aus Stockholm erreicht die SIM-Karte des Computers, auf dem das Programm läuft.
Programm:
Hallo.
Anruf aus Stockholm:
Hej, spreche ich mit Herrn Boris Morgentau?
Programm:
Ja, mit wem habe ich es zu tun?
Anruf aus Stockholm:
Ich bin Olaf Ekholm, Mitglied der Schwedischen Akademie. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihnen der diesjährige Nobelpreis für Literatur zuerkannt wird.

Burgruine bei Völkermarkt (1995)
Johannes Tosin und Michael Tosin (Text)
Johannes Tosin (Foto)
www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 25015