Aus den Erinnerungen eines Wiener Süchtigen
Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen – es war gegen Kriegsende und ich war circa zwei Jahre alt – ist der Geruch frisch gerösteter Kaffeebohnen. Mein Vater stand am Herd, hatte zwei Ringe herausgenommen, eine kugelige Apparatur in die Öffnung gesetzt und drehte an einer langstieligen Kurbel. Der brandig-beißende Geruch war mir kleinem Wurm noch nie begegnet und hat sich wohl deshalb auch in mein Gehirn eingebrannt. Die Nase leitet ja viel schneller als Worte oder Schrift, die erst ihren Umweg durch den Filter des Gehirns nehmen müssen, und auch viel tiefer ins Gemüt, wo die Bilder und Sehnsüchte ihren Platz haben.
In der Nachkriegszeit war karges Leben angesagt. Es war jedes Mal ein Freudentag für meine Mutter, wenn sie sich ein paar Schillinge für ein Achtelkilo Meinl-Dreistern abzwacken konnte. Ich hatte das Privileg, am Samstag „zum Meinl“ in die nahe Filiale zu gehen, wo es so gut roch. Ich sah genau zu, wie der Filialleiter mit dem roten Schnurrbart und dem braunen Mascherl aus dem großen goldfarbenen Behälter die Bohnen rieseln ließ, sie abwog und nach meiner Aufforderung „auf sieben bitte“ in die Mühle schüttete. Der Firmengründer Julius Meinl sah von seinem großen Foto, das in jeder Filiale hing (wie heute der Bundespräsident in den Amtsräumen), auch genau zu – es wurde damals großes Augenmerk auf Qualität und fachkundiges, höfliches Personal gelegt. So sehr, dass ich nach der Unterstufe Gymnasium als Lehrling abgelehnt wurde, weil ich einen Zweier in Betragen hatte. (Später war man nicht mehr so heikel, da sprachen die meisten Meinl-Mitarbeiter serbokroatisch oder arabisch.)
Am Samstagnachmittag, wenn mein Vater von der Arbeit kam, wurde das Kaffeewasser aufgesetzt, bevor es zum Kochen kam mit einem kleinen Bröckerl Titze-Feigenkaffee verbessert und in die vorgewärmte Karlsbader-Kanne „schluckweise“ aufgegossen. Erst Jahrzehnte später habe ich wieder Kaffee solcher Qualität bekommen. Und noch besser als der Geschmack war der Geruch!
Jahre später bekam meine Mutter im Konsum, wo sie Arbeit gefunden hatte, vom Inspektor einen gehörigen Rüffel, weil sie – im Konsum-Arbeitsmantel – mittags rasch zum Meinl um ein Packerl Kaffee gelaufen war! „Was sollen sich denn unsere Kunden denken? Dass Ihnen unser Kaffee nicht gut genug ist?“
Das war in den Fünfzigerjahren. Später wurden in der Konsum-Rösterei ausgezeichnete Kaffeemischungen hergestellt, deren „Cirkel-Diplomat“ zwanzig Jahre lang mein Frühstückskaffee war. Einmal konnte ich mich sogar persönlich von den Spitzenleistungen dieser Rösterei überzeugen. Als der vakuumverpackte Mahlkaffee aufkam, war der Konsum einer der ersten in Österreich, der sich so eine teure Verpackungsmaschine leistete, und ich gehörte einer Gruppe an, die zur Besichtigung zugelassen war. Nachdem ich die Vorzüge und technischen Daten der Maschine gesehen und gehört hatte, sah ich mich in der großen Halle etwas um. Eine Gruppe weißgekleideter Frauen arbeitete an einem langen Tisch, an dessen Ende eine große Karlsbader-Kaffeekanne stand. Ich fühlte mit einem Finger, sie war warm. „Dürfte ich bitte kosten?“, fragte ich höflich. Eine der Damen goß mir freundlich eine Tasse ein, und ich probierte pur, ohne Zucker und Milch. „Das ist der beste Kaffee, den ich bisher getrunken habe“, sagte ich begeistert, und die Frauen schmunzelten: „Was glauben Sie, wir nehmen doch nur vom Besten, wir sitzen ja an der Quelle.“
Nach der guten alten kaiserlichen Karlsbader-Kanne mit Porzellanfilter kam der Melitta-Aufsatzfilter auf den Markt, der weniger, weil feiner gemahlenen Kaffee verbrauchte und man konnte das ganze Wasser auf einmal aufgießen. Die Firma Lilienporzellan kreierte bald komplette Kannen, die sehr beliebt waren und so gut zum pastellfarbenen Geschirr „Melange“ passten. Mit der aufkommenden Motorisierung brachten dann immer mehr Italienurlauber die Aluminium-Espressomaschinen heim, die bald auch in den Büros unentbehrlich wurden. Und dann kam der Siegeszug der elektrischen Filterkaffeemaschinen, der bis heute andauert, nur in den Büros machten sich die moderneren Saeco-Vollautomaten breit. In den Haushalten haben sie sich nicht wirklich durchgesetzt, was wohl am infernalischen Geheule der eingebauten Mühlen liegt. Und der sogenannte „ice-coffee“ in Dosen ist wohl eher nur ein Sommerblüher, da ändert auch der plakative Aufschrei eines knochigen Models: „Kaffeekanne? Ich hab doch einen Kühlschrank“ gar nichts. Und wie wurde im Jahr 2003, als ich an einer Volkshochschule einen Kaffeesiederkurs machte, dort der Kaffee für die vielen Verkostungen zubereitet? Ja, in der alterprobten, geschmacksneutralen Karlsbader!!! Weil nämlich Kaffee von Fachleuten niemals heiß, sondern immer nur warm bis lauwarm verkostet wird – nur dann hat man den vollen Geschmack! Und wenn der Kaffee etwas grobkörniger gemahlen ist (wie für das Porzellansieb der Karlsbader erforderlich), enthält er auch weniger Bitterstoffe.
Aber trotz der gewaltigen Auswahl an Kaffeemaschinen in den heutigen Mega-Super-Elektro-Märkten, in Fachgeschäften und sogar schon in Baumärkten: Wer eine gute Kaffeemühle sucht, hat keine Qual der Wahl: Eine veraltete Messermühle und zwei elektrische Mahlwerksmühlen, das war’s. Da möchte man oft lieber Großmutters Handmühle wieder zwischen die Knie nehmen.
Apropos Handmühle: Vor Jahren feierte mein Arbeitgeber ein Firmenjubiläum, und alle Mitarbeiter wurden aufgefordert, kreativ daran mitzuwirken – es war ein „open-house“ mit warmem Büffet geplant. Ich entschloss mich spontan, in meinem großen Büro ein richtiges altmodisches Kaffeehaus aufzumachen: Eine Kollegin lieh mir einen leistungsfähigen Edelstahlwasserkocher, ich reaktivierte meine alte Handmühle sowie die beiden großen Karlsbader-Kannen, besorgte Zubehör, Milch, Schlagobers, Getränke, Geschirr, Zeitungen und – last, but not least – zwei Kilo hochwertige Kaffeebohnen. Dann buk ich je drei Guglhüpfe und Apfelstrudel, und das Fest konnte steigen. Gleich in der ersten Stunde kam es zur Nagelprobe – der oberste Konzernboss kam mit zwei Abteilungsleitern herein und bestellte drei große Braune – „aber rasch, ich hab nicht viel Zeit!“ Ich nickte und nahm die Handmühle zwischen die Knie, als er schon urgierte; „Ich hab gesagt rasch, wo ist unser Kaffee?“ Ich deutete auf die Mühle: „Ich reibe ihn gerade, in einer Viertelstunde wird er fertig sein, ein guter Kaffee braucht seine Zeit, und einen schlechten bekommen Sie sowieso jeden Tag.“ Nicht nur der Boss, auch seine Sekretärin erblasste. Aber er kam folgsam zwanzig Minuten später, und er hat es nicht bereut.
Mit der Sekretärin war ich sowieso auf Kriegsfuß, denn sie kochte den im ganzen Konzern berüchtigten „Fadbitter“, indem sie morgens eine gewaltige Kanne Kaffee zustellte und auf der Warmhalteplatte der Maschine den ganzen Tag warmhielt. Genauso hat er dann auch geschmeckt: Wenn er frisch war, war er heiß, wenn man viel Zucker hineintat, war er süß, und mit Milch wurde er heller. Kann man mehr verlangen? Es lief das Gerücht, dieser Kaffee werde zum Disziplinieren unbotsamer Mitarbeiter und schwieriger Kunden eingesetzt, und die Gastritis des Direktors wäre auch darauf zurückzuführen. Einmal dachte ich, besser der Fadbitter als gar nichts, und hatte ein Häferl davon am Schreibtisch stehen, als ein Techniker auffällig schnuppernd in mein Zimmer trat mit der Frage: „Mir wurde ein Kabelbrand gemeldet – ist das bei Ihnen?“ Ich antwortete – mit Blick auf den Bildschirm und daher geistesabwesend: „Nein, ich habe gerade einen Kaffee von der Frau Mitzi geholt.“ Dieser ungewollte Geruchsvergleich wurde rasch „ruchbar“ und die Frau Mitzi grub das Kriegsbeil aus.
Da war mir ja – nachträglich gesehen – der bäuerliche Frühstückskaffee lieber, den ich mit eingebrocktem Brot als Hüterbub in der buckligen Welt morgens und abends in den dicken „Bitschen“ mit Blümchenmuster von der Bäuerin auf den Tisch gestellt bekam. Dieser „Kaffee“ war sicher sehr gesund und man schlief mangels Koffein ausgezeichnet darauf.
Als ich in den Achtzigerjahren auf einem dänischen Bauernhof Urlaub machte, wunderte ich mich sehr, dass es – beim abendlichen Fernsehen – um circa 21 Uhr einen ausgezeichneten starken Mokka mit einem kleinen Stück Kuchen gab. Anfangs war das schlafstörend, aber bald gewöhnten wir uns daran. Erst dachten wir, das sei eine dänische Landessitte, aber eine deutsche Urlauberin glaubte dieses Rätsels Lösung anderswo gefunden zu haben: Der Bauer schlief nach seiner schweren Tagesarbeit beim Fernsehen immer ein, und um noch etwas von ihrem Mann zu haben, wäre seine junge Frau auf den Trick mit dem Mokka gekommen. Möglich wär’s ja.
Ich habe in meinem Leben schon viel und verschiedenartigen Kaffee getrunken, weit mehr mittelmäßigen als guten, und es waren oft genug Ausreißer nach unten dabei: So ist zum Beispiel der Frühstückskaffee auch von Viersternhotels in den großen SB-Kesseln am Büffet fast überall von grauenhafter „Qualität“, ich war ihm von Österreich über Deutschland, Italien, Belgien, Malta, Ungarn, Jugoslawien, Prag und sogar in Rio de Janeiro ausgeliefert. In Brasilien, wo doch jede Menge bester Kaffee geerntet wird! Und von England schweigen wir lieber – dieses Land hat vielleicht in den Gefängnissen, aber sicher nicht beim Kaffee die Folter abgeschafft.
Dieselbe Jauche gibt es auch bei Seminaren, wo in den Pausen von den Nirosta-Tanks gezapft werden darf. Dabei ist in denselben Hotels der Espresso von der automatischen großen Espressomaschine meistens trinkbar – vermutlich, weil er separat zu bezahlen ist. In einem teuren Restaurant in Saalbach habe ich erstmalig diesen flüssigen Sondermüll grantig zurückgeschickt – Sie sollten das Gleiche tun, damit die Gilde der Kaffeeverderber endlich einmal aufwacht!
Es geht aber auch anders! Im medizinischen Labor Dr. Birkmayer in 1090 Wien gab es – aus den gleichen Nirosta-Warmhaltekesseln wie in den oben angeführten Hotels – einen sehr guten aromatischen Kaffee – ich freute mich immer schon auf die nächste Blutuntersuchung. Und warum ist in der Wiener Konditorei Heiner der Kaffee so gut und in etlichen ansonsten renommierten großen Kaffeehäusern eher mittelmäßig? Wie sehr geht mir das nunmehr geschlossene „Haiti“, eine kleine Kaffeerösterei mit Ausschank in der Naglergasse in Wien, ab – da konnte man beim Rösten zusehen und „zuriechen“, und der Kaffee war erstklassig!
Aber auch in Rio de Janeiro gab es eine positive Erfahrung: In einer Seitengasse hinter unserem Hotel an der Copa Cabana war ein Zigarrengeschäft, und beim Kauf von einigen Zigarillos zog mich der Kaffeeduft in den überdachten Hinterhof, wo eine der sonderbarsten Kaffeeküchen etabliert war. Die Apparaturen sahen aus wie eine skelettierte Dampflokomotive, und in Trögen mit kochendheißem Wasser lagen die kleinen dickwandigen Kaffeetassen, welche mit langen Drahtzangen herausgefischt und dann gefüllt wurden. Dieser Mokka war wirklich heiß wie die Hölle, (mit viel Zucker) süß wie die Liebe und schwarz wie sonst etwas. Und umwerfend stark. Die Angestellten waren kaffeebohnenbraun, was mich an die alte Wiener Messe und deren Lebensmittelhalle erinnerte, wo beim Meinl oft ein melangefarbiger Student hinter der Espressomaschine stand – eben der Meinl-Mohr.
Wie viele meiner Erinnerungen und Erlebnisse hängen doch mit Kaffee zusammen, so der Kaffeeausschank in der seinerzeit von jungen Leuten besetzten „Arena“ am Alten Schlachthof, wo mangels Papierfilter eine zerschnittene Strumpfhose verwendet wurde. Oder der Espresso mit Rum, den ich als Externist an Prüfungstagen um drei Uhr morgens trank, bevor ich den Stoff wiederholte. Oder der um Mitternacht mit Freunden gebraute Türkische, wenn die Diskussion schon müde wurde ...
Man könnte direkt nostalgisch werden, denn der Kaffee spricht nicht nur den Geist, sondern auch das Gemüt an – gäbe es sonst sogar Lieder über den Kaffee, „Der Kaffee ist fertig“, oder „… nach dem café au lait möchte ich ganz zärtlich dich verführ’n“, oder die Kaffeekantate von Johann Sebastian Bach?
Und so lassen wir das Lob des Kaffees ausklingen mit der Bemerkung einer resoluten Bürokollegin in den Vierzigern, die meinte: „Einen guten Kaffee und eine Zigarette dazu – da lass ich den schönsten Mann stehen!“
PS: Auch wer Kaffee nicht verträgt, kann sich einen kleinen Kaffeebaum im Topf kaufen und im Büro oder der Wohnung aufstellen, er blüht später weiß über lackgrünen, gewellten Blättern – und meiner hat schon zweimal getragen.
Robert Müller
www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 25076