Bisher auf verdichtet.at zu finden:




Ein alter Freund

Sarah hätte nicht überraschter sein können, hätte sie ihn nach so vielen Jahren auf der Straße getroffen. Die Nachricht war im Spamordner ihrer Facebook-Mailbox gelandet, weshalb sie diese nicht gleich gelesen hatte. Zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit sie sich an einem heißen Nachmittag im Juli kennengelernt hatten; sie war siebzehn gewesen, er einundzwanzig. Jener Sommer, der letzte vor ihrer Matura, war verheißungsvoll gewesen. Alex und sie waren stundenlang mit dem Auto durch die Gegend gefahren, hatten an Seeufern gegrillt, mit Erlaubnis ihrer Mutter sogar gezeltet.

So verging jener unschuldige Sommer wie im Flug, die Zeit rieselte durch ihre Finger wie Sand. Nach intensiven Monaten war schließlich auch ihr letztes Schuljahr vorbei; noch einmal wollte sie ganz frei sein, ehe sie für ihr Studium von Salzburg nach Wien zog. So wie es sein sollte – ein schön gerader, vorgezeichneter Weg. Alex und sie fuhren mit seinem Auto für drei Wochen nach Litauen, auch um ihre Familie zu besuchen, vor allem aber, um das Land ein wenig zu entdecken.

Schließlich wagte er am Ende ihrer Reise, einige Tage vor ihrer Rückfahrt, einen sanften Vorstoß und küsste sie während eines Morgenspazierganges an der Ostsee. Schüchtern erwiderte sie seine Annäherung, ließ sich von ihm führen. Doch sie war ihm dankbar, dass er sie nie zum letzten Schritt drängte, wohl spürend, dass sie noch nicht bereit war. Die nachfolgenden Wochen, bis es schließlich Zeit war, den Zug nach Wien zu nehmen, verflogen rasch; die Bilder jener Wochen verließen Sarah nie. Doch er hatte sie gewarnt, er hatte immer Angst davor, zu bleiben, wenn es ernst wurde; vielleicht wollte er auch deshalb den letzten, körperlichen Schritt nicht gehen.

Es war ein bewölkter, schwüler Montag, als Sarah am Bahnsteig wartete; ihre Mutter und ihr Vater waren mit ihrem Gepäck mit dem Auto gefahren, sie wollte zusammen mit Alex den Zug nehmen. Doch auch kurz vor Abfahrt des Zuges erreichte sie nur seine Mailbox; wenige Tage später nur noch die Ansage, dass unter dem Anschluss kein Teilnehmer bekannt sei.

Sarah war zugegebenermaßen erstaunt darüber, wie sehr sie sich über seine Nachricht freute. Sie telefonierten in den nächsten Wochen viele Male per Video über Whatsapp, lachten viel, sprachen stundenlang über sein Leben in Rom, ihres in Wien, nur nicht über jene Wochen vor zwanzig Jahren. Sie hatten sich beide verändert, natürlich, die Jahre gingen an niemandem spurlos vorbei.
Doch eines schien sich nicht geändert zu haben – er wirkte noch immer rastlos, haltlos. Auch wenn sie keine Erklärung bekam – er deutete an, dass es seit zwanzig Jahren niemanden länger als eine Nacht an seiner Seite gegeben hatte.

Es war ein verregneter, kalter Herbstabend, als sie wieder für ein Telefonat verabredet waren. Doch als Sarah zum Telefon griff, wusste sie schon, dass niemand abheben würde.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25088




Angsthase adieu

Moderne altmodisch gedacht – treffen sich zwei per Mausklick statt per Kupplerin. Bloß ein paar wenige Sätze in den Bildschirm getippt, und spontan vor dem großen, alten, alles überragenden Dom verabredet.

Die U-Bahn ist voller Nachtschwärmer, Spätschichtler und Exzentriker, entweder noch hellwach oder schon im Halbschlaf, manchmal hochschreckend, in der Hoffnung, die eigene Station noch nicht verpasst zu haben. Seine Stimme – noch immer ein Schauer über ihrem Rücken, wenn sie an das kurze Telefonat denkt. Dann endlich, nach wenigen Stationen, erreicht sie, etwas zu früh, ihr Ziel. Im Stimmengewirr der nachtaktiven Menge wartet sie nervös neben dem alten, schweren, hölzernen Tor des Doms. Ob die Realität das verheißungsvolle Versprechen halten oder brechen wird?

Durch die nächtliche Beleuchtung erhält das alte, pompöse Gebäude eine unheimliche Aura, die Anna, unsere Protagonistin, immer wieder aufs Neue faszinierend findet.

Schließlich sieht sie ihn – Valerio, unser Protagonist, erscheint auf der Bildfläche. Von ihrem Standort aus blickt sie genau auf den Auf- beziehungsweise Abgang zur U-Bahn-Station. Nervös lächelnd kommt sie ihm entgegen – sie sieht aus wie auf ihren Bildern: warme Rundungen, langes Haar, das im Laternenlicht dunkelblond erscheint, ein sanftes Lächeln, unsicher – darf er Beschützer sein?

Die junge Frau weiß sofort, dass sie in seiner Gegenwart sicher ist, ein Blick in seine ruhigen, dunklen Augen genügt. Als er sie umarmt, lässt sie es geschehen, sich von der Vertrautheit einfangen. Die Finger in die des anderen eingehakt schlendern sie durch die nächtlichen, von der Sommerhitze pulsierenden Gassen Wiens. Schließlich führen ihre Schritte sie zum Donaukanal, der unter dem spärlichen Licht der Laternen seines nächtlichen Weges fließt. Die Lichter der umliegenden Lokale und Straßenlichter spiegeln sich auf der sonst, ob der späten Stunde, unsichtbaren Wasseroberfläche.

Sie finden ihren Platz auf der obersten Stufe einer zum Wasser hinabführenden Treppe. Zwei zerkratzte Herzen haben sich gefunden, die Worte überschlagen sich, als sie aus den noch jungen Mündern fließen, bis alles erzählt ist. Und doch halten sie von Zeit zu Zeit schweigend inne, sich fragend, was gerade passiert, woher dieses Vertraute gerade kommt. Die gelegentlichen Ströme vorbeiziehender Nachtschwärmer lassen kurz aufhorchen, innehalten. Bricht der Zauber ob des kurzen Einfalls der restlichen Welt? Doch nichts bricht, nur zwei Köpfe, die sich wieder aneinanderschmiegen, Hände, die sich finden, nacheinander greifen. Die lange Nacht ist kurz, die Stunden schnell vergangen. Als Valerio auf die Uhr blickt, ist es halb vier. Langsam setzt bei beiden die Müdigkeit ein, weshalb sie aufbrechen, noch am Donaukanal entlangspazieren, bis zur nächsten U-Bahn noch einige Umwege nehmend. Die Nacht trägt sie, doch schon bald muss sie dem neuen Tag weichen. „Darf ich dich bis vor deine Haustüre bringen?“, fragt Valerio, „ich möchte nicht, dass du alleine um diese Uhrzeit fahren musst!“ Anna nickt, lächelt – freut sich. Sie küssen sich erneut, wie so oft in den letzten Stunden.

Wenige Tage vergehen, Valerio holt Anna zum ersten Mal von der Arbeit ab. In der Hand hat er einen Strauß Lilien, sich erinnernd, dass sie ihre Lieblingsblumen erwähnt hat. Das Strahlen in ihren Augen freut ihn, doch die abwehrenden Worte, sie hätte diese liebevolle Geste nicht verdient, treffen ihn. Warum ist sie so hart zu sich selbst, anstatt es anzunehmen, die vorhandene Freude überhand nehmen zu lassen? Wochen, Monate vergehen, im Schein zwei sich näherkommender Leben. Valerios Herz klopft jedes Mal vor Freude, wenn er merkt, dass Anna sich ihm öffnet, doch ihr häufiges, nachfolgendes Verschließen trifft ihn umso mehr. Jedes Mal. Manchmal, wenn Anna Valerio beobachtet, reut sie ihre Angst, gleichzeitig fühlt sie, dass auch seine Angst größer wird. Fühlt immer einen kleinen Stich in ihrem Herzen, wenn er von Freundschaft plus spricht und doch so viel Zuneigung zeigt, sie beschützen will.

Es ist ein ungewöhnlich warmer Oktoberabend, als Anna Valerio zufällig sieht – wer wohl die Frau ist, mit der er scheinbar so vertraut ist? Als er Anna entdeckt, zuckt er zusammen, verabschiedet sich rasch und kommt auf sie zu. Zum ersten Mal löst Betretenheit Vertrautheit ab, auch wenn keiner der beiden darüber spricht. Anna lächelt, verabschiedet sich schnell, ehe Valerio viel sagen kann. Schweigend blickt er ihr nach – die Zuneigung zu ihr und die Angst vor Enttäuschung ringen miteinander. Doch zeigt sich, die Angst ist zu vertraut, die Komfortzone zu bequem. Das Herz wird wehmütig, wenn der Wind sich dreht – wenn gefühlt werden soll, was nicht gefühlt werden will.

Der Ton der Nachrichten verändert sich in den nächsten Tagen, der Blick scheint durch sie hindurchzusehen. Anna fühlt sich wieder wie das kleine Mädchen, das nicht gesehen wurde, wenn es seinen Eltern etwas erzählen wollte. Und die Nähe fühlt sich falsch an – Anna wehrt sich sichtlich mehr als sonst.

Es regnet, als Anna und Sarah im Regen von der Arbeit zur nahegelegenen Shopping-Mall hasten. Anna ist müde, hat sich dennoch von ihrer Freundin und Kollegin zu einem Kaffee überreden lassen, ehe sie den Heimweg antreten. Gerade als sie das Einkaufszentrum, in dem sich ihr Lieblingscafé befindet, betreten wollen, fällt Annas Blick auf den eine andere Frau küssenden vertrauten Mann. Er erschrickt, als er hochblickt, so hätte sie es nicht erfahren sollen. Nicht so, nicht hier, am besten gar nicht, denkt er, er wollte keine Tränen. Anna ist regungslos, nur für einen kurzen Moment, ehe sie weitergeht, ohne Valerio und die Frau weiter zu beachten. Unterdrückte Tränen, während in ihr alles schreit und tobt …

Vergiss ihn, sagt der Verstand. Doch das Herz klopft, wehrt sich die Vernunft übertönend. Anna ist schweigsam, abwesend. Sarah fragt nicht nach, hat es mitbekommen, will nicht weiter in der Wunde stochern.

Eine Hand streift Annas Unterarm, als sie das Gebäude verlassen – Valerios Blick ist sehnsuchtsvoll distanziert, er will etwas sagen, sich erklären, um den erwarteten Gefühlsausbruch zu besänftigen. Anna verabschiedet sich von Sarah und sieht Valerio an, ohne sich anmerken zu lassen, dass ihr Herz zu zerspringen droht. Doch die Erklärung ist lahm – es fühlt sich gerade richtig an. Anna schüttelt nur den Kopf, verlässt die Szene wortlos, weil Herz und Verstand die Worte fehlen, sie nichts mehr hören will. Doch das Herz lässt sich nicht leicht trösten, die Intuition nicht überlisten. Die Wochen vergehen wortlos, intensiv. Ein vermissendes Herz, Augen, die Augen in der Menge suchen. Doch die vertrauten Blicke kreuzen sich nicht, bis Anna ihren letzten Arbeitstag hat. Und schließlich das vernichtende Facebook-Update: Valerio ist in einer Beziehung.

Die Monate vergehen, langsam hält der Frühling Einzug, verzaubert die Welt mit seiner unschuldigen Schönheit. Ohne Annas Wissen fragt sich Valerio oft, wie es Anna geht, vermisst das Gefühl, das er hatte, wenn er mit ihr zusammen war. Anna wünscht sich oft, sie wäre mutiger gewesen, hätte seine Zuneigung vorbehaltlos angenommen.

Doch bleibt es am Zufall hängen, den ersten Schritt zu machen, da die beiden es nicht wagen, zum Telefon zu greifen. Es ist ein milder Frühlingsabend, als Anna in die U-Bahn steigt und einem bekannten Gesicht gegenübersteht. Sie lächelt, ohne es bewusst wahrzunehmen – genau wie Valerio. Und dieses Mal flüstern beide: Angsthase adieu …

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 25087




Im nächsten Leben

A.s Augen blickten sie sanft und leidenschaftlich an, als sie zwischen all den Getränkekisten standen. „Du Frauenheld“, flüsterte Lara schließlich, leise lachend und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Der sanfte Druck seiner Hand auf ihrem unteren Rücken ließ sie erschaudern; sie fühlte sich geborgen und erregt. Für einen Moment vergaßen beide die Welt außerhalb des Wirtschaftshofes, die Kollegen sowie die Gäste, die empfangen und bedient werden wollten.

„Du wirst sehen, dass ich kein Frauenheld mehr bin“, flüsterte A., ehe er seine Zigarette ausdämpfte und wieder auf seine Station ging; die Saison neigte sich dem Ende zu, der Gastgarten des Lokals S. war brechend voll. Lara lächelte, während sie zu ihrem Arbeitsplatz am Gästeempfang zurückging; ihre Welt war im Chaos, seine Aufmerksamkeit beruhigte sie. Er flirtete seit Tagen mit ihr, nichts von ihrer Trennung wissend; bei jeder zufälligen Begegnung suchte er ihre Nähe, indem er zumindest ihre Hand streifte. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sich zwei der Guten zum falschen Zeitpunkt kennengelernt hatten; sie hatten die Fronten längst geklärt.

Es war kurz nach 22 Uhr, als Lara und ihre Kollegin Babsi die Tür des Gästeempfangs abschlossen und zum Wirtschaftshof gingen, um ihre leeren Flaschen in die Leergut-Kisten zu stellen und noch etwas zu trinken. A. wartete mit einem weißen Spritzer auf Lara, er hatte immer versucht, sie in den letzten Tagen abzufangen, wenn ihr Dienst endete. Er wollte, dass sie wusste, dass es ihm leid tat, dass sie sich gegenseitig nicht geben konnten, was sie gerade brauchten, aber sie sollte spüren, dass er da war.

Der Gastgarten leerte sich bereits, etwas Ruhe kehrte ein. Lara und A. standen etwas abseits, Arm in Arm, versunken in die Präsenz des Anderen. A. hielt Lara, so fest er konnte, und küsste sie auf die Stirn. „Lerne endlich, dich selbst zu mögen“, sagte er leise, während er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, „deine wunderschönen Lippen …“ Lara lehnte ihre Stirn an seine, schloss die Augen und ließ den Sturm in sich toben. Sie wollte ihn küssen, seine Haut auf der ihren spüren – in seinen Armen einschlafen und an seiner Brust aufwachen. Noch lauter aber war die warnende Stimme ihrer Seele, dass niemand sie glücklich machen konnte, solange sie nicht bei sich war. Und sie musste noch alles Vorangegangene verarbeiten.

„Im nächsten Leben Lara“, sagte A., während er ihr Gesicht zwischen seinen Händen hielt. Sie senkte ihren Blick, wollte ihrer Angst, ihrer Unsicherheit ausweichen. „Bitte weine nicht!“, A. hielt sie noch fester. „Nein“, sie schüttelte den Kopf. Als sie später ihre Wohnung betrat, fühlte sich die Dunkelheit so kalt an, das leere Bett schien sie wegzustoßen. Für einen Moment meinte sie, seine Umarmung zu spüren, seinen Geruch wahrzunehmen.

Denn manchmal sehnt sich das Herz nach dem Unerfüllten, dem Unmöglichen.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 22138




Jene Liebe

Sandra und ich waren gerade dabei, die letzten Gläser des Tages aus dem Geschirrspüler zu räumen, als sich die Lokaltüre erneut öffnete, ein Mann mittleren Alters eintrat und sich erkundigte, ob es möglich wäre, noch einen Kaffee zu bekommen. Da es bis zur Sperrstunde noch eine Viertelstunde hin war, bedeutete ich ihm, Platz zu nehmen. „Was darf ich Ihnen bringen?“, obwohl es das Ende eines 14-Stunden-Tages war, hielt sich meine Müdigkeit in Grenzen; vielleicht hatte ich sie einfach schon übertaucht. „Einen großen Braunen bitte“, auf merkwürdige Weise erschien mir sein Lächeln vertraut, als ich ihn ansah, während ich seine Bestellung aufnahm. „Sie haben bis zwei Uhr geöffnet, wenn ich richtig gelesen habe?“, er blickte auf seine Uhr. „Ja“, ich nickte, „aber Sie müssen sich nicht hetzen. Ich bin noch nicht fertig hier!“ „Ich hoffe, Ihr Vorgesetzter weiß Ihre Einsatzbereitschaft zu schätzen!“, sagte er, während er seine Jacke über seinen Stuhl hängte. „Ich denke schon, dass ich meinen Einsatz in meinem Lokal noch schätze“, erwiderte ich. „Das haben Sie sehr gut hinbekommen“, er nickte anerkennend.
„Stört es Sie, wenn ich die Musik wechsle? Um diese Uhrzeit stört sich niemand mehr an Bon Jovi; fürs Alltagsgeschäft taugt er hier leider nicht so wirklich.“ „Nein, absolut nicht“, er schüttelte den Kopf, „ich mag Bon Jovi. Bist du Corinna? Corinna Berger?“ Die Erwähnung meines Mädchennamens ließ mich überrascht aufhorchen. Ich hatte ihn seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gehört. „Mittlerweile Karakaban, ich bin verheiratet“, ich sah ihn überrascht an, „kennen wir uns?“ „Harald“, sagte er leise, „Harald Stein!“ Vor mir saß meine Jugendliebe! Und Bon Jovis Never say Goodbye war unser Lied. „Dreiundzwanzig Jahre“, flüsterte er und umarmte mich, „du bist wunderschön! War das Leben gut zu dir?“ „Ja“, ich lächelte erfreut, „wie geht es dir?“ „Gut, gut, ja“, er lächelte verlegen. Einige Augenblicke standen wir voreinander, ohne zu wissen, was wir sagen sollten.

Sechs Jahre sind eine gute Zeit für eine erste Beziehung. Wir hatten uns bei einer ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Altersheim kennen gelernt, da wir beide schon immer sozial engagiert gewesen waren. Schon beim ersten Treffen hatten wir uns ohne viele Worte verstanden. Es fühlte sich natürlich an, wenn wir zusammen waren. Bis wir an einem Freitagabend, bei der Party eines gemeinsamen Freundes, Tom, Arm in Arm einschliefen und uns am nächsten Morgen nach dem Aufwachen einfach küssten, als wären wir schon eine ganze Weile zusammen. Da wir beide Morgenmenschen waren, waren wir früh im Gästezimmer, das Tom uns reserviert hatte, eingeschlafen. „Na ihr beiden, wieso grinst ihr so?“, fragte Tom, als er in die Küche kam, um sich ein Glas Wasser zu holen, ehe er ins Bett ging, weil gerade erst, um sieben Uhr morgens, die letzten Gäste gegangen waren. In jenem Moment verriet mich die Röte, die mir immer ins Gesicht stieg, wenn ich bei etwas ertappt worden war. Tom begann zu lachen. „Corinna, Kleines, ich kenne dich lang genug, du kannst nichts verstecken. Wir haben schon Wetten drauf abgeschlossen, wann es endlich passiert, dass ihr zusammenfindet!“ „Ich hoffe, du hast gut gewettet!“, erwiderte Harald trocken und küsste mich auf die Stirn.

An jenem Samstag hatten wir ausnahmsweise nichts vor, so konnten wir den Tag gemeinsam verbringen und alles auf uns wirken lassen. Wir unternahmen eine Radtour und ließen uns irgendwann mit dem unterwegs besorgten Proviant bei einem kleinen See nieder. Während wir aßen, las Harald mir einige seiner Lieblingsgedichte vor, auch einige, die er selbst verfasst hatte. Ich konnte mich im Klang seiner Stimme verlieren, die den Wortbildern Leben einhauchte. Ich empfand Klopstocks Gefühle aus dem Gedicht Wiedersehen nach, sah den Mond aus Claudius‘ Abendlied vor mir aufgehen, seinen Nebel vor mir aufsteigen und durchlebte Brentanos Liebesnacht im Haine.

Irgendwann lagen wir einfach nur im Schatten, mein Kopf auf seiner Brust, sein Arm um mich gelegt. Mein Herz schlug bis zum Hals, als er sich plötzlich zur Seite drehte und mich lang küsste. „Keine Sorge, meine Kleine, alles hat Zeit, das ist kein Wettbewerb“, er drückte mich fest an sich.

Im Laufe der Zeit entwickelten wir unsere Rituale. Unsere Sonntag verbrachten wir entweder gemeinsam, bei seiner oder meiner Familie oder alleine, wenn wir das Gefühl hatten, Ruhe zu brauchen. Freitag war der Abend, den wir mit Freunden verbrachten, nicht unbedingt zusammen. An zwei bis drei Nachmittagen waren wir gemeinsam ehrenamtlich unterwegs und die Samstage gehörten nur uns. Zumindest Teile unserer Sommer verbrachten wir immer gemeinsam im Ausland, weil wir so viel wie möglich von der Welt sehen wollten. Unsere Radtour durch Litauen, im Sommer nach meinem achtzehnten Geburtstag, war eines unserer intensivsten Erlebnisse, weil es vor allem ihn neue Seiten an mir sehen ließ. Vielleicht war das unser Geheimnis: genug Gemeinsamkeiten, aber auch genug Gespür für die nötige Distanz.

Als wir zu studieren begannen, zog es uns beide von Salzburg nach Wien. Und unser Ende kam so schleichend, dass wir es nicht gleich realisierten. Leise begann die Sprachlosigkeit zwischen uns, weniger Zeit für uns, mehr Zeit, um auszubrechen und sich auszutoben. Immer häufiger verbrachten wir immer mehr Zeit getrennt, mit anderen Menschen und Interessen und damit, Neues zu erleben, das zu teilen uns nicht mehr wirklich gelang. Neben Studium, einem Studentenjob und neuen Freundschaften blieb nicht mehr viel Raum für uns, weil alles Neue, durch das wir uns entwickelten und veränderten, uns voneinander entfremdete. Nach einem Jahr hatten wir außer einigen Bekannten nichts mehr gemeinsam. Wenn ich mich zurückerinnere, sehe ich uns weinend auf der Couch sitzen. Es war eine lange Nacht, in der wir uns zum ersten Mal betrogen hatten. Und das auf derselben Feier, auf die wir geraten waren, weil wir zufällig Bekannte des Gastgebers kannten …

/Corinna, du weißt, dass ich dich liebe, oder? /Ja ich weiß. Ich dich doch auch. Und wann haben wir uns verloren? /Ich weiß es nicht; ich hätte nie gedacht, dass so etwas ausgerechnet uns passieren würde. Ich habe immer gedacht, dass uns so etwas nicht passieren könnte. /Ja ich auch, für mich waren wir etwas, das einfach zusammengehört, ein Paar wie ein Paar alte Hausschuhe. Aber vielleicht war das unser größter Fehler.

Bald danach zog er aus der gemeinsamen WG aus, nachdem er eine Wohnung und einen Nachmieter gefunden hatte. Gintaras, ein Masterstudent aus Vilnius, meiner Geburtsstadt. Nach dem Studium zog ich für zwei Jahre nach Vilnius, ehe ich eine Stelle als Reservierungsleiterin im Istanbul Marriott Hotel Asia bekam. Die Stelle war auf zwei Jahre befristet, so konnte ich mich mit sechsundzwanzig noch immer umorientieren, sollte mir die Hotellerie nicht mehr zusagen. Doch war ich danach noch weitere drei Jahre geblieben, hatte allerdings die Abteilung gewechselt: Food and Beverage, also Verpflegung, und war sogar Restaurantleiterin geworden.
In Istanbul lernte ich meinen Mann Alican kennen. Auch er war in Wien aufgewachsen und nach der Ausbildung nach Istanbul gekommen. Wieder fing es ohne viel Aufregung an. Wir trafen uns häufig zum Essen, er zeigte mir Istanbul. Genau wie ich liebte er Städte bei Nacht. Wir sprachen viel über Vorstellungen, Glauben und Lebensentwürfe. Auch Alican wollte sich einmal selbstständig machen und fand Gefallen an meiner Idee von einem kleinen Café. Sein Heiratsantrag war keine Überraschung für mich. Harald hätte meine Träume wohl auch nie geteilt. Er wollte immer nur schreiben, das aktuelle Geschehen einfangen. Dafür hatte er, seit wir nach Wien gezogen waren, alles hintangestellt. Für meine Träume und Wünsche hatte er bald kein Ohr mehr gehabt.

Unsere Hochzeit fand im kleinen Rahmen in Istanbul statt. Wir beide, unsere Eltern und unsere engsten Freunde. Nach der Hochzeit zogen Alican und ich bald wieder nach Wien. Wir hatten genug gespart und fanden schon nach kurzer Suche das perfekte Lokal in der Innenstadt. Ein Lokal mit vielen großen Fenstern und hohen Wänden für die Bücherregale. Jeden Abend von sechs bis zehn Uhr kam Vladan, unser kroatischer Pianospieler.

Harald und ich saßen uns an diesem Abend lange schweigend gegenüber. Es war fast auf den Tag genau dreiundzwanzig Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten. Es gab so viel zu erzählen und keinen passenden Einstieg. Schließlich erzählte er mir von seinen Jahren in Amerika, von seiner Frau und seinem Leben. Gegen seinen Wunsch war er kinderlos geblieben; den Grund dafür verriet er mir nicht. Ich nehme an, es ist ein zu persönlicher Grund. Alican holte mich um halb drei ab – wie jeden Freitag. Alles war sauber, die Tageseinnahmen waren abgerechnet und im Safe. Er wusste von Harald und dass es ihn vor ihm in meinem Leben gegeben hatte. Harald und ich haben uns seit jenem Abend nicht mehr gesehen. Das ist vielleicht auch gut so; zwischen einstigen Liebenden wird zu leicht Staub aufgewirbelt.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 19104




Wider und Für Lieben

Das Wider

Sitzen und warten
Ist es das wirklich wert?
Ich weiß es nicht.

Tränen und Angst
Mag dich dein Gegenüber?
Denke unsicher nach – komme zu keinem Schluss.

Wut und Streit
Ist es nicht schwer
Manchmal etwas kompromissbereit zu sein?
Ich weiß es nicht – ich habe es noch nicht versucht.

Trennung auf Zeit
Um über sich selbst klar zu werden
Ist das nicht der Anfang vom Ende
Zweier Partner?
Ich bin mir nicht sicher.

So viel Emotion
Lohnt sich das wirklich
Ein Leben lang?
Ich tappe im Dunkeln.

 

Das Für

Kommen und gehen
Vertrauen
Nähe und Ferne zugleich.
Ein Grund zu lieben?
Kommt nahe.

Begehren und aufeinander zugehen
Trotzdem sich nicht aufgeben müssen.
Ein Grund zu lieben?
Ich glaube schon.

Zeit geben
Seine Bedürfnisse spüren
Aufblühen.
Ein Grund zu lieben?
Ich bin fast sicher.

Einheit und Zweiheit nicht im Widerspruch
Gegensätze mit und ohne Widerspruch zugleich.
Ein Grund zu lieben?
Ich bin ziemlich sicher.

Vielleicht kein Schutz vor dem Fall
Aber das Netz unter dem Trapez
Das auffängt
Falls es zum Fall kommt.
Ein Grund zu lieben?
Ich bin sicher!

Zusammen sein
Zärtlich und ehrlich
Zwei Persönlichkeiten
Die nicht vollends verschmelzen müssen
Auch bei größter Nähe.
Ein Grund zu lieben?
Ich bin überzeugt!

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 19096




Am Bahngleis

Sie hat ihn nicht gesehen, als sie auf den Bahnsteig tritt; zu sehr ist sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Ruckartig dreht sie sich um, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürt. Ihr Lächeln ist überrascht und erfreut zugleich, als sie Harald, ihre Jugendliebe, vor sich sieht. Es ist einer der seltenen Momente, in denen sie nicht weiß, wie sie reagieren soll. Gefühle und Erinnerungen treffen sie im ersten Augenblick mit einer ungeahnten Wucht. Sieben Jahre sind vergangen, seit sich die beiden zuletzt gesehen haben.

Sie hatten sich auf einer Geburtstagsfeier kennen gelernt, auf der sie beide außer dem Gastgeber niemanden kannten. So waren sie irgendwann miteinander ins Gespräch gekommen und saßen die halbe Nacht auf der Terrasse, mit Zigaretten und einer Flasche Weißwein. Es war eine heiße Julinacht und irgendwann war sie mit ihrem Kopf an seiner Schulter eingeschlafen. Erst gegen fünf hatte er sie vorsichtig geweckt. An jenem Morgen hatte er sie zu ihrer Praktikumsstelle in einem kleinen Hotel begleitet, wo sie im Zuge ihrer Ausbildung an einer Tourismusschule zwei Monate als Frühstückskellnerin arbeitete, ehe er sich einen heißen Kaffee besorgt hatte, den er auf einer Parkbank nahe seiner Arbeit trank, während er ein Buch las, um sich die Zeit bis zum Arbeitsbeginn um halb acht zu vertreiben, da es sich nicht mehr lohnte, in seine Wohnung zu fahren.

Unzählige Nächte waren danach so ähnlich verlaufen. Vor allem teilten sie eine Leidenschaft für Bücher und  Filme. Besonders häufig hatten sie sich „The Virgin Suicides“ angesehen, weil jedes Mal an einer anderen Stelle Zündstoff für Grundsatzdiskussionen gewesen war. Er hatte ihre Begeisterung für Gedichte geweckt, als er ihr eines Abends vor dem Einschlafen einige seiner Lieblingsgedichte vorgelesen und sie dabei im Arm gehalten hatte. Vielleicht liebt sie deshalb die Gedichte des türkischen Dichters Nazim Hikmet so sehr: Die Stimmung, die er mit seinen Worten aufkommen lässt, erinnert sie an den unschuldigsten Sommer ihres  Lebens.

Eines Nachmittags holte er sie von der Arbeit ab, um sie mit einem Picknick auf der Donauinsel zu überraschen. Sie waren schon lange mit dem Essen fertig, als es zu regnen begann. Es war ein warmes Sommergewitter, nach einer trockenen, heißen Woche, das sich unweigerlich entladen musste. Ohne viel nachzudenken, waren sie in die Neue Donau gesprungen, um zu schwimmen. Beide liebten die Schwerelosigkeit, die man empfindet, wenn man im Wasser ist. So waren sie eine gefühlte Ewigkeit geschwommen, ehe sie zu ihm nach Hause gefahren waren, um sich heiß zu duschen, eine Pizza zu essen und sich einen Film anzusehen.

Wenn sie an diesen Tag zurückdenkt, erinnert sie sich auch an das intensive Gefühl der Geborgenheit, als sie in seinen Armen einschlief. Er hatte ihr in jenem Sommer Wien gezeigt, jene kleinen Ecken und Enden, in die es sie auch als Studentin immer wieder gezogen hatte. Sehr oft waren sie an gemeinsamen freien Nachmittagen und Wochenenden durch die Wiener Hausberge spaziert, hatten neue Lokale ausprobiert oder  Radtouren unternommen.

Am liebsten jedoch hatten sie sich, die beide immer schon introvertierte Menschen waren, am Rosenwasser im Prater unter einer alten Trauerweide getroffen:  Mit zwei Bechern Kaffee, einer kleinen Jause, einer Picknickdecke und jeder mit einem Buch hatten sie es dort stundenlang gemütlich gemacht. Mehr hatte es für beide meist nicht gebraucht, um zufrieden einen schönen Nachmittag zu verleben.

Nun stehen sie sich wieder gegenüber, mit einem verlegenen, glücklichen Lächeln. Er macht den ersten Schritt auf sie zu, umarmt sie. Sie erzählt Harald, dass sie auf eine alte Freundin aus Salzburg wartet, die sie seit der Matura vor sechs Jahren nicht mehr gesehen hat, da sich ihre Lebenswege nach der Schule getrennt hatten. Auch Harald wartet auf jemanden aus Salzburg; auf seine neue Freundin, die zu ihm nach Wien ziehen wird. Er freut sich zu hören, dass Corinna eine Stelle als Sprachassistentin in einem Gymnasium in Aarhus, Dänemark, bekommen hat, die sie in zwei Monaten antreten wird. Es beruhigt ihn zu wissen, dass sie ihren Traum, im Ausland zu arbeiten, nun verwirklichen kann.
Während sie auf den verspäteten Zug warten, trinken sie einen Kaffee, sprechen über alles, was war, und das, was vielleicht noch sein wird. Und insgeheim tut es beiden leid, als der Zug dann einfährt, weshalb sie Nummern austauschen, um sich zu einem ruhigeren Zeitpunkt noch einmal verabreden zu können. Und beinahe wäre ihr Abschied in diesem Moment wieder eine Spur zu vertraut ausgefallen.

Tatsächlich ergibt sich schon zwei Wochen später eine Möglichkeit, um den Worten Taten folgen zu lassen. Wie schon Jahre zuvor sitzen die beiden abends am Donauufer und beobachten den Sonnenuntergang.

„Schade, dass es dieses Mal nicht regnet“, sagt sie irgendwann. Harald nickt nur schweigend und nimmt sie in den Arm. „Erinnerst du dich noch daran, als ich nach der Party vergessen habe, dir dein Hemd wiederzugeben?“, fragt Corinna. „Ja“, Harald lacht, „es hat wenigstens einige Tage nach dir gerochen, als du es mir wiedergegeben hast. Das war schön.“ Insgeheim freut sich Corinna über seine Worte, sagt aber nichts darauf. Und als er seine Hand auf ihre legt, bewegt sie sich nicht, um die Zeit für einige Momente anzuhalten.
Man kann darüber streiten, ob eine solche Art von Intimität schon Betrug ist. Beide empfanden es so, als wäre dieser Moment nötig, um den sich falsch anfühlenden Abschied von vor sieben Jahren wettzumachen. Harald schweigt die meiste Zeit, erst als die Sterne bereits aufgegangen sind, ringt er sich zu dem Satz durch, der ihm auf dem Herzen liegt, seitdem er Corinna wieder getroffen hat. „Ich habe dich wirklich geliebt Corinna, weißt du das?“

Es überrascht Corinna nicht, Harald am Bahngleis zu treffen, als sie auf dem Weg nach Salzburg ist. Egal, ob richtig oder falsch – es fühlt sich an, als ob es so sein sollte. Harald, die Rose, der Kuss. Ein letztes Mal lehnt sie ihren Kopf auf seine Brust; dann zwingt sie sich doch, nicht mehr zurückzusehen.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten| Inventarnummer: 19095




Sie

Leuchten. Ein helles Leuchten in den sanften, großen, grün-grauen Augen der jungen Frau. Die Stille in ihre Einzelteile zerschreien. Warmer Frühlingswind auf nackten Schultern in einer sternenklaren Nacht, das lange schwarze Haar umspielt sanft das zierliche Gesicht. Rosenduft vermengt sich mit dem Nachtwind wie ein Paar beim Liebesakt; die Nacht ist klar und der Vollmond blickt auf sie herab, wie ein gütiger, liebender Großvater. Ein kräftiger, lebensbejahender Schrei, wie der von Ronja Räubertochter zu Frühlingsbeginn. Ein Tanz durch die Straßen der alten Stadt, ehe sie sich in Ermangelung einer nahegelegenen Bank auf die Straße setzt und an die von den Jahren gezeichnete Steinmauer gelehnt den Vollmond betrachtet. Sehnsucht kann sie nicht aufhalten – im Gegenteil: Sie ist der beste Antriebsstoff. Langsam fühlt sie, wie ihr die zwei Flaschen Rotwein, die sie zusammen geleert haben, zu Kopfe steigen. Sie schließt die Augen und beginnt, alles wahrzunehmen, sich zu erinnern, Revue passieren zu lassen. Eben jene wenigen Monate, die alles verändert hatten.

Nach so vielen gemeinsamen Jahren war das Ende schleichend gekommen. So schleichend, dass es lange von niemandem realisiert worden war. Von den Freunden nicht, von ihr nicht und auch von den anderen nicht. In den Tagen, die auf ihre Mitteilung folgten, hatte sie sich gefühlt, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen, ihre Welt war wie aus Watte gewesen. Sie fragte sich, ob es nicht Anzeichen gegeben hatte, die früher hätten erkannt werden können. Vielleicht die immer weniger werdende Zeit, die die beiden miteinander verbracht hatten; die Kinder waren aus dem Haus und somit auch der letzte Kitt, der diese Beziehung noch zusammengehalten hatte. Trotz aller dünnen Erklärungen, dass jeder mit Projekten beschäftigt war, die es durchzuführen galt, und der allgemeinen Aussage, dass danach schon wieder alles besser werden würde. Sie waren nicht das erste Paar, das mit dieser dünnen Aussage versuchte, die bitteren Tatsachen vom Tisch zu wischen. Oder ob es daran lag, dass die beiden sich über Jahrzehnte vorgemacht hatten, dass sie zusammenpassen würden und dass Beziehungen nun einmal auch bedeuten, dass man sich zusammenrauft, Kompromisse schließt und all das Zeug, das man aus gutmeinenden Mündern zu hören bekommt, wenn man über Beziehungsprobleme spricht? Daran, dass keiner nachgeben wollte, weil ein Scheitern bedeuten würde, zu verlieren und auf der Beziehungsebene zu versagen, obwohl man doch in allen anderen Lebensbereichen überdurchschnittlich erfolgreich war? Dass die Kämpfe mit den Großeltern der Kinder umsonst gewesen sein sollten, als sich diese – vielleicht in weiser Voraussicht, aber dennoch erfolglos – gegen ihre Beziehung gestellt hatten? Oder an der Angst, sich dem eigenen Scheitern stellen zu müssen und der Tatsache, dass keiner von ihnen je den Mut gehabt hatte zu gehen? Was auch immer es war, nun war das Ende nicht mehr zu leugnen, sondern starrte sie unverhohlen an wie ein zum Kampf bereiter Wachhund.

Es war ein kalter Abend im Februar gewesen, als sie es endlich über sich gebracht hatten, ihren Kindern mitzuteilen, dass sie sich scheiden lassen würden. Eine Woche vor dem ersten Gerichtstermin. Der Schnee war beinahe einen halben Meter hoch gewesen und die Luft schneidend kalt. Ein nass-grauer Tag, der kälteste seit Langem. Ein guter Tag für fassungsloses, erschüttertes Schweigen. Vierzig Jahre Ehe – sie hatten am zwanzigsten Geburtstag der Mutter geheiratet – sollten nun am Scheiterhaufen verbrannt werden.

Clarissa hatte die Neuigkeit ihrer Eltern am härtesten getroffen, während ihre beiden Brüder sehr gefasst auf die Nachricht reagiert hatten. Vermutlich hatten sie eher damit gerechnet als das Nesthäkchen der Familie, das gerade mit dem Studienabschluss und einem neuen Lebensabschnitt beschäftigt war. Nachdem ihre Eltern ihnen die Neuigkeit mitgeteilt hatten, war sie wieder zurück nach Wien in ihre Wohnung gefahren, um ihr Gedankenkarussell wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Wäre es jedoch bei diesem einen Ereignis geblieben, hätte es ihr nicht so sehr den Boden unter den Füßen weggerissen. Als sie an jenem grauen Tag wieder in ihr eigenes Heim zurückgekommen war, war endgültig klar gewesen, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleiben würde. Denn wenn die Dinge einmal aus den Fugen geraten, dann tun sie das für gewöhnlich gleich auf der ganzen Linie.

Im ersten Moment kam es ihr so vor, als sei alles wie immer: Er hatte – natürlich – keinen Handgriff in der Wohnung verrichtet; wie immer, wenn sie einige Tage weg war. Es wäre ja auch zu unbequem gewesen, das eigene Chaos wieder aufzuräumen. Und doch konnte sie sich das Gefühl nicht erklären, das sie nach einigen Minuten beschlich. Sie sah sich um, fand aber nichts, das einem mit seiner Offensichtlichkeit ins Auge sprang. Sie fühlte sich fremd in ihrer eigenen Wohnung, als wäre sie ein vergessener Handschuh oder Regenschirm, der nach einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden liegen geblieben und noch nicht zurückgegeben worden war. Als sie ihn an jenem Abend ansah, fühlte sie eine Leere in sich; ihr war, als würde sie vor einem Fremden stehen, mit dem sie zufällig auf der Straße zusammengestoßen war. Für ihn war alles wie gehabt, er schien keinen besonders großen Anteil an dem zu nehmen, was sie ihm während der Zugfahrt am Handy erzählt hatte. War es das also, was von fünf gemeinsamen Jahren übrig blieb: Ein auf null reduziertes Mitgefühl? Den ganzen Abend war sie wie eine mechanisch aufgezogene Puppe durch die Wohnung gelaufen, hatte in keinem der großen Zimmer der Altbauwohnung, die sie von ihren Großeltern geerbt hatte, Ruhe gefunden. Schließlich hatte sie sich, wie immer, wenn sie mit der Welt im Unreinen war, mit ihrem Laptop auf ihren großen Ohrensessel, den sie von ihrem Großvater geerbt hatte, in der Bibliothek zurückgezogen. Der Mailordner enthielt nur einige Informationen zu ihrer Sponsion und einige Absagen auf Bewerbungen, welche sie Wochen zuvor, nach ihrer erfolgreichen Diplomprüfung, abgeschickt hatte. Ihr Blick war durch das größte Zimmer der Wohnung geschweift, in welchem sie ihre Bibliothek eingerichtet hatte. Bücher hatten eine beruhigende Wirkung auf sie, schon seit Kindheitstagen.

Clarissa starrte schon eine Weile aus dem Fenster und beobachtete den Regen, als es an der Tür läutete. Als sie öffnete und, wenn auch nur für wenige Sekunden, die Enttäuschung in den Augen ihrer Nachbarin aufflackern sah, fühlte sie – wider Erwarten – weder Wut noch Verletzung, sondern lediglich Erleichterung durch die gewonnene Klarheit. Es waren keine Worte nötig, um zu verstehen. Die Frau hatte nicht damit gerechnet, Clarissa an der Türe anzutreffen, da sie eigentlich noch bei ihren Eltern hätte sein sollen. Sie betrachtete die ihr gegenüberstehende Frau einen kurzen Moment – gegensätzlicher könnten sie beide nicht sein: auf der einen Seite sie selbst mit den langen, schwarzen Haaren, den grün-grauen Augen, einem zierlichen, meist ungeschminkten Gesicht. Auf der anderen Seite ihre neue Nachbarin mit den hellblonden Haaren, dem kantigen und zu stark geschminkten Gesicht und einem sehr körperbetonten Kleidungsstil. Sie wusste, dass Andrei sich immer gewünscht hatte, dass sie ihr Äußeres in eben diesem Stil veränderte. Auch sein Blick sprach Bände, als er zur Tür gekommen war, um nachzusehen, wer geläutet hatte. Als sie die Türe hinter den beiden geschlossen hatte, war sie nicht – wie erwartet – in Tränen, sondern in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil ihr die Gesamtsituation so bizarr vorgekommen war. Ihre Großeltern waren ein halbes Jahr zuvor verstorben, die Scheidung ihrer Eltern und nun das. An jenem Abend war sie nicht imstande, ihre Gefühlslage klar zu definieren – zu viel war in zu kurzer Zeit auf sie eingestürzt. Sie fragte sich nicht, ob sie es früher hätte bemerken müssen – es hätte doch ohnehin zu nichts geführt.

In den Wochen darauf war sie für die Außenwelt kaum erreichbar gewesen. Sie hatte ihre Benutzerkonten bei Facebook und Instagram gelöscht, um dieser surrealen und schnelllebigen Welt zu entkommen, der sie ohnehin kaum etwas hatte abgewinnen können. Diese grell inszenierten, allen Trends nachlaufenden Leben, die ständig verfügbar sowie nonstop und dauergrinsend glücklich waren, hatten sie schon immer abgestoßen; ebenso wie die sinnlosen Freundschaftsanfragen von Menschen, denen man in der Realität aus dem Weg ging. Auch ihre Email-Accounts hatte sie auf einen einzigen reduziert und das Handy, wenn es an war, auf lautlos gestellt. Alle Ereignisse dieser Zeit zogen an ihr vorbei wie ein Film, in dem sie eine Statistenrolle spielte: Andreis endgültiger Auszug, ihre Sponsion, die Geburt ihres Neffen … Während sie noch ihrer Arbeit in einer kleinen Buchhandlung nachging, schrieb sie mechanisch Bewerbungen – jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie sich am Ende des Tages nicht mehr daran erinnern konnte, wo sie sich beworben hatte. An ihren freien Tagen streifte sie stundenlangen ohne Ziel durch die Stadt, völlig in Gedanken und Sorgen ihre Zukunft betreffend. Bis zu jenem Montagnachmittag.

Clarissa war auf dem Heimweg gewesen und hatte aus einem Bauchgefühl heraus ihr Handy aus der Jackentasche gefischt. In diesem Moment sah sie den eingehenden Anruf: eine Nummer mit italienischer Vorwahl. Nach einem halbstündigen Gespräch hatte sie einen Termin für ein erstes, ausführliches Interview auf Skype in der darauffolgenden Woche. Und so hatte sich dann eines nach dem anderen ergeben: Nach diesem Interview war sie kurze Zeit später für ein persönliches Gespräch in der österreichischen Botschaft nach Rom geflogen und war mit einer neuen Arbeitsstelle im Gepäck wieder nach Wien gekommen. Und danach fügte sich alles zusammen wie in einem Puzzle: Bereits kurz nach ihrer Rückkehr hatte sie einen Mieter für ihre Wohnung und mit Hilfe einer Freundin für sich eine Wohnung in Rom gefunden. Drei Wochen später war sie wieder nach Rom geflogen; eine Woche bevor sie ihren Dienst antreten würde. So hatte sie noch genug Zeit, um sich ein wenig einzuleben und zurechtzufinden.

An diesem Freitag, dem letzten arbeitsfreien Freitag für lange Zeit, ist sie mit ihrer Freundin und deren Kollegen unterwegs. Bis Valerio und sie irgendwann alleine mit zwei Flaschen Rotwein am Tisch sitzen. Sie lacht aus vollem Herzen, bis ihr die Luft wegbleibt und es Zeit ist, sich auf den Heimweg zu machen. Nachdem sie sich verabschiedet haben, legt sie den Rest des Weges alleine zurück, nur mit der Musik aus ihren Kopfhörern. Sie sehnt sich nach einem Hafen, in dem sie ankommen kann, ist voller Vorfreude auf das neue Leben. Sie kommt am Campo Cestio vorbei, dem Friedhof für nicht-katholische Ausländer in Rom, der ganz in der Nähe ihrer kleinen, vorläufigen Wohnung liegt. Sie setzt sich auf den Boden, blickt – mit dem Rücken an die Mauer gelegt – auf den sternenklaren Nachthimmel über ihr. Sie lächelt: Um zu leuchten braucht es vieles – vor allem aber den Mut dazu.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17144




Das Haus, in dem ich wohnte

2016. Drei Jahre ist es nun schon her, dass ich zuletzt hier war. Nicht, dass mir Familie nichts bedeutet. Ich stehe meiner nur nicht besonders nahe. Anlass meines letzten Besuches im August 2013 war die Hochzeit meiner jüngsten Cousine Audra, ein Jahr nachdem unsere älteste Cousine Lara geheiratet hatte. Jetzt stehe ich selbst kurz davor, in den Hafen der Ehe einzulaufen (wie klischeehaft sich das doch anhört), Karriere zu machen und vielleicht sogar Kinder zu bekommen. Nicht, dass die Idee an sich schlecht ist, aber ausgerechnet der traurige Anlass, dass mein geliebter Großvater gestorben ist, gibt mir die Gelegenheit, noch einmal über die letzten Jahre und meine Zukunft nachzudenken. Darüber, ob ich das alles eigentlich wirklich will.

Der Blick über das Feld vor dem Haus meiner Großeltern scheint unendlich weit zu sein. Und die einzigen Geräusche, die ich wahrnehme, sind das Zwitschern von Vögeln, die seit Jahrzehnten ihr Nest in der Dachrinne haben, gelegentlich vorbeifahrende Autos, das Bellen der Hunde aus den nachbarlichen Gärten und das Rauschen der Äste der im Garten stehenden Bäume, wenn der Wind von Zeit zu Zeit stärker weht. Bei den Vögeln könnte es sich um Nachtschwalben handeln. Ganz sicher bin ich aber nicht. Störche, Spatzen und Amseln gehören zu den wenigen Vögeln, die ich mit Sicherheit erkenne; jedenfalls, wenn ich sie sehe. Ich frage mich, ob die Nachbarn noch immer den struppigen, sandfarbenen und kniehohen Mischlingshund haben, den ich vor einigen Jahren gesehen habe. Am Land ist es ja nicht unüblich, dass die unterschiedlichsten Hunde miteinander Nachkommen produzieren. Wie schon sehr oft in meiner Kindheit stehe ich am Schlafzimmerfenster meiner Großeltern und lasse die Aussicht auf mich wirken. Es wird wohl bald regnen. Und niemand wird mich hier stören, denn nur ich habe die Schlüssel zum Haus meines Großvaters, die ich kurz nach meiner Ankunft ausgehändigt bekommen habe. Ich sollte bald den Brief lesen, den er mir geschrieben hat, ein paar Tage, bevor er von uns gegangen ist. Aber solange ich den Brief nicht öffne, ist es noch nicht ganz real, dass mein Senelis, mein Großväterchen, gestorben ist.

Ich bin also wieder im Haus meiner Kindheit. Meine Großeltern haben in einem Backsteinhaus an der Hauptstraße gelebt. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt eine weite Wiese. Schon damals habe ich mich immer gefragt, wohin der Feldweg auf der gegenüberliegenden Wiese führt. Aber als Kind habe ich mich nie getraut zu fragen, geschweige denn, den Weg zur Gänze entlangzulaufen. Unzählige Sommer habe ich hier verbracht. Tytuvėnai ist ein kleines Dorf in Litauen. Überschaubar, wie kleine Dörfer eben so sind. Abgesehen vom Friedhof. Diesen Ort habe ich immer schon gemieden; schon nach dem Tod meiner Großmutter. Ebenso wie in Kirchen habe ich auch auf Friedhöfen immer ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Deshalb habe ich auch der Beerdigung meines Großvaters heute Mittag nicht beigewohnt. Ich werde erst morgen hingehen, wenn wieder etwas Ruhe eingekehrt ist. Noch weniger als leere Friedhöfe mag ich Friedhöfe, die voll trauernder Lebender sind. Ich bevorzuge die einsame Art zu trauern. Das habe ich schon als Kind so gemacht: Ich habe mich zurückgezogen, bis ich für mich wieder Klarheit geschaffen hatte. Das Haus ist so still, jetzt, wo meine Großeltern beide nicht mehr sind. So sehr hätte ich mir gewünscht, gerade jetzt noch einmal mit meinem Großvater sprechen zu können.

Tytuvėnai ist ein Ort für sich. Irgendwie war mir dieses Dorf schon immer unheimlich, von Jahr zu Jahr mehr. Und dennoch ist es meine Heimat; der Ort, nach welchem ich Heimweh habe; auch von Jahr zu Jahr mehr. Die Hauptstraße, an der das Haus meiner Großeltern steht, führt durch das Dorfzentrum. Ringsherum gibt es nicht viel. Egal in welche Richtung man fährt, es dauert lange, bis man zum nächsten Dorf, geschweige denn zur nächsten Stadt kommt. Viel zu sehen gibt es also nicht: Störche, Wiesen und eine der schönsten Kirchen Europas, die früher Teil eines Bernhardiner-Klosters war. Noch dazu sind die Leute besonders abergläubisch: Meine Mutter erinnert mich heute noch immer daran, dass man in der Nacht vom 1. auf den 2. November nicht ausgehen soll, da dies die Nacht der Toten sei. Einmal soll angeblich eine Frau unter mysteriösen Umständen umgekommen sein, nachdem sie kurz nach dem Tod ihres Mannes in eben jener Nacht unterwegs war. Und das ist nur eine der Geschichten, an die sich meine Mutter erinnert. Meine Tanten würden noch mehr Geschichten kennen, sagt sie immer. Einmal hat mir meine Mutter auch von einem Mädchenmörder erzählt, der, wie sich herausgestellt hat, der Hausmeister der örtlichen Schule gewesen war. Sie hat mir erzählt, dass er sie eines Abends, als sie mit Freundinnen verabredet war, auf einen Tee eingeladen hat. Und was hätte sie sich damals dabei denken sollen? Und wer wäre ich geworden, wäre meiner Mutter damals etwas passiert? Nicht auszudenken.

In Tytuvėnai gibt es zwei Seen: Bridvaišis und Gilius. Der See Gilius von einem Wald umgeben. Und dieser Wald hört genau an der Friedhofsmauer auf. Jedes Mal, wenn ich mit meinen Cousinen und meinem Cousin nach den sommerlichen Tanzabenden zum Haus meines Onkels durch den Wald gegangen bin, habe ich Todesängste ausgestanden. Es war immer so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Ständig war das Knacken des Unterholzes zu hören. Besonders schlimm war das letzte Stück des Weges entlang der Friedhofsmauer. Ich hatte stets das Gefühl, jeden Augenblick müsse ein Axtmörder auftauchen. Oder ein lebender Toter, der noch eine Rechnung mit der Welt offen hatte.

Irgendwie habe ich erwartet, dass sich etwas geändert hat, seit ich vor drei Jahren zuletzt hier war. Aber offenbar haben die Uhrzeiger hier vergessen, dass sie dazu bestimmt sind, sich weiterzudrehen. Nicht einmal der Groll meiner Verwandten hat sich gelegt. Sie nehmen es mir noch immer übel, dass ich nie zurückgekehrt bin. Nicht einmal zu Hochzeiten, bis auf zwei. Auf dem Dachboden meines Großvaters habe ich schon als Teenager alte Briefe meiner Großeltern gefunden. Aus ihnen geht hervor, dass mein Großvater wegen meiner Großmutter eine andere Frau verlassen hat – am Tag der Hochzeit. Diese pikante Geschichte haben sie uns vorenthalten, glaube ich. Ob meine Verwandten davon gewusst haben? Ich habe jedenfalls nie jemanden darauf angesprochen. Auch habe ich meinem Großvater nie gesagt, dass ich von der Existenz dieser Briefe wusste. Ich weiß aber nach der Lektüre dieser Briefe besser als alle anderen aus meiner Familie, dass sich meine Großeltern sehr geliebt haben. Sie haben es jeden Tag gelebt und auch ihre Vorgeschichte zeigt es. Aus den Briefen geht auch hervor, dass die Eltern meiner Großmutter gegen die Beziehung waren, weshalb die beiden sich eines Nachts still und heimlich abgesetzt haben. Der älteste Bruder meiner Mutter ist unehelich auf die Welt gekommen, da meine Großeltern lange nicht an eine Heirat gedacht haben. Beide hatten einige Jahre in einem großen Hotel gearbeitet, ehe sie nach Tytuvėnai gezogen waren, um eine eigene Frühstückspension zu eröffnen. Ich glaube, meine Großmutter hat sehr darunter gelitten, dass die Dinge gelaufen sind, wie sie nun einmal gelaufen sind, auch wenn sie ihren Mann, ihre Kinder und Enkelkinder über alles geliebt hat. Sicherlich wollte sie auch nur das Beste für uns, ihre Wut auf das Leben hat sie jedoch nie verbergen können. Und besonders die auf mich nicht. Alle Enkelkinder hat sie heiraten sehen, nur mich nicht. Dabei hat sie eine Heirat immer als das allerwichtigste Ereignis im Leben eines Menschen erachtet; warum auch immer sie das so gesehen hat. Leon, mein Verlobter, spricht schon seit einem Jahr davon, dass wir endlich einen Hochzeitstermin festlegen sollen, wo wir doch schon lange verlobt sind. Eigentlich sollte ich doch glücklich sein, dass es ihm mit der Hochzeit nicht schnell genug gehen kann. Ich war doch auch einmal eines dieser Mädchen, die von einer romantischen Märchenhochzeit geträumt haben. Und jetzt finde ich mehr Gründe gegen als für eine Ehe. Ich meine, wozu noch heiraten? Vieles kann man heutzutage ohnehin schon mit Vollmachten und Verfügungen regeln. Und ob der gemeinsame Nachname wirklich die sicherste Basis für eine Beziehung ist?

Leon und ich sind schon seit beinahe neun Jahren zusammen. Und obwohl man uns von außen betrachtet als glückliches Paar bezeichnen würde, habe ich schon seit einer Weile meine Zweifel an dieser Beziehung. Um genau zu sein, seit unserer Verlobung vor einem Jahr. Vielleicht, weil der Gedanke an die Ehe für mich etwas Zwanghaftes, Fesselndes und Einengendes hat. Oft frage ich mich, ob manche Paare ohne Trauschein nicht besser aufgehoben wären. Mein Großvater hat Leon sehr gemocht und einer Hochzeit schon lange seinen Segen gegeben. Und nie hätte ich ihm sagen können, dass ich an der Ehe zweifle. An der Ehe im Allgemeinen und an der mit Leon im Besonderen. Ja, Leon ist ein toller Schwiegersohn, meine Eltern vergöttern ihn; wie übrigens meine ganze Familie. Er lässt sich nicht einmal den Frust über mein Hinauszögern der Eheschließung anmerken. Er ist einfach da und tut alles für mich, akzeptiert alles. Solange ich bei ihm bin. Das scheint sein größtes Glück zu sein. Und was ist mein größtes Glück?

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16031




Ausschnittsweise

Lara ist Sozialarbeiterin und lebt schon eine ganze Weile alleine. Manchmal vermisst sie das laute und bunte Familienleben, dessen Teil sie nur noch ist, wenn sie gelegentlich ihre Eltern und ihre Geschwister besucht. Zuhause wird noch immer Litauisch gesprochen; sonst verwendet Lara ihre Zweitsprache nie, die sie fließend beherrscht. Selbst mit Bekannten aus Litauen spricht sie nur Deutsch, auch wenn sie auf Litauisch angesprochen wird. Ihre ältere Schwester Audra und ihr Mann Aidis hingegen sprechen hauptsächlich Litauisch und haben nur litauische Freunde, während Lara in jeder Hinsicht Abstand zu ihrem Geburtsland hält. Auch zur weiteren Verwandtschaft wahrt sie Distanz, sie sieht diese nur bei größeren Feiern wie Hochzeiten. Auf Diskussionen diesbezüglich lässt sie schon lange nicht mehr ein. Auch von ihrer Bisexualität weiß ihre Familie nichts. Nicht, weil Lara sich dafür schämt, sondern weil sie ihr Innerstes schützen will. Ihr haben die Diskussionen nach ihrem Kirchenaustritt schon gereicht.

Lara war schon als Kind ehrgeizig, eigensinnig und unangepasst. Während andere Mädchen miteinander und mit ihren Puppen gespielt hatten, hatte sie sich lieber mit Büchern, dem Familienhund Sam und ihrem besten Freund Görkem, dem türkischen Nachbarsjungen, beschäftigt. Diese Freundschaft ist die längste und stabilste in Laras Leben. Sie ist sich ihrer starken Wirkung nach außen nicht bewusst, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die sie gerne in einer Beziehung – und noch lieber verheiratet – sehen würde.

Leyla wusste schon als Schülerin, dass sie Jugendsozialarbeiterin werden wollte. Vielleicht, weil ihr schon früh klar war, dass es engagierte und couragierte Erwachsene braucht, um eine mündige und verantwortungsgbewusste nächste Generation aufzuziehen. Vielleicht war es auch die couragierte Betreuerin im Jugendzentrum. Seit kurzem lebt sie in ihrer ersten eigenen Wohnung, die voll von Büchern und Fotos ist. Die meisten Fotos zeigen sie und ihre beste Freundin Sara, die ursprünglich aus Kairo stammt. Leyla ist die einzige Frau in ihrer Familie, die kein Kopftuch trägt, und ihr Auszug hat zum endgültigen Bruch mit ihrer konservativen Famile geführt. Irgendwann war ihr die permanente Einbindung in das Familienkollektiv, die keinen Raum für persönliche Entfaltung ließ, zu viel geworden. Selten sieht sie einige Familienmitglieder am Brunnenmarkt, wenn sie dort einkauft oder sich mit Sara zum Frühstück trifft. Schon als kleines Mädchen hat sie sich nie den Mund verbieten lassen. Wie oft hat ihr Bruder sie mit der flachen Hand auf den Mund geschlagen? Sie erinnert sich noch gut daran, wie oft ihr Vater ihr vorgehalten hat, dass es bei ihrer Schönheit leicht wäre, einen Ehemann für sie zu finden, würde sie sich mehr auf ihre Pflichten als Frau konzentrieren, anstatt sich ihren Verstand mit Büchern zu vernebeln. Sie hatte irgendwann gelernt, taktisch zu schweigen, bis sie in der Lage war, für sich selbst zu sorgen.

Auch wenn sie das laute Familienleben jetzt manchmal vermisst, ist sie doch glücklich über ihre eigene Wohnung. So sehr sie ihre Arbeit im Jugendzentrum liebt, an einem freien Tag ist sie froh, wenn sie es sich mit einem Buch auf der Couch bequem machen oder spazieren gehen kann. Die gleiche Strecke, die Lara immer zum Joggen nimmt.

Lara und Leyla haben sich sicher schon oft gesehen; in der kleinen türkischen Bäckerei, am Donaukanal oder an der Straßenbahnhaltestelle. Und unbewusst haben sie sich sicher schon wahrgenommen. Die große, blonde Lara, deren blaue Augen immer eine klare Präsenz ausstrahlen und deren markantes, aber doch zierliches Gesicht stets einen Hauch von Konzentration aufweist. Und Leyla mit ihren schokoladebraunen Locken, ihren bernsteinbraunen Augen, die sie wohl von ihrer Großmutter geerbt hat, ihrer sanften, wohlgeformten Figur und ihrer geerdeten Ausstrahlung. Aber vielleicht verhält es sich auch nur so, dass man einen richtigen Menschen erst zum richtigen Zeitpunkt wahrnimmt. Und dann kann man nur versuchen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. An diesem Tag sind Lara und Leyla schon seit vierzehn Stunden auf den Beinen. Die kleine türkische Bäckerei an der Ecke hat bis Mitternacht geöffnet; Spätentschlossene wie sie können so um 23.30 Uhr noch Milch und Brot für den nächsten Tag besorgen. Lara ist müde nach diesem langen Tag und nimmt den Geschmack der Zigarette in ihrer rechten Hand kaum wahr.

Neben ihr, ebenfalls an der Theke, steht Leyla, die lieber Abstand genommen hat von den zwielichtigen Gestalten, die an einem kleinen Tisch Tee trinken. „Auch keine Milch mehr?“, Leyla lächelt Lara an und streicht sich sanft eine schokoladenbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nein“, Lara schüttelt den Kopf und erwidert das Lächeln, „aber das ist nicht tragisch, auf mich wartet niemand!“ „Auf mich auch nicht! Es ist leichter, wenn einem das eigene Leben ganz alleine gehört.“ Lara nickt zustimmend.

Celal, der Besitzer der kleinen Bäckerei, ist schon seit über dreißig Jahren in Wien. Als Zwanzigjähriger hat er Istanbul verlassen, der Liebe wegen, die sich noch immer bewährt. Er kennt die beiden jungen Frauen gut, sie kommen oft – getrennt voneinander – zu ihm in die Bäckerei. Manchmal bleiben sie sogar, um ein Gläschen türkischen Tee mit ihm zu trinken und sich zu unterhalten. Lara ist die Tochter eines alten Freundes von ihm, den ebenfalls die Liebe vor vielen Jahren nach Wien geführt hat; allerdings aus Litauen, und der mit seiner Frau in der Wohnung neben Celal und seiner Frau lebt. Leyla ist die Tochter eines Freundes von ihm aus Istanbul. Er weiß auch von dem Bruch innerhalb Leylas Familie; ihr Vater Ahmet fragt oft nach seiner Tochter. Auch jetzt beobachtet er die beiden, wie sie so zusammenstehen und sich unterhalten, als wäre es eines von vielen, schon vorangegangenen Treffen.

Schon aus Gewohnheit bietet ihnen Celal einen Tee an. Und die kleinen, traditionellen Teegläser scheinen das Bild zu komplettieren. Es ist, als wären sie für die beiden Mädchen gemacht worden. An diesem Abend verlässt Celal seine Bäckerei erst um halb zwei, eineinhalb Stunden später als üblich. Hier zeigt sich die Festigung einer Liebe, die schon einige Jahrzehnte hinter sich hat. Celal weiß, dass seine Frau, wie jeden Abend, schon schläft, wenn er kommt. Er weiß auch, dass sie ihre Zeit nicht mehr mit Eifersucht verschwenden wird, wenn er die Wohnung betritt und sie fast automatisch aufwacht und aufsteht, um ihm einen Tee zu kochen. Sie werden über den Tag sprechen, wie er vergangen ist und wie jede Nacht Arm in Arm einschlafen. Und vielleicht ist gerade das der Segen eines ruhigen, zufriedenen und vor allem überschaubaren Lebens. Eben deshalb beneidet er die beiden jungen Frauen auch nicht. Ihre Generation ist eine sehr gehetzte, eine, die beschädigte Dinge lieber austauscht, als zu versuchen, den Defekt zu beheben. Doch er grollt nicht. Er weiß, dass sich in jeder Zeit das Positive und das Negative die Waage halten.

Es ist spät – oder früh, je nachdem, wie man vier Uhr morgens empfindet –, als die beiden Frauen die Bar neben der nahegelegenen U-Bahnstation verlassen. „Wie heißt du eigentlich?“ In all den Stunden ist ausgerechnet diese Frage nicht gefallen. „Leyla“, wieder erscheint ihr sanftes Lächeln. „Ich bin Lara“, ihre Stimme ist rauchig, „wollen wir noch zu mir gehen?“ Hand in Hand. Und doch schon viel intimer. Sehr viel intimer. Stunden später sind ihre Stimmen schon beinahe brüchig und können dem Gedankenaustausch kaum noch standhalten.

„Weißt du eigentlich, wie wunderschön du bist?“, langsam streicht Lara Leyla eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Suchend, mit geschlossenen Augen berührt sie die warme Hand, erwidert die Geste, zieht ihr Gegenüber bestimmt heran. Und es ist der erste Kuss, der alles Weitere entscheidet. Sie verbringen die Nacht zusammen.

Vielleicht können sich Frauen wirklich besser in andere Frauen hineinversetzen, wenn es um sexuelle Bedürfnisse geht. Oder vielleicht ist es aber auch nur so, dass zwischen den beiden Frauen die Chemie gerade stimmt. Oft schon haben sich die beiden im Morgengrauen aus fremden Wohnungen geschlichen, um peinliches Schweigen oder – noch schlimmer – die Frage nach der Telefonnummer zu vermeiden. Was in diesem Fall anders ist? Es ist keine dieser klassischen Geschichten. Und nichts Pathetisches.

Es ist ein Samstagmorgen, der einen dazu verleitet, einen langen Spaziergang zu machen, obwohl er neblig und verhangen ist. So sitzen sie im Café Central in der Herrengasse, sprechen über ihre Studienzeit, wundern sich, warum sie sich nie begegnet sind, obwohl sie beide oft hier waren. So oft, dass die Kellner beide Frauen noch immer mit dem Vornamen begrüßen. Es ist sogar der gleiche Lieblingsplatz in einer kleinen, versteckten Ecke, wo sie für sich sind. Noch immer Hand in Hand spazieren sie von der U1-Station Donauinsel bis zur U6-Station Neue Donau und wieder zurück. Vier- oder fünfmal, bis sie schließlich in die U6 einsteigen und wieder zu Lara fahren. Weil es irgendwie schon wieder spät geworden ist. Jedenfalls spät genug, um sich noch mit einer Tasse heißen Tee einen Film anzusehen und auf den Sonntag zu warten.

Schweigend liegen sie nebeneinander, ohne etwas anderes wahrzunehmen. Mit geschlossenen Augen und einander streichelnd. Lara genießt es, Leylas Hand auf ihrer Brust zu spüren. Zu spüren, wie die Hand abwärts wandert, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Sie zieht Leyla heftig an sich, küsst sie.

Ob es Liebe ist? Das bleibt abzuwarten, es hat doch gerade erst angefangen.

Celal hat die beiden an diesem Tag vorbeigehen gesehen, Hand in Hand. Ob ihn dieses Bild überrascht hat? Nicht sonderlich, über die Jahre hat er viel gesehen. Und seine Einstellung war schon immer sehr liberal. Ob ihm die beiden zusammen gefallen haben? Ja, wenn auch aus ästhetischen Gründen, nicht aufgrund sexueller Phantasien. Solche Bilder reizen ihn nicht mehr in dem Ausmaß, wie sie es in seiner Jugend getan haben. Er muss vor allem an Aphrodite denken, über die er als Junge sehr viel gelesen hat, weil sie ihm von allen Göttinnen die liebste war.

Cornelia Hell

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16024