Bamboo

Was hat die Schlacht bei Mogersdorf mit Bambus zu tun, könnte man fragen. So direkt gesehen – eigentlich nichts. Und doch – ich werde versuchen, ob ich nicht doch eine gewisse Chronologie in die ganze Sache bringen kann.

Man schrieb das Jahr, nicht 1664, nein, sondern 2008, als ein lieber Freund auf Drängen seiner geliebten Gattin, der besten Ehefrau von allen (dieser Begriff dürfte von Ephraim Kishon rechtlich geschützt sein, aber mein Freund verwendete ihn trotzdem, es könnte doch durchaus sein, dass es mehrere beste Ehefrauen von allen gab) sich dazu überreden ließ, einen Tagesausflug nach St. Gotthard, genauer gesagt nach Szentgotthárd in Ungarn, einer Kleinstadt mit etwa 9000 Einwohnern, nahe dem burgenländischen Mogersdorf zu unternehmen.
Der liebe gute Freund willigte also ein, und so fuhren die beiden in diesen für sie bis dato völlig unbekannten Ort, dessen Geschichte überdies äußerst bemerkenswert ist. Warum? Nun, weil in dieser Gegend eine der berühmtesten Schlachten zwischen Orient und Okzident ausgetragen worden ist, nämlich die Schlacht bei Szentgotthárd, die nach individueller neuerer Geschichtsschreibung eigentlich stets die Schlacht bei Mogersdorf genannt wurde. Und dieses Mogersdorf liegt nun einmal im heutigen Burgenland.

Warum jedoch diese Uneinigkeit wegen einer Schlacht, könnte man nun wiederum fragen? Das kommt daher, weil 1664 offensichtlich Mogersdorf der Mittelpunkt dieses Gemetzels zwischen Muselmanen und Christen gewesen sein soll. Irgendwann hat man dann den Ort der Schlacht von ursprünglich Szentgotthárd Mogersdorf zugeschrieben, um dort ungestört eine eigene Gedenkstätte errichten zu können, so wie es bei uns ja auch nichts Besonderes ist, dass manche Bundesländer sogar ihren Schutzheiligen auswechseln, wenn sie seiner überdrüssig geworden sind.

Außerhalb Österreichs ist die Auseinandersetzung von 1664 immer noch als Schlacht von St. Gotthard bekannt, was den Eindruck verstärkt, dass der Erinnerung an sie, vor allem im Burgenland, vermehrt identitätsstiftende Wirkung zukommen sollte.
Aber darum geht’s eigentlich gar nicht in dieser Geschichte. Es geht vielmehr darum, dass mein lieber Freund und dessen Gattin nach Besichtigung des Ortes und dessen ebensoberühmter und schönster Barockkirche Ungarns, die wegen ihrer hervorragenden Akustik ein idealer Platz für Orgelkonzerte ist, unter anderem auch eine Gärtnerei entdeckt hatten.

Nachdem sie die zahlreichen Pflänzchen und Bäumchen und Sträuchlein gebührend bewundert hatten, wurden sie im hintersten Winkel des Glashauses eines Stöckchens mit: jö, ein Bambus!, genau, eines Bambus‘, in der Größenordnung eines Bonsai gewahr, aus dem drei, vier blassgrüne Hälmchen in etwas trockener Erde ihr trauriges Dasein in einem winzigen Tongeschirr fristeten.
Diesen am Fensterbrett in der Stadtwohnung zu hegen und zu pflegen durfte nicht viel Arbeit in Anspruch nehmen, überlegten die beiden und kauften das arme Ding für ein paar Forint, in der Absicht, ihm daheim ein besseres Leben als hier bieten zu wollen. So weit, so gut.

Wäre da nicht auch noch das Wochenendhaus meiner lieben Freunde gewesen, mit einem wunderschönen wilden Garten und einer ebenso wilden Terrasse, von wo aus man die ganze Wildheit seiner Natur von einem wackeligen Kaffeetischchen aus gut überblicken konnte. So weit, so gut.
Der Bonsai durfte sozusagen vom Schoß der Hausherrin aus also gleich einmal diesen Blick ausreichend genießen, sobald man hier angekommen war und den obligaten Kaffee genommen hatte. Wer von den beiden hätte gedacht, dass das der Moment einer folgenschweren Entscheidung war? Ob man das arme Ding, die Rede war vom Bonsai, nicht am oberen Ende des Gartens einfach in die Erde setzen wolle, vielleicht erholte er sich dort oben schneller, und wenn aus ihm ein richtiger Bambus geworden war, könne man ihn ja immer noch in einen größeren Topf umsetzen und dann mit in die Stadt nehmen.

Gesagt getan. Der Bonsai kriegte einen Ehrenplatz inmitten von Flieder und Pfingstrosen, zwischen Trauerweide und Apfelbaum. Was wollte er mehr? Aber er wollte mehr. Schon nach einem knappen Jahr hatte er mindestens zwanzig süße kleine grüne Triebe rund um sich verteilt geboren und mein lieber guter Freund und dessen teuerste Gattin hatten ihre große Freude an dem vermehrungsfreudigen Gesträuch. Und da er demnach in der Genesungsphase war, einer Art Pflanzenrehab, ließ man ihn in Ruhe und ihn und seinen Trieben selbständig überlassen.

Ein weiteres Jahr verging. Mein lieber Freund hatte beim wöchentlichen Rasenmähen zwar bereits bemerkt, dass er rund um den Bonsai so manch einen seiner triebhaften Auswüchse mitmähte und sich herzlich wenig darum gekümmert, wie viele neue Triebe dabei gewesen waren. Doch langsam wurde er stutzig, als er diese zu zählen begann und auf die Zahl fünfundsechzig kam. Er überlegte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
Also sagte er zur besten Ehefrau von allen, du Hasi, ich glaub, man muss unseren kleinen Bambus da oben ein wenig in die Schranken weisen, denn der glaubt, dass ihm der Garten hier allein gehört.
Mach nur, sagte die Hasi, und daraufhin begann mein lieber guter Freund, einen im Radius etwa zwei Meter großen Kreis um den Bambus zu mähen.
So, sagte er zufrieden, als er sein Werk betrachtete, und von nun an bist du hier eingezäunt und hast dich nicht über die Demarkationslinie zu bewegen. Was er aber nicht wusste, war, dass sich der Bonsai herzlich ins Wurzelchen lachte und dachte, mein lieber Guter, du kannst mich mal, denn ich wachse dorthin, wohin es mir passt, und damit Schluss!

Wieder war ein Jahr vergangen. Der störrische Bonsai hatte die gedachte und sinnvoll gemähte Linie bereits zum hundertsten Mal übertreten und mein lieber guter Freund kam gar nicht mehr nach, dessen ausufernde Triebe abzumähen und umzuschneiden.
So, aber irgendwann reicht’s, hatte er zu seiner Hasi gesagt, nämlich jetzt! Was meinst du? Der Kerl schert sich einen Dreck um die Grenzen, die ich ihm gesetzt habe. Und das bedeutet Krieg!
Naja, wenn du meinst, antwortete die beste Ehefrau von allen, tu halt was, aber tu ihm nix!

Und mein lieber Freund tat etwas. Also holte er Krampen und Spitzhacke und begann, einen dieser Triebe bis hin zum Wurzelstock auszugraben. Unglaublich, aber er legte eine sieben Meter lange und fingerdicke Wurzel frei, die sich wie ein Tentakel, gleich einer Riesenkrake, ziemlich knapp unter der Rasenoberfläche dahingeschlängelt hatte und am Ende mit ihrem borstigen Pinsel hämisch „sprießend“ aus dem Rasen ragte.
Das ist ein Rhizom, hatte ihn der Nachbar belehrt und argwöhnisch über den Zaun geblickt.
Mein lieber guter Freund hatte damals nicht verstanden, was diesen denn sein Bonsai anginge. Aber er kriegte bald heraus, warum jener so skeptisch auf das Unkraut geäugt hatte, dann nämlich, als er bemerkte, wie munter sich Bonsais Triebchen frech unter dem Zaun hindurchgegraben hatten und sich in Nachbars Garten an der warmen Frühlingssonne erfreuten.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war meinem lieben guten Freund klar geworden, man musste Schluss machen mit seinem Kommando! Schluss machen, wiederholte er, wie Captain Willard in Apokalypse Now, mit dem Kommando des im Dschungel von Vietnam verrückt gewordenen Colonels Walter E. Kurtz.
Mein lieber guter Freund fasste also den offiziellen Entschluss, den abtrünnigen Bonsai zu liquidieren. Dieser hatte sich von der guten Absicht, ihm optisch das Leben zu verschönen, völlig distanziert und ließ sich nun nicht mehr kontrollieren. Im Dschungel des im Gartenkrieg bisher neutralen Nachbarlandes hatte er sich ein eigenes „Reich“ aus desertierten Rhizomen aufgebaut, über das er nun vereinnahmend und gebieterisch herrschte.

An Ausgraben und in einem Blumentopf mit in die Stadt nehmen war von jetzt an nicht mehr zu denken. Es gab nur eine Lösung, vorerst einen Graben drumherum anlegen und die Auswüchse dort abfangen, wo sie aus dem Boden schossen. Das war Plan A. Sobald die Fangarme diesen überragen würden, konnte man sie bequem kappen, dachte mein lieber guter Freund.
Plan B sah vor, alle Triebe, die über die gegrabene Rinne wucherten, in Bodenniveau abzuschneiden, und zu warten, bis sich neue Triebe bildeten. Dann käme Agent Orange zum Einsatz, oder noch besser – Napalm! Nein, dann also irgendein Pflanzenvernichtungsmittel, ehe es noch verboten würde. Im Schuppen würde sich so etwas ja wohl finden lassen, dachte er. Auch würde er die neuen Triebe außerhalb des Grabens mit dem Spaten durchtrennen und die kleineren Wurzelstöcke zerteilen.

Aber zuvor musste man alle sternförmig ausgehenden Triebe im Boden ausgraben. Keine leichte Arbeit. Mein lieber guter Freund grub und grub und zerrte und zog und fluchte, bis ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht rann. Ich krieg dich, keuchte er dabei völlig außer Atem, und wenn du dich bis in den Nachbarort vermehrst. Ich mach dir den Garaus! Ich werde dich an den Wurzeln packen und dich ausreißen, du Aas, schrie er vor Zorn und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur noch die Augen fehlten, um sie zu einem tierischen Monster werden zu lassen, vermutete.
Da! Und da! Ich werd’s dir geben! Und nimm diesen! Und ich geb dir den Rest! Dieses Spiel trieb er so lange, bis er atemlos zusammenbrach.

Völlig erschöpft fand ihn die beste Ehefrau von allen nach Stunden auf dem Rücken liegend und nach Luft japsend im oberen Teil des Gartens. Wasser, stöhnte er, indem er den Kopf geschwächt ein wenig hob, um ihn danach wie leblos ins Gras sinken zu lassen. Die beste Ehefrau von allen wusste zunächst nicht, was sie tun sollte. Wasser, oder gleich die Ambulanz holen. Sie entschied sich für die Ambulanz. Zwanzig Minuten später war das Tatütata des Notarztwagens zu hören. Die Wagenbesatzung stürmte den Garten hinauf und erreichte in Sekundenschnelle das bewusstlose Opfer.
Der Sanitätsarzt kniete nieder, fühlte den Puls, legte das Blutdruckgerät an und hieß den Sanitäter, eine Kanüle in die Vene des linken Unterarms zu setzen. Flugs hing eine Infusionsflasche dran, als gleichzeitig auch schon das Knattern des Rettungshubschraubers zu hören war.

Der Helikopter kreiste zunächst unschlüssig über dem Hause und suchte nach einem geeigneten Landeplatz, wie ein großer Vogel, der nach seiner Beute Ausschau hielt. Die Beute sollte mein lieber guter Freund sein, der im Koma lag. Schließlich setzte er sich behutsam wie eine Krähe auf die benachbarte Wiese. Die Besatzung wartete auf weitere Befehle des Rettungskommandos.
Doch da erhob sich der Arzt schwerfällig aus seiner Hocke, winkte hinüber und rief dem Piloten zu, zu spät! Es ist zu spät. Da ist nichts zu machen, sagte er resignierend und entfernte die diversen Instrumente, um sie bedächtig wieder in seiner Tasche zu verstauen. Er zog die Kanüle aus dem Arm meines Freundes und reichte sie seiner Gattin, sie möge sie entsorgen und fügte ein leises „mein Beileid“ dran. Die beste Ehefrau von allen heulte und rang die Hände. Sie stürzte über ihren toten Gatten und küsste seine heißen Wangen. Die Umstehenden wichen betroffen zurück.

Nein! Also so geht das wirklich nicht. Nein nein! Zurück! Alles zurück! Noch einmal. Das Ganze von vorn. Wo kommen wir denn da hin, bei so einem Ende? Wie soll denn das weitergehen? Jetzt aber: … und hieb mit dem Krampen wie besessen auf die Stellen im Boden ein, unter denen er weitere Verzweigungen seiner krakenarmähnlichen Fangarme mit diesen widerlichen Büscheln an ihren Enden, an denen nur Augen fehlten … und so weiter. Aber da kam ihm plötzlich eine Idee. Er ließ das Werkzeug fallen und eilte zum Haus hinunter, um zu telefonieren.

Monate vergingen. Mein lieber guter Freund und dessen Gattin, die beste Ehefrau von allen, lagen, sonnenbeschienen, behaglich in ihren Luxusteakholzliegestühlen in ihrem Garten, von denen aus sie bequem all die putzigen Pandabären beobachten konnten, die sich in den Ästen der alten Apfel- und Kirschbäume vergnügten. Manch einer von ihnen kletterte gar die hohe Trauerweide hinauf, deren Äste oft schon brüchig geworden waren. Aus schlanken Gläsern schlürften meine beiden Freunde kühle Drinks über lange Strohhalme.
Ab und zu kletterte einer der Bären herunter und labte sich an den sattgrünen Blättern des üppigen Bambuswaldes, der mittlerweile mehr als die Hälfte des Grundstückes für sich vereinnahmt hatte. In Fünfminutenabständen kamen Besucher, warfen Zwei-Euro-Münzen in einen dafür vorgesehen Karton und bestaunten dieses außergewöhnliche Schauspiel, um, nach Ablauf der Betrachtungsfrist, anderen Zaungästen Platz zu machen, denn so groß war der Garten nun wiederum auch nicht. Mein lieber guter Freund und seine Gattin lächelten sich gelangweilt an, nickten sich gegenseitig wohlwollend zu und genossen ihr neues unternehmerisches Dasein in vollen Zügen, wie jeder, der die Situation beurteilen wollte, unschwer festzustellen vermochte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 16076




Kusch

Endlich ein warmer Tag! Nach einem halben Jahr Winter sehnen sich Körper und Seele nach der Sonne wie die Blumen nach dem Wasser. Da ist mein Rad. Mein italienisches Rennrad. Nicht unbedingt das neueste Modell. Muss ja nicht unbedingt sein. Den Winter über in der Garage gestanden. Von Spinnweben überzogen befreie ich es erstmal davon. Ich fahre immer wieder dieselbe Strecke. Egal. Ich werde nicht müde dabei. Im Gegenteil. Ich kenne jetzt beinahe jeden Maulwurfshügel, der den Radweg säumt. Ok, die neuen unter ihnen natürlich nicht. Aber immerhin jedes Schlagloch. Die Reifen meines Bikes sind sehr schmal. Jeder größere Stein könnte die Felge beschädigen. Man muss höllisch aufpassen, damit das nicht passiert.

Unglaublich, wie viele Grüns die Landschaft zu bieten hat. Dort vorne ist ein Rapsfeld. Das ist gelb. Und wie gelb! Der süße Geruch steigt in die Nase. Über mir fiept ein Falke. Hat wohl ein Mäuschen ausgemacht im Acker. Arme Maus. Jetzt bist du dran! Ich aber schon auch, gell. Denn da vorne ist ein Gartentor offen und auf der Rasenfläche steht ein – ein Dobermann. Nein, ein Rottweiler, dessen Hinterteil mir zugewandt ist. Ich höre kurz zu treten auf. Die Zahnräder meines Rades surren munter weiter. Ob er das hört? Was tu ich, wenn der herausrennt? Ich habe eine kurze Hose an. Die nackten Waden drängen sich förmlich auf, hineinzubeißen. Gleich bin ich vorüber. Bis jetzt hat er sich nicht umgedreht. Er bemerkt mich gar nicht, der Unhold, der nachlässige. Ich würde ihm heute das Futter verweigern. Was für eine Dienstauffassung! Uff! Vorbei. Das ist nochmal gutgegangen. Jetzt aber Gas und nichts wie weg. Unmöglich, dass er mich noch einholen könnte. Ich erwäge einen anderen Rückweg zu nehmen.

Mein Freund hatte einen Berner Sennenhund, der auf den Namen Panz   n i c h t   hörte. Ein hochsensibles Tier. Immer dann, wenn er das Mopedgeräusch des Postlers vernahm, raste er durch den Garten den Zaun entlang und setzte jedes Mal mit einem kühnen Sprung über denselben, sobald der Mann daran vorbeifuhr. Naturgemäß hatte er den armen Kerl dann an der Hose. Irgendwann hat der Briefträger das Handtuch geworfen und gekündigt, habe ich erfahren.

Nun, mit etwas Feingefühl könnten Hundebesitzer die zahlreichen Differenzen um ihr Getier vermeiden, denn schließlich haben Spaziergänger, Jogger oder Radfahrer ein Recht,  die Natur genießen zu können und auf einen gesicherten Auslauf, ohne sich gleich in die Hose machen zu müssen, wenn so ein unberechenbares Monstrum wütend bellend mit aufgerissenem Maul auf sie zu kommt. Man darf also erwarten, dass Hundebesitzer ihre Bestien an die Leine nehmen, oder zumindest für geschlossene Pforten in ihren Refugien sorgen. Was soll man denn schließlich in so einem Fall selbst tun? Man sucht in der Regel nach Hilfe. Nur woher soll die kommen? Von einem hohen Baum vielleicht? Den zu ersteigen sind manch freilaufende Naturliebhaber körperlich oft nicht mehr imstande. Und woher soll man wissen, ob das Luder gefährlich ist oder bloß neugierig oder gar nur spielen will?

Die ganz G’scheiten sagen, man muss die Warnsignale „dös Türes“ beobachten. Ob es die Nackenhaare aufstellt etwa. Ob das Biest knurrt oder die Lefzen hochzieht. Wird es steif und bewegt sich vorerst ganz langsam, dann ist normalerweise Gefahr im Verzug. Wedeln wäre gut, dann is’ es friedlich. Aber die gaaanz G’scheiten meinen, das is‘ nix, es kann wedeln wie es will und schnappt dann trotzdem zu, das Sauviech. Also was jetzt? Wie sollst du dich da richtig verhalten, frag ich mich? So tun, als ob das Untier gar nicht da wäre? Eh, versuch das mal bei einem achtzig Kilo Rüden. Der zeigt dir schon, dass er da ist, darauf kannst du Gift nehmen. Andere raten, langsam weitergehen, so ganz normal. Und bloß nicht ansprechen. Stehenbleiben schon gar nicht. Und auf keinen Fall anfassen! Also das wär ganz falsch. Davonlaufen tät ich auch nicht. Das nährt bloß den Jagdtrieb. Und den wollen wir sicher nicht wecken, wenn wir schon wie Beute aussehen.

Da vorne ist ein Bauernhof, man riecht es. Die haben dreißig Kühe im Stall und die Tür ist offen. Davor ist eine Mistlacke, so schwarz wie das Wasser in einem schottischen Hochmoor. Im Dartmoor angekommen, will sich der verzweifelte Henry erschießen. Er kann jedoch von Sherlock Holmes und John davon abgehalten werden. Holmes erklärt diesem, dass er den Hund zwar gehört, aber nicht gesehen hätte, der seinen Vater getötet hatte. Aber er hätte einen Mann gesehen. Da plötzlich ertönte ein furchtbares tiefes Bellen und eine unheimlich aussehende riesige Bestie mit tigerartigen Zähnen im weit aufgerissenen Maul kommt auf sie zu. Sherlock bemerkt, dass nicht der Zucker im Kaffee die Wahnvorstellungen ausgelöst hat, sondern der Nebel rund um sie herum. Aber Dr. Watson ist auf der Hut. Er und Kommissar Lestrade erschießen die Bestie, die in Wirklichkeit nur der Hund von Gary und Billy war, den die beiden freigelassen hatten, da sie es nicht übers Herz gebracht hätten, ihn einschläfern zu lassen. So, oder so ähnlich ging die Geschichte wohl.

Verdammt, jetzt bin ich doch auf einen größeren Stein aufgefahren, in Gedanken wie ich war, ohne auf den Weg zu achten. Meine arme Felge!, denke ich und steige kurz ab, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Aber sie ist nicht verbogen, Gott sei Dank. Dann also weiter, den Hügel dort hinauf und die Bundesstraße entlang, parallel am Radweg.

Wenn ich diesen Weg zurückfahre, ist das Tor hoffentlich geschlossen, leide ich vor mich hin. Hund an der Leine, fällt mit ein, macht den Raufer in ihm erst so richtig stark. Der ist aber nicht an der Leine. Also finde ich mich gedanklich mit geschlossenem Tor ab. Sind jedoch zwei solcher Brownies und Blackies und Waldis und wie sie alle heißen in eine Beißerei verwickelt, sollte man sich lieber nicht einmischen und dazwischengehen. Blöd würde ich sein, denke ich. Eventuell dann, vielleicht, wenn einer eindeutig der Schwächere ist. Den muss man retten. So ein Schmarren! Was gehen mich die Hunde an! Ich habe schon genug mit meinem inneren Schweinehund zu tun. Die Chance, dass man dabei gebissen wird, ist relativ gut. Wer das will, na bitte! Wenn die im Blutrausch nicht Freund vom Feind unterscheiden können, selber schuld, sage ich.

Da! Da vorne ist mein Wendeplatz. Genug für heute. Zehn Kilometer, macht zwanzig hin und retour. Reicht fürs Kreislauftraining, finde ich, bleibe kurz stehen und nehme einen Schluck aus der Wasserflasche. Strecken ist wichtig danach, ich bin schon ganz verbogen wegen des Rennlenkers. Ja, Sport ist Mord! Ich wende und trete wieder voll rein. Vor meinem geistigen Auge steht der braune Rottweiler. Rostbraun, denke ich. Wieso ist der rostbraun? Ich kenne nur schwarze. Aber noch bin ich ja nicht da. Dort drüber stehen zwei Rehe. Is’ ja süß. Jetzt bemerke ich, ein Junges ist auch dabei. Entzückend! Sie sehen zu mir rüber. Hi! Ich hebe den Arm und winke. Scheint sie nicht im Geringsten zu berühren. Ich habe nicht erwartet, dass eines von ihnen den Huf hebt. Trotzdem.

Wieder beim Kuhstall vorbei. Jetzt sind es nur noch ein paar Minuten, dann passiere ich den mysteriösen Garten mit seinem nachlässigen Wächter. Ich gehe nochmals die Regeln durch. Den Kläffer also nicht ansehen. Normal weiterfahren. Nur dann langsamer werden, wenn das Ungeheuer bellt oder sich anschickt, hinterher zu jagen. Ruhig mit ihm sprechen. Ich dachte, nicht anreden? Was jetzt? Vielleicht ein Kommando loslassen, so wie „geh Platz“ oder „aus“! Oder mit der Hand nach unten weisen und ihn kurz und streng anschauen. Ich muss lachen. Grade, wenn der mich am Wadel hat, werd’ ich „Platz“ rufen. Eh klar. Ich ziehe den Mund zu einem breiten Grinsen. Der wird sich einen Dreck um meine Kommandos scheren, so sieht’s aus, weil der mitnichten auf sein Herrl hört, wenn’s ihn juckt, das kenn ich schon. Auf gar keinen Fall mit den Armen herumfuchteln. Hände am Rücken oder in die Taschen. Schwachsinn, geht gar nicht, sonst flieg ich vom Rad.

Mit ausreichendem Abstand nicht allzu schnell vorbeifahren, überlege ich mir. Damit ich den Hund nicht erschrecke. Genau! Ich lache wieder, diesmal laut. Wer da wen erschreckt, möchte ich wissen! Eventuell klingeln. Wieso? Ich dachte, kein Geräusch verursachen? Was mir so alles einfällt in der Angst, ich muss mich doch sehr wundern. Außerdem hab ich gar keine Klingel, jedes noch so kleine Gewicht wäre zu viel für so ein schnelles Rad, habe ich beschlossen. Am besten etwas bremsen. Bloß nicht. Mit genügend Tempo kriegt er mich vielleicht nicht, oder? Der Hund ist in jedem Fall schneller, höre ich immer. Stehen bleiben und auf der anderen Seite vom Rad in Deckung gehen. Rad ist also zwischen mir und dem Bastard, wenn sich kein Besitzer zeigt. Aber der ist nicht deppert, der riecht den Braten und rennt hinten herum, schneller als ich wenden kann, und dann bin ich’s!

Als kleiner Junge war ich mit dem Vater einmal um Zement im Bauhof. Wir hatten eine Schiebtruhe mit, ich war beim Vater eingehängt, am Rockzipfel sozusagen, denn dort lief ein semmelblonder Schäferhund herum mit schwarzen Flecken, und es war bekannt, dass der Kinder nicht mochte. Warum sollte er also gerade mich mögen? Also musste es kommen, wie es kam. Wir hatten schon aufgeladen und schoben die Karre eben zum Tor hinaus, da wetzt der Köter gerade auf mich zu und beißt mich in den Oberschenkel. Ich brülle aus Leibeskräften (völlig falsche Reaktion, heute weiß ich es), bis der Besitzer gelaufen kommt und ihn an die Leine nimmt. Hätt’ er das nicht schon vorher tun können? Mein Oberschenkel wird rotblau. Ich muss zum Arzt und kriege eine Tetanusspritze. Super!

Die Luderviecher riechen seit damals schon von weitem, dass ich ordentlich Spundus hab vor ihnen und nützen das alle weidlich aus, mir Angst zu machen. Heute noch, als Erwachsenem! Schönes Trauma hab ich mir da zusammengeträumt! In einem klugen Hundebuch habe ich einmal gelesen, besser auf den Besitzer warten, wenn’s brenzlig wird, das ist witzig! Und jetzt wird’s langsam brenzlig. Hinter der nächsten Kurve liegt schon der verflixte Garten mit dem überdimensionalen Rollmops darin. Ich werde mich auf kurze Kommandos festlegen, wenn er rauskommt. „Steh!“ Oder „geh in Oasch!“, grinse ich. Nein, das sagt man nicht, würde mich meine Gattin ermahnen.
Diesmal ist mir das Lachen im Halse stecken geblieben, denn ich kann   i  h  n  bereits auf der kurz geschorenen Rasenfläche erkennen. Er steht noch genauso da wie vorhin, fällt mir auf. Seine Lieblingsstellung nehm ich mal an. Wie der wohl von vorne aussieht? Grauenhafte Visage mit rasiermesserscharfen gefletschten Zähnen. Speichel trieft aus seinem entsetzlichen Maul.

Vater hat immer gesagt, stets vorher fragen, wenn man einen Hund streicheln will. Wer will ihn streicheln, zum Geier? Wenn kein Besitzer zu sehen ist, ganz einfach nicht hingehen. Tu ich sicher nicht, das Gegenteil ist der Fall. Wenn schon, dann erst die Hand beschnüffeln lassen. Zack, hat er dich schon! Wie ich mir das so vorstelle! Und dann erst streicheln, aber nicht fest anfassen. So bled (sic!) werd ich sein! Ich gehöre zu den ängstlichen Kindern, also muss ich lernen, ruhig zu sein und darf nicht quietschen. Wie, davor oder nachdem er mich gebissen hat? Und hinter den Eltern verstecken geht gar nicht, das ist unfair, sagt der Moppel, komm sofort hinter Mamas Kittel hervor, das gilt nicht! Wie soll ich dich denn dort schnappen, nicht? Noch schlimmer ist es, wenn die zu zweit oder zu dritt sind. Dann stacheln sie sich gegenseitig an, den vermeintlichen Gegner fertigzumachen. Aber man muss es listig anstellen, den Auslöser für ihr instinktives Jagverhalten ausschalten, und das heißt: nicht laufen, nicht schreien, stehen bleiben und ganz ruhig sein. Rad fahren schon gar nicht! Das Ruhigsein müsste ich vorerst einmal üben. Vielleicht mit Hinfallen und den Hals mit angewinkelten Armen schützen.

Oh Gott! Mir wird übel. Es kann jetzt nicht mehr weit sein, bis zum offenen Gartentor. Die Superg’scheiten sagen auch, es wäre äußerst selten, dass scharfe Hunde Menschen so ganz wahllos angreifen. Wahllos? Der da wählt sicher aus, und zwar mich! Weiß meiner da vorne das auch, dass er selten beißen soll, frag ich mich? Vielleicht hat er schon lange nicht gebissen und will an mir bloß üben? Egal, denn dann habe ich ohnehin nur zwei Möglichkeiten, entweder es kommt wer, der ihn wegholt, oder ich kann abhauen. Fifty-fifty. Wegfahren in diesem Fall, versteht sich. Ich übe also schon mal Blick abwenden und Arme entspannt am Lenker liegen lassen. Sollte ihn das kalt lassen, dann eben ein „Kusch“ oder so ähnlich. Ich kann nur hoffen, dass er deutschsprachig abgerichtet wurde, und nicht serbokroatisch. Da müsste ich passen. Wenn er zupackt, dann jedenfalls „nein!“, aber überdeutlich.

Dann geht noch – möglichst Distanz schaffen. Ich trete also wie irre in die Pedale. Is’ er noch immer da, vielleicht besser ablenken. Ich könnte ja meine Trinkflasche wegwerfen und rufen, „hol das Stöckchen, blödes Vieh!“ Nein? Wenn nicht, dann eben nicht. Bleibt nur noch, Arme hochwerfen und Hals schützen. Wie bereits erwähnt, endet so etwas am Rad meist mit einem Mordsstern. Ich glaube, mich an jener Stelle an etwas Schotter auf der Fahrbahn zu erinnern. Wie auch immer. Jedoch keine Abwehrbewegungen, das reizt den Mordgesellen in ihm. Also ruhig reinbeißen lassen, bis das Blut warm die Waden hinuntersudelt. Beiß nur, lass dir’s schmecken, heut Abend gibt’s dann nichts mehr, klar? Sich wehren, ihn auf die Nase treten oder so sollte man besser sein lassen, diese Fiffis spüren im Kampf keine Schmerzen, so bei der Sache sind die.
Na, und dann sollte man auch nicht deren Kraft unterschätzen und das, was sie da vorne im Maul haben, ist nicht unbedingt eine Prothese. Eine Laufleine im Garten wäre schon eine nützliche Sache, überlege ich. Aber was soll’s, wenn er keine hat. Und der hier hat mit Sicherheit keine. Klar findet der es klasse, wenn ich da vor seinem Bewegungsmelder vorbeiwetze. Hat ja sonst nichts zu tun, die Töle, als den ganzen Tag auf die Straße starren. Fad ist das, versteh ich eh. Aber wie kommt unsereins dazu, für ihn den Pausenclown abzugeben? Soll sich ein Gummientlein aus seinem Körbchen holen, das quietscht auch, wenn er es zwickt. Aber nein, es geht ihm ja ums Hinterherrennen, klar. Das hält fit. Stehenbleiben gilt als sicherste Methode für den Nichtangriffspakt.

Dadurch mache ich mich für ihn völlig uninteressant, oder? Der will ja, dass ich abhau, wo bliebe denn sonst die Erfolgsquote? Wenn ich stehen bleib, fällt er um diese um, dann muss er sich fragen, wozu er überhaupt noch gut ist. Kriegt womöglich die Krise und muss zum Hundepsychologen. Kann ich das verantworten? Nein, was wäre ich denn für ein Ekel. Aber wenn ich stehen bleib, dann denkt er womöglich, ich will was von ihm. Und dann geht das ganze Theater von neuem los. Dann wacht der Wächter des Hauses in ihm auf. Na na na na, stehengeblieben wird nicht!, beschließe ich. Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich werde ihn ganz einfach ignorieren. Genau! Ich sehe ihn nicht an, nehme ihn nicht wahr, schaue an ihm vorbei und zähle die Schäfchenwolken am Himmel so lange, bis ich an ihm vorüber bin.

Laut Statistik sind es die Männer, die immer gebissen werden, weil sie ihr eigener Ehrgeiz plagt, diesem Hundehund zu entgegnen. Das geht meist an die Hose. Frauen seien im Übrigen viel diplomatischer, heißt es. Die gehen da einfach ruhig vorbei und haben es nicht notwendig, ihren Mut, den sie gar nicht haben, unter Beweis zu stellen. Wir Männer, wir lassen uns da viel zu sehr emotionalisieren, nehmen alles persönlich, schreien das Tier an, beschimpfen es und so. Ich kann das gut verstehen. Schließlich bin ich ja einer von ihnen.
Ich könnte natürlich auch körperliche Präsenz vor dem Tier zeigen, mich vor ihm aufbauen und wichtigmachen, wie die Eingeborenen ihren Kindern in der Kalahari beibringen, sich mit zwei Holzstücken an den Kopf gehalten, größer zu machen als sie sind, um so Hyänen zu vertreiben. Die fallen auf den Schmäh rein, gewiss. Der Rotti da lacht sich einen Ast, wenn ich das mach. Aber – bloß mit dem Körper imponieren – der Haken dabei ist, ich wiege kaum achtundsechzig Kilo und in der Landschaft bin ich ein Strich. Das wäre also keine so gute Idee. Vor so einem wie mir hat   d  e  r    da  sicher keinen Respekt.

So, jetzt aber wird es wirklich ernst, da vorne. Schon sehe ich das offene Tor. Also gut, du willst es ja nicht anders, denke ich. Gleich, gleich bin am Tor. Ja, jetzt. Dort hinterm Busch die Bestie. Steht ganz ruhig da. Der Doggy muss mich doch schon riechen können? Ich fahre ruhiger, passiere das Tor. Bin daran vorbei. Jetzt hab ich schon einen kleinen Vorsprung. Ich schiele im Augenwinkel auf sein Hinterteil. Steht immer noch so da wie vorhin. Starrt der die ganze Zeit über die Mauer an? Aber gleich, gleich wird er herausgaloppieren. Ich überlege schon mal ein Schimpfwort. Nein, besser dieses „Platz“ oder „Aus“ oder „Verschwind“!
Aber der Wauwau kommt nicht. Ein ganz Gerissener! Der will, dass ich mich in Sicherheit wiege und dann… Ich schwitze wie ein Firmling. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn, die Wangen, an der Nase vorbei direkt in den Mund. Ich schmecke Salziges. Mein Herz rast. Soll ich mich umdrehen? Merkt er das? Nimmt er das als Herausforderung für eine Attacke an? Nimmt er mir das übel? Ich wende also meinen Kopf rasch nach hinten. Dort steht das Luder. Regungslos. Wieso? Ich versteh nicht. Langsamer. Ich werde langsamer und bleibe vorsichtig stehen, Pedal nach oben, bereit sofort loszutreten. Mein „bester Freund“, mein vierbeiniger, steht dort am Rasen und rührt sich nicht. Eigenartige Farbe hat er, denke ich. Irgendwie… das ist… das gibt’s nicht! Irgendwie rostig. Ich werd verrückt!    N e i n !    Eine Attrappe! Der ist aus Metall! Der Hundsfott ist reine Deko! Ich halt’s nicht aus!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16064




Der Streik

Es war ein Tag wie der andere. Dr. Erich Perner und der Redakteur Carl Hofbauer saßen bei Kaffee und Zeitung im Bräunerhof. Beide schienen sehr vertieft in ihre Blätter. Ab und zu hob einer den Kopf, um zufrieden in die Runde zu schauen, um vertrauten Gästen einen wohlwollenden Blick zuzuwerfen oder um eben nur ein paar Worte miteinander zu plaudern. Ober Franz war seine obligate politische Ansprache längst, unmittelbar bei deren Ankunft, losgeworden. Jetzt spähte er umsichtig im Lokal umher, immer darauf bedacht, etwaigen Wünschen seiner Gäste sofort nachzukommen. Gemessenen Schrittes, versteht sich, denn nichts war ihm so zuwider wie ein hudelnder Kellner.

„Ach ja“, seufzte Erich, „denen fällt auch nichts Neues ein“, und hoffte insgeheim, dass sein Gegenüber wenigstens nachfragen würde, was gemeint sei. Carl jedoch las unbeirrt in seiner „Tagespost“ weiter. Ein Geiger hatte neben der bildhübschen Pianistin Aufstellung genommen, breitete seine Noten am Pult aus, stimmte kurz und gab den Auftakt zu einem bezaubernden, dezent intonierten Operetten-Potpourri. Ja – Alt-Wien war eben Alt-Wien. Was sollte es denn sonst sein?
Die Musik vermittelte eine Stimmung wie in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Lediglich die Kleidung der Gäste und die der Musiker wären nicht ganz zeitgemäß gewesen. Schließlich dauerte die mangelnde Gesprächsbereitschaft seines Gegenübers offensichtlich auch Carl zu lange. „Was sagst du, Erich?“, fragte er so, als hätte er Erichs Worte nicht verstanden. Erich sah von seiner Zeitung auf. „Lateinamerikanische Komödien, mein ich.“ „Versteh nicht!“ Jetzt nahm sich Erich mehr Zeit. „Ich sagte, die jährlich spielplanmäßigen Operettenrevolutionen, Carl, und ihre ständigen Revolten gegen Diktatoren und die bewaffneten Konflikte werden mittlerweile bagatellisiert, findest du nicht?“

Carl dachte kurz nach „Weiß nicht“, brummte er. „Die Amerikaner mischen sich kaum mehr ein“, stellte Erich fest, beinahe enttäuscht, „da ist doch was faul dran. Castro hat vor zwanzig Jahren versucht, die US-Zuckerbarone zu enteignen. So einen Spuk hat man damals mit dreihundert Mann Infanterie bereinigt, aber wenn sich die Amerikaner heutzutage aufmucken trauen, stehen die Russen sofort Gewehr bei Fuß und Washington zieht den Schwanz ein. Blöd werden sie sein, sich in die kubanische Innenpolitik einzumischen, oder sich gar zwischen Nicaragua oder die Dominikanische Republik zu stellen, was?“
Aber Carl hatte nur Augen für die entzückende Pianistin und schien sich für Erichs Darstellung der Weltpolitik kaum zu interessieren. „Sie hat rehbraune Augen!“, raunte er Erich zu. Dieser richtete seinen Blick nach oben, verzog seine Mundwinkel, und nach einigem Kopfschütteln meinte er: „Siehst du dich auch hin und wieder in den Spiegel, Mann? Die ist zwanzig – höchstens!“ „Ekelhaft nüchterner Mensch! Schauen wird man ja wohl noch dürfen?“, protestierte Carl.
„Seit Castros Machtübernahme herrscht in Kuba nur mehr das Chaos“, begann Erich ein zweites Mal. „Kannst du das nicht mit dem Herrn Franz besprechen“, seufzte Carl selig und himmelte die Pianistin an. „Der Geiger ist virtuos, wirklich, aber sie…“, schwärmte er, und wandte sich nun doch Erich zu, um genauer nachzufragen. „Noch einmal, bitte! Was ist da unten los?“, fragte er Erich. „Ich sagte, auf Kuba herrscht das Chaos, total! Ein Haufen Arbeitslose, verwahrloste Plantagen, radikale Straßenszenarien – die berühmten Sozialrevolutionen – alles bloß Romantik! Der Castro bereitet, ohne es zu wissen, den Boden für die Kommunisten vor, und wenn die Amis nicht aufpassen mit ihrer Lateinamerika-Politik, wird die Volksdemokratie vor ihren Toren demnächst Wirklichkeit, würd ich sagen.“ Carl hatte sein Kinn auf eine Hand gestützt. „Ja, eh“, meinte er abwesend. „diese Fingerl! Dieses G’sichterl! Einfach süß.“

Tags darauf im Pressehaus in der Bankgasse. Aufgeregt erklärte Redakteur Willi Schiedl den Kollegen, wie man strategisch vorgehen wolle, und zwar nicht um jeden Preis ein neues Presserecht zu erkämpfen, sondern eines, das auf echter Demokratisierung bestehen sollte, proklamierte er eindrucksvoll im Plenum der Journalistengewerkschafter, was ihm auch einigen Applaus einbrachte. „Was wir brauchen“, rief er, „ist eine dringende Imageänderung, verehrte Anwesende! Es kann nicht sein, dass wir Presseleute von der Politik als potenzielle Staatsfeinde behandelt werden! Immerhin stellen wir in unserer unabhängigen Meinungsbildung eine ganz wesentliche Institution der Demokratie dar, vergessen wir das nicht! Und was uns der Minister vorgeschlagen hat, ist eine gewisse Selbstkontrolleinrichtung der Presse, die wir in Form eines Presserates verwirklichen sollten. Dazu gibt es mittlerweile ja bereits eine konstruktive Verhandlungsgrundlage. Es ist ein Komitee nominiert worden, welches heute wieder einmal mit den Herausgebern verhandeln soll. Wie man uns überdies mitgeteilt hat, ist die kommunistische Fraktion ziemlich sauer darüber, dass sie keine Vertretung hat und weder im Verband, noch im Presserat eine haben wird. Dazu möchte ich eigentlich nicht mehr sagen als das, denn das Problem spricht für sich selber!

Und nun, verehrte Kollegen, darf ich Sie ersuchen, mir in den oberen Sitzungsraum zu folgen, wo in Kürze die Verhandlungen beginnen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!“ Als der Applaus geendet hatte, strömte die träge Masse der Teilnehmer langsam hinauf in den dritten Stock, wo bereits ein Buffet hergerichtet worden war. Zuerst wurden kleine Brötchen gereicht, dazu gab es diverse Säfte, aber auch leichte alkoholische Getränke. Für die Pause stand Gulaschsuppe in großen Behältern auf Warmhalteplatten bereit.

Eine elektrische Klingel ertönte, erst einmal, dann noch einmal und schließlich ein drittes Mal. Die Doppeltüren zum Saal wurden geöffnet und die Journalisten eingelassen. Als jeder einen Sitzplatz gefunden hatte, nahmen die Verleger Kommerzialrat Grünewald, Diplomingenieur Weigelt, Dr. Straubinger und Fritz Faustmann auf der linken Seite des langen Tisches vor ihnen Platz, Willi Schiedl von der „Kleinen Österreichischen“, Peter Bauer vom „Tagblatt“ und Georg Winkler von der „Tagespresse“ auf der rechten Seite.
Es wurde langsam ruhig im Saal. Manfred Weigelt verlas die Tagesordnung und ging auf die Punkte ein, die man nun gemeinsam näher besprechen wollte. Willi Schiedl sollte die Standpunkte der Journalisten darlegen und durfte als erster Redner näher auf die Wünsche der Gewerkschafter eingehen.
Der nächste Sprecher war Fritz Faustmann vom Herausgeberverband. Beide Seiten tasteten vorsichtig ihre Positionen ab. Es kristallisierte sich jedoch bald heraus, dass die Herausgeber lediglich über Standesfragen und Urheberrechte diskutieren und von den Forderungen, etwa seitens der Journalistengewerkschaft nach höheren Löhnen, offensichtlich nichts wissen wollten. Die Journalistenseite reagierte verbittert und wollte die Herausgeber zu Verhandlungen darüber zwingen.

„Wir lassen uns nicht erpressen, meine Herren!“, rief Faustmann plötzlich, „Ihre Forderungen werden langsam aber sicher unverschämter denn je!“, und Grünewald, Weigelt und Straubinger riefen: „Nicht mit uns, meine Herren! Mit uns nicht!“ „Wir haben Ihnen längst signalisiert, dass diesbezüglich von Verhandlungen nie die Rede gewesen ist, das haben Sie wohl vergessen, wie?“, schrie Kommerzialrat Grünewald in den Saal und der sichtlich nervöse Dr. Straubinger fügte ein wenig gedämpfter hinzu: „Und wir weigern uns, solche auch nur in irgendeiner Form aufzunehmen, damit wir uns gleich verstehen!“
Aber auf Gewerkschaftsseite wollte man nicht verstehen. Kurzum, die Sitzung wurde abrupt beendet. Beide Seiten verließen beleidigt den Saal. Im Parterre scharten sich die Gremien um ihre Standesvertreter und diskutierten heftig, was nun zu tun sei. „Die glauben doch nicht, dass wir uns das so gefallen lassen!“, rief Peter Bauer vom „Tagblatt“ zornig. „Das muss endlich eine Aktion zur Folge haben, die sie nicht so schnell vergessen werden, Herrschaften!“, forderte Willi und die Kollegen gaben ihm sofort Recht. „Mit keinem Wort ist über die Vordienstzeiten gesprochen worden, das war doch ausgemacht, oder?“, fragte Georg Winkler. „Ausgemacht war gar nichts. Ich habe ja gar nicht mit ihnen vorher sprechen können, weil sie sich im Präsidialzimmer verbarrikadiert haben“, antwortete Willi und machte eine abfällige Handbewegung. „Was heißt hier Vordienstzeiten? Da wäre noch einiges auf den Tisch zu bringen gewesen!“, warf ein anderer ein, „die Neuberechnung der Grundgehälter zum Beispiel, oder, was ist jetzt mit der Erhöhung der Ausgleichszulage? Das ist mit keinem Wort bis jetzt auch nur erwähnt worden!“

„Genau!“, und „So eine Schweinerei!“, riefen einige. Vor den Türen gingen Saalordner auf und ab. Hochgradig nervös reagierten sie auf jedes lautere Wort, das hier unten gesprochen wurde und insgeheim wünschten sie, alle schon längst wieder draußen zu haben. Doch die Sektionsleiter benutzten die Gelegenheit der Anwesenheit aller, hier sofort ein Streikkomitee zu gründen, dem Journalisten aller Wiener Tageszeitungen angehören sollten. Und wenn es tatsächlich zu einem Streik kommen sollte, musste er von allen unterstützt werden, das war klar. Sogar die Sektion der Grafiker hatte sich solidarisch erklärt.

Am folgenden Tag versammelten sich die Gewerkschafter neuerlich in der Bankgasse. Diesmal wurden heiklere Punkte mit den Herausgebern angesprochen und – auch teilweise verhandelt. „Na also“, flüsterte Dr. Perner Carl Hofbauer zu, beide hatten in der letzten Reihe des Sitzungssaales Platz genommen, „es geht ja langsam!“
Und auch Kommerzialrat Grünewald atmete erleichtert auf, dass man sich ein wenig nähergekommen war und man seine Positionen trotzdem nicht völlig aus den Augen verloren hatte. Es war zwar nicht alles Wonne und Heiterkeit, doch niemand dachte heute mehr an Streik. Es kam also zur Abstimmung, in welcher der Herausgeberverband den verhandelten Punkten zustimmen sollte. Da neigte Grünewald seinen hochroten Kopf Faustmann zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Im Saal wurde es unruhig, denn die Journalisten hatten den Eindruck, als wollte Grünewald die Sache absichtlich verzögern. „Was ist jetzt? Macht endlich!“, raunte Willi Peter Bauer zu und spürte, wie seine Hände unbewusst die Aktenmappe umklammert hielten. Plötzlich stand Faustmann auf und sagte: „Meine Herren! Wir Herausgeber sind uns in einigen Punkten noch nicht so ganz einig. Wir ersuchen Sie daher, in unser aller Interesse, uns noch etwas Zeit zu geben, um in diesen Punkten noch beraten zu dürfen. Wir danken Ihnen!“, nahm seine Mitschriften unter den Arm, stand auf, mit ihm auch Grünewald, Straubinger und Weigelt, woraufhin die vier ganz einfach den Saal verließen.

Zurück blieb eine vorerst schweigende Menge völlig überrumpelter Journalisten. Dann brach eine Welle der Empörung los. „Die Herrschaften halten uns wohl für komplette Idioten!“, schrie Bauer in die Menge. „Es reicht! Das ist das Zeichen für den Ausstand!“, brüllte Winkler und hob die geballte Faust in die Höhe. Es mochte eine Weile gedauert haben, bis man sein eigenes Wort wieder verstehen konnte. Willi Schiedl, der dazwischen kurz den Saal verlassen hatte, war zurückgekommen und versuchte, beide Arme hocherhoben, die Ruhe wiederherzustellen, was auch gelingen sollte. „Verehrte Kollegen“, rief er außer Atem, „Man versucht, von ungenannter Seite, hier eine Verzögerung eines etwaigen Streiks zu erreichen! Ich kann euch jetzt nicht sagen, von wem ich das erfahren habe. Tatsache ist …“ „Was soll denn das heißen? Wir sind die Gewerkschaft, zum Donnerwetter, und wir werden selber entscheiden, ob gestreikt wird oder nicht! Ich möchte wissen, wer sich da einmischen will!“, empörte sich Peter Bauer lautstark. Alle stimmten ihm zu.

Willi Schiedl geriet zunehmend in Bedrängnis. Hofbauer, Karner, Perner und Gruber von der „Kleinen Österreichischen“ bemerkten, in welch bedenkliche Situation sich ihr Willi da gebracht hatte. „Also, das war nicht sehr g’scheit von ihm“, sagte Carl besorgt zu Erich. „Warte, ich versteh nichts!“, unterbrach ihn dieser. Aber Willi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wartete ab, bis sich die Aufregung gelegt hatte. „Also gut“, sagte er schließlich, „der Faustmann hat mir im Vertrauen gesagt, nicht als Herausgebervertreter, möchte er betonen, quasi als Vermittler, unter Ehrenkodex ….“ „Die wollen uns ja nur mundtot machen, wann begreifst du das endlich?“, rief ein Vertreter der Sektion Drucker und Papier zornig. „Jetzt wart einmal, Kollege“, bat Willi ganz ruhig, „es – sie wollen darüber noch einmal intern darüber beraten, versteht ihr? Danach wird man uns informieren, wie sie sich endgültig entscheiden werden.“ „Na prima! Es bleibt also alles so, wie es war, oder täusche ich mich da?“, war zu hören und, „Wenn jetzt nicht bald was passiert, trete ich aus.“

Nun schien der Karren endgültig verfahren. Carl Hofbauer war inzwischen nach vorne gelaufen und nahm Willi an der Schulter. „Hör zu, machst du jetzt gemeinsame Sache mit dem Grünewald oder mit der Sektion? Pass auf, dass dir nicht die Felle davonschwimmen, mein Lieber! Sieh dich um, die mögen dich!“, fügte er grantig hinzu. „Aber was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Willi verzweifelt. „Streiken, du Narr! Worauf warten wir denn noch? Beschissen haben sie uns oft genug! Geht das bei dir da oben endlich hinein?“, reagierte Carl zornig und tippte mit seinem Zeigefinger auf Willis Stirn. Willi fuhr empört zurück. Die Umstehenden lachten. „Jetzt sei auch noch ein bisserl angerührt, du Mimose!“, schimpfte Carl, „tu was! Wozu hast du dich aufstellen lassen?“ Willi hatte verstanden. Wenn er jetzt nicht reagierte, wäre das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hatte, für immer verspielt.

Punkt zwölf legten alle Tageszeitungen die journalistische Arbeit nieder und verhinderten damit die Freitagsausgabe. Alle, bis auf eine Tiroler und eine Vorarlberger Zeitung, die sich rasch Hilfskräfte geholt hatten, um ihre Ausgabe trotz allem zu bringen. Ansonsten hielt man sich überall hundertprozentig an die Streikparole. Erstaunlich war auch, dass die Herausgeber erst gar nicht versuchten, die Angestellten zur Produktion zu zwingen. Auch die APA stand hinter der Gewerkschaft. „Nun gilt es, die Nachrichten an die Fernschreiber zu unterbinden!“, riet Carl Hofbauer umsichtig, „damit uns nicht ein paar Vorzugsschüler in den Rücken fallen! Ich kenne jemanden in der Agentur!“, sagte er verschmitzt und hob seine Brauen vielversprechend. Erich, der ihn genau beobachtet hatte, lachte höhnisch: „Da steckt doch ein Weib dahinter, gib’s zu! Wenn wir dich nicht so gut kennen würden. Wenn das die Erni erfährt, gibt’s was mit der Teigwalze!“

Trotz der ernsten Lage waren die Umstehenden leicht zu einem Lachen zu bewegen. Carl rannte die Treppen der Redaktion hinunter und hielt ein Taxi an. „Austria Presseagentur, aber rasch!“, rief er dem Fahrer zu. Dort angekommen, musste er erst mühsam den Portier davon überzeugen, dass er selbst Journalist und in einer dringenden Mission unterwegs sei. „Zur Frau Hahn will ich, hören Sie!“, sagte Carl. „Moment, na hallo hallo, bleiben S’ da, ich muss erst anrufen!“, hielt ihn der übereifrige Portier am Mantel fest. „Ach was, lassen S’ mich in Ruhe, Sie Wachter, Sie verkappter! Wir sind ja hier nicht beim Militär!“, schubste ihn Hofbauer zur Seite und lief zum Lift. „Bleiben Sie stehen!“, rief ihm der aufgeregte Portier nach, „Stehen bleiben, sag ich!“
Da fuhr Carl bereits in den fünften Stock hoch, rannte um die Ecke, schnurstracks zum Büro von Frau Hahn. „Herein!“, hörte er eine forsche Stimme und stand schon im Zimmer der Redakteurin Elfriede Hahn. „Ah da schau her, der Herr Hofbauer! Dass du dich wieder einmal anschauen lässt! Was ist? Ist jemand hinter dir her?“, fragte Frau Hahn lachend und schüttelte ihm die Hand. „Dieser Beamtenstaat ist irgendwann mein Ende, Elfi!“, keuchte Carl und küsste sie sanft auf die Wange. „Jetzt setz dich erst einmal hin, du bist ja völlig devastiert! Da schau, das Hemd hängt dir auch heraus, Carli, Carli! Du wirst langsam alt!“, stellte sie lächelnd fest. „Na ja, wenn man so einen Scheißberuf hat!“, antwortete Carl, noch immer außer Atem. „Aber, hör zu, euer Telefon…“
„Was ist damit?“, fragte sie. „Das müssen wir verhindern, ich mein, dass von hier aus telefoniert wird. Es gehen immer noch Nachrichten hinaus in die Redaktionen. Wo ist denn hier bei euch die zentrale Telefonzelle im Haus?“ „Unten, im ersten Stock.“ „Kann man die nicht – du weißt schon?“ „Könnte man schon. Aber den Schlüssel hat der Sekanina in Verwahrung. Den müsste ich erst organisieren“, lachte sie, „und ich bin mir ganz sicher, dass er ihn freiwillig nicht herausrückt!“ „Dann bitte organisiere, ja? Tu’s für den Verband, für die Kollegen, aber tu es, ich flehe dich an!“, bat Carl inständig. „Also gut, für die Allgemeinheit. Warte hier!“

Die Hahn stand auf und eilte hinüber ins Chefbüro. „Herr Doktor, wir haben ein Problem!“, sagte sie zum Abteilungsleiter. „Nun? Was gibt’s, liebe Frau Kollegin?“ „Wie Sie wissen, befinden sich sämtliche Zeitungen für unbestimmte Zeit im Ausstand. Ich brauche Sie ja nicht darauf hinweisen, dass sich die APA längst angeschlossen hat.“ „Nun ja, ich habe zugestimmt, wenn auch mit Vorbehalt“, sagte Doktor Sekanina zögernd. „Über unsere Telefonleitung werden aber immer noch Meldungen an die Redaktionen durchgegeben. Der Gewerkschaftsabgesandte ersucht, dies für die Dauer des Streiks zu unterbinden. Ich möchte Sie höflich ersuchen, im Namen aller selbstverständlich, dass das für die Dauer des Streiks so veranlasst wird!“
„Wie Sie sich das vorstellen, verehrte Frau Hahn. Wir sind nicht in allen Angelegenheiten eine geschlossene Gesellschaft, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ „Wir brauchen den Schlüssel für die Telefonzelle, Herr Doktor.“

Sekanina wand sich wie ein Wurm, begann herumzudrucksen und suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. Frau Hahn wusste, dass sich der Schlüssel wie immer an seinem Platz an Sekaninas Schlüsselbrett befand und hatte ihn längst schon im Visier. Ein Schritt, ein Griff – und der Schlüssel verschwand in ihrem Ausschnitt. „Das … das … also ich muss schon sehr, bitten, Frau Kollegin! So geht das nicht! Also wirklich! Glauben Sie nicht, dass das keine Folgen haben wird für Sie!“, rief Dr. Sekanina völlig aufgebracht. „Doch, das glaube ich, und – vielen Dank, Herr Doktor!“, sprach’s, und war auch schon draußen auf dem Flur.

Sie eilte über eine Nebenstiege hinauf in ihr Büro, wo Hofbauer sie schon ungeduldig erwartete. „Was ist?“, rief er ganz aufgeregt, „hast du ihn?“ Frau Hahn sah ihn spöttisch an und sagte: „Nerven haben wir keine mehr, Herr Redakteur, was?“, und lachte. „Natürlich hab ich ihn, und jede Menge Ärger auch, damit du’s nur weißt. Das wird Folgen haben für Sie!“, äffte sie Sekanina nach und verdrehte die Augen. „Aha! Na, Hauptsache, es kann nicht telefoniert werden“, atmete Carl erleichtert auf. Da läutete ihr Telefon. Sie hob ab, hielt die Muschel mit der Hand zu und flüsterte: „Der Sekanina, psst! Ja, Herr Doktor? Ich weiß Herr Doktor – aber besondere Umstände machen das erforderlich – auch dass man mich fristlos entlassen kann – ja Herr Doktor – bin mir völlig im Klaren darüber. Guten Tag, Herr Doktor!“

Sie legte auf und setzte sich erst einmal. „Zigarette?“, fragte sie Carl. „Ich doch nicht, danke! Höchsten eine Zigarre.“ „Da bist du falsch bei mir“, sagte sie und lehnte sich in ihrem Sessel zurück, tat sehr entspannt und rauchte in vollen Zügen. Nach einer kurzen Nachdenkpause sagte sie plötzlich: „Ich weiß nicht, ob das klug war, was wir da gemacht haben? Carl, wir müssen den Fernschreiber lahmlegen, sonst hilft das alles nichts!“ „Meinst du? Und wie?“, fragte Carl. „Komm mit, ich brauche einen starken Mann!“ „Und der steht hier vor dir!“, gab er sich selbstbewusst.

Die Hahn kicherte. Auf dem Weg ins Parterre überredete sie einen ortskundigen Mitarbeiter, ihnen bei der Umsetzung ihres Planes zu helfen. Dieser führte sie zur Anschlussstelle des zentralen Postkabels. „So, da ist es!“, sagte Herr Bauer. „Na, alsdann, worauf warten Sie?“, fragte Frau Hahn ungeduldig. „Sie haben leicht reden. Haben Sie so etwas schon einmal herausgezogen?“, fragte Bauer.
Carl musterte das dicke Kabel mit einigem Respekt. „Dann wollen wir einmal“, sagte Bauer. Zu dritt packten sie den ungemein großen Stecker und zogen und rüttelten mit aller Kraft, bis er endlich aus der Dose heraußen war. „Kinder, ich bin total erledigt!“, stöhnte Carl und hielt sich den schmerzenden Rücken.
„Carli! So kenn ich dich ja gar nicht!“, lachte Hahn schadenfroh, „erst mimst du den starken Mann, und jetzt?“
Herr Bauer schmunzelte, hielt sich jedoch dezent im Hintergrund. „Also, dann -Operation beendet!“, triumphierte Frau Hahn. Bauer sperrte die Türe wieder ab. „Elfi, ich muss weiter. Es war mir ein Volksfest. Wir hören voneinander, gell? Wiedersehen Herr Bauer, und – vielen Dank auch!“, verabschiedete sich Carl und küsste die Hahn kurz auf die Wange.
„Bitte, bitte, es war mir ein Vergnügen, Herr Redakteur“, rief sie ihm nach, da hatte Carl bereits die Türe Richtung Ausgang hinter sich zufallen lassen. Elfriede Hahn schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. „Herr Bauer, Sie schauen so nachdenklich aus! Ist irgendwas?“, fragte sie. „Also, das, was wir hier angestellt haben – ich würd sagen, erfüllt einige Tatbestände des Strafgesetzes.“ „Gehn S’, machen Sie sich keine Sorgen. Man wird uns schon nicht den Kopf abreißen. Und überhaupt, es weiß doch keiner, oder wissen Sie etwas?“ „Da haben Sie auch wieder Recht. Na dann, schönen Tag noch!“, sagte Bauer und ging zum Lift.

Am Haupteingang eilte Hofbauer am Portier vorbei. „Ha! Jetzt hab ich Sie! Legitimieren Sie sich! Glauben S’, ein jeder kann da bei uns ein- und ausgehen wie er will, lieber Herr?“, fuhr ihn der Portier an. Carl eilte an ihm vorbei. „Ja, Sie mich auch!“, schleuderte er ihm entgegen und war schon auf dem Trottoir. „Unverschämtheit!“, rief der Portier erbost. Carl lief so schnell er konnte zur nächsten Telefonzelle, um Erich in der Redaktion anzurufen.
„Hallo? Ja! Auftrag ausgeführt! Mehr noch, wir haben den Fernschreiber liquidiert – ja, genau! Jetzt geht nix mehr, glaub mir. Was sagst du? – wer? – der Präsident? Der soll nur bitten, ha ha ha! Mit dem Grünewald setzen wir uns so schnell nicht mehr zusammen, das versprech ich dir. Ich werde den Willi schon weichmachen! Wie? Das is’ mir wurscht, ob er an einem länger dauernden Streik nicht interessiert ist, verstehst du? Der Streik dauert, so lange er eben muss, basta!“, schrie Carl atemlos ins Telefon, „und die Herren von der Bundesregierung werden so lange warten, bis wir unsere Forderungen durchgebracht haben, so schaut’s aus! Und dann werden wir ja sehen, wer hier am längeren Ast sitzt, nicht wahr?“

Am nächsten Tag lag ein Schreiben des ÖGB-Präsidenten an alle Redaktionen vor mit dem Ersuchen, die noch offenen Wünsche mit der Herausgebervertretung so rasch wie möglich zu verhandeln. Die Herausgeber würden sich verpflichten, einen für die Journalisten befriedigenden Abschluss anzustreben, hieß es darin wörtlich. Zähneknirschend musste Carl Hofbauer die Entscheidung Willi Schiedls zur Kenntnis nehmen, als dieser der Beendigung des Streiks am nächsten Tag, zwölf Uhr, zugestimmt hatte.
Immerhin konnten die Journalisten mehrfach mit dem Ergebnis der neuen Verhandlungen zufrieden sein, denn sie hatten eine Erhöhung der Mindest- und Ist-Gehälter erreicht und auch einige materielle Forderungen durchsetzen können. Alles in allem wog der ideelle Erfolg, den die Aktion nach sich gezogen hatte, schwerer, als man je zu hoffen gewagt hatte. Für existenzielle Anliegen auf die Barrikaden gehen zu können, und dies nicht bloß für ein paar Stunden, sondern für die Dauer eines Produktionstages und länger – das war schon was!

Norbert Johannes Prenner
Auszug aus dem Zeitroman „Das ungeteilte Vertrauen“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16048




Danach

Völlig erschöpft haben wir uns jeder auf seine Seite plumpsen lassen. Ich betrachte dich lange. Du atmest noch schwer. Wie viele Jahre sind schon vergangen, die wir uns geliebt haben? Du sagst nichts. Liegst nur still da. Wie immer. Alles ist, wie immer. Und ich? Jetzt soll ich mich mit der Erinnerung an die Vergangenheit begnügen und muss feststellen, dass sie mir zusehends entgleitet. An die Zukunft will ich erst gar nicht denken. Wir sind beide älter geworden. Ziemlich älter. Nebeneinander sozusagen. Und man kann nichts dagegen tun, als zusehen. Ohnmächtig zusehen. Du sagst immer, denk an das Jetzt.

Alles andere kommt von allein. Aber wie viel Gegenwart braucht man eigentlich? Ich habe bisher ausschließlich von der Vergangenheit gezehrt. Du doch auch? Ich betrachte die Dellen auf deiner Haut, deinen Beinen, deinem nackten Bauch. Mein Gott, wo ist das alles hin? Die Jugend? Die Anmut und Grazie? So sagt man doch? Und ich? Trockene Haut. In Falten. Bleich und fahl. Die Haut über den Knien wird runzelig. Ebenso an den Ellenbogen. Wo sind meine Haare geblieben? Und von den Ringen unter den Augen reden wir beide schon gar nicht. Du bewegst dich nicht.
Aber ich liege da, starre an die Decke und die Gedanken beginnen zu kreisen. Meine Hand liegt auf deiner Hüfte. Schläfst du? Bald werden wir uns bloß noch um das Private kümmern müssen. Was bedeutet schon unser Leben jenseits des Privaten? Irgendein Insekt fliegt da herum. Soll heißen, niemand braucht uns mehr.
Indirekt bedeutet es, abhängig sein. Von der Politik, dass sie die Pensionen nicht verramscht. Von der Medizin meinetwegen, der klassenhaften, dass sie uns wieder hinkriegt, wenn was kaputt geht. Aber was ist das schon gegen jene Abhängigkeiten, denen man nicht zu entkommen vermag? Den Ängsten? Der inneren Verelendung? Da hilft dir kein Schwein.

Ich habe kein Vergnügen an der Gegenwart, ganz einfach, weil ich sie nicht bestimmen kann. Ja, mit der Vergangenheit ist das was ganz anderes. Sie ist mir eher dienlich, ist knetbar, dehnbar, interpretierbarer als die Gegenwart. Ich kann sie in eine bestimmte Richtung erscheinen lassen. Die Gegenwart, ach, die ist eben gegenwärtig. Viel zu realistisch. Unbrauchbar für einen Träumer wie mich. Die Vergangenheit ist mir Vehikel, ist das Transportmittel meiner persönlichen Eindrücke geworden, Tendenzen meiner Umwelt erkennen zu können. Jetzt drehst du dich um.
Hast du schon geschlafen? Aber du lächelst ja. Komm, spiel mir nichts vor! Die Gegenwart kann noch nichts dazu sagen. Sie ist einfach nur da – und –auch gleich wieder weg. Und immer so fort. Aber die Vergangenheit? Begehbar – ja, mein Treppenhaus ist sie mir, die Vergangenheit, mit ihren dunklen Winkeln, ihren Freuden, ihren Leiden, aber doch – immerhin – vertraut. Ich kenne sie, wie meine eigene Westentasche.
Das kann ich von der Gegenwart nicht behaupten. Die ist ja permanent neu. Du atmest jetzt ruhiger. Deine Augen sind geschlossen. Ich decke dich sanft zu. Schläfst du jetzt? Du sagst gar nichts. Ich werde auch versuchen zu schlafen. Im Schlaf vergesse ich auf mich. Bin nicht mehr so wichtig. So angestrengt bemüht, alles auf die Reihe zu kriegen.

Ich sehe zur Decke. Liege so da und starre an die Decke. Dort ist ein dunkler Fleck. Schon lange. Den kenne ich gut. Hat die Form eines, ich weiß nicht, jedes Mal anders. Vielleicht einer Fledermaus? Ach! Man sollte schon einiges ausbessern. Aber, naja, hat Zeit. Was auf mich lauert, ist das Unbekannte, das Gefährliche, Unberechenbare. Es liegt in der Zukunft, im Heute vielleicht schon? Im Morgen? Was wird sein? Vielleicht ist alles gar nicht so furchtbar, wie ich es mir vorstelle? Wer weiß? Jetzt atmest du regelmäßig. Ja, du bist eingeschlafen. Ich weiß es. Ich kenne dich ja lange genug. Ich kenne alles an dir. Du bist Teil von mir geworden. Wir sind eins. Auch in Gedanken.

Bei dir ist alles immer so einfach. Du bist viel mehr du selbst. Bist du selbst. Lebst deine Natur. Ich beuge mich vorsichtig über dein Gesicht und küsse dich sanft. Aber ich? Tief in meinem Innersten, der Brutstätte meiner Zwistigkeiten und Widersprüche kämpfen die unsinnigsten Mächte zwischen dem Hang zur Nüchternheit, dem Profanen und der Besessenheit, denen ich ausgeliefert bin auf Gedeih und Verderb. Für das Übersinnliche? Für den Mythos? Für das Rituelle? Ich habe es mir immer schon schwer gemacht. Andere suchen nach Hülsen, in die sie ihre traurige Wirklichkeit verpacken und darin kaschieren. Das bring ich nicht fertig. Mir sieht man sofort an, dass ich leide. Ich kann nichts verbergen. Vielleicht leide ich bloß am Neid, andere hätten mehr Glück als ich?

Und dann ist da das Wetter. Natürlich! Dem kann ich leicht die Schuld für meine eigenen Unzulänglichkeiten in die feuchten Schuhe schieben. An der Alpennordseite so wie im Norden – am Morgen, genau!, das ist jetzt – können, und auch im Osten – das sind wir hier – noch leichte Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen das Leistungsniveau herabsetzen.
Na bitte! Von irgendwoher müssen meine Kopfschmerzen ja kommen. Schwach wirksame Bioreize. Bei mir sind sie immer stark. Und gereizt bin ich auch immer! Da lieg ich einfach untätig herum und starre an die Decke. Und du schläfst seelenruhig, weißt nicht, was in mir vorgeht.
Der Zwang zu allgemein gültigen Wahrheiten und deren Vermittlung sowie die Anstrengungen, sich gegen einseitige Ratschläge mittelbarer Erkenntnisse wehren zu müssen, setzen mir immer häufiger zu. Daraus analog auf ein sich in Wirklichkeit Darstellendes zu schließen, in dem ich womöglich als klinischer Fall gehandelt werden könnte, verursacht mir Unbehagen. Es ist eine Fliege, die da herumschwirrt. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, meinen derzeitigen Zustand noch komplizierter zu beschreiben.
Und du kannst so unbekümmert vor dich hindösen, während es in mir kocht und gärt. Du jammerst ja auch, dass du das Leben im Hamsterrad der Bürokratie nicht mehr erträgst. Tagaus tagein dieselben blöden Fragen beantworten. Das Gesumse von diesem Tier geht ziemlich auf die Nerven! Täglich die gleichen Auskünfte geben. Irgendwann muss Schluss sein damit. Verlogene Politik redet uns ein, wir hielten das locker bis fünfundsechzig aus. Statistisch gesehen hätten wir dann noch fünfundzwanzig Jahre Ruhegenuss. Schöner Genuss! Ich bin so aufgekratzt und es ist ungerecht, dass du einschlafen kannst und ich nicht. Das sollte kein Vorwurf sein, mein Liebes. Aber du hast es ohnehin nicht gehört. Mein Gott, so nimm mich mit, ins Traumland!

Während ich meine Arme über meiner Brust verschränke, denke ich, ich belüge mich gerne damit, dass dieses Leben jenseits der Pensionsberechtigung doch noch nicht zu Ende ist und träume davon, dass es vielleicht eine zweite, ja eine dritte Karriere für mich gibt. Spinn nicht, sagst du dann immer zu mir. Sei froh, dass du noch aufrecht gehen kannst, allein. Dass du manchmal auch so hart sein kannst!

Meine Gedanken überfliegen die Annoncen eines fiktiven über der Steppdecke aufgeblätterten Karriere-Standards, den ich gleich wieder sinken lasse. In meiner Vorstellung falle ich schon bei der ersten Fragestellung des Einstellungsgespräches durch. Keine Ahnung, welcher Unterschied zwischen präpositionalen Verbartikeln und Präfix-Verben besteht und welcher amerikanische Autor den Roman Independence Day geschrieben hat, ganz zu schweigen davon, was das Goedel’sche Theorem besagt. Irgendwann hab ich davon gehört. Ich muss gähnen. Wann kommt endlich bei mir der Schlaf? Das würde nicht gefragt werden. Und solche Fragen wären der Einstieg. Sollte man mit Leichtigkeit beantworten können. Ja sicher doch.

Was ist nun in den letzten paar Wochen alles geschehen? Mir ist manchmal, als würde ich plötzlich immer wieder aus einem unglaublich langen Traum erwachen, durch den ich meine Kindheit und Jugend noch einmal durchlebt habe, auftauchen, an die Oberfläche des Lebens kommen. Ich sehe mich, ich sehe Bilder, mich mit meinen Schulfreunden herumbalgen, mit ihnen lachen. Ich höre aus dem Wohnzimmer Papas Geigenspiel, ein Motiv, welches er immer und immer wiederholt, bis es irgendwann verklingt. Die Mama, am Herd, wie sie stundenlang kocht, mit dem Gesicht zur Küchenzeile gewandt, sich nicht umsehend. Um mich steht der Kollegenkreis des Herrn Papa, riesige Gestalten, zu denen ich aufblicken muss, in ihre strengen Gesichter sehe, die starr sind, ohne Lächeln, und wie sie ihre Zeigefinger erheben, drohend und mahnend, wie Obelisken ausgestreckt, die in den Himmel zu ragen scheinen. Ein Dechant wird der Tür verwiesen, der mit hochrotem Gesicht davoneilt.
Meine jüngere Schwester, spindeldürr, stürzt eine Treppe hinunter und bleibt am Fuße derselben regungslos liegen. Die Mama, die sich fassungslos über sie beugt, versucht, sie aufzurichten, die Bleiche, Wasserleichenfarbige. Der allmächtige Herr Vater steht hinter ihnen, lacht sogar, mehr ein Grinsen, welches er mit einem seiner ziemlich beleibten Kollegen zu teilen versucht. Bin ich jetzt etwa kurz eingenickt? Ich höre dein leises Atmen. Hin und wieder ist ein Schnarchen dabei. Das willst du nicht hören, wenn ich es dir hinterher erzähle, ich weiß. Blöde Fliege! Aber ist wahr, ich kann es bezeugen. Hätte ich mein Handy hier, würde ich dich aufnehmen.

Über all dem, was ich mir so im Halbschlaf zusammenspinne, schwebt der verstorbene Bruder, den wir nie gesehen haben, von dem es eine blonde Locke gab, die man ihm abgeschnitten hatte, bevor er begraben worden war. Diese Locke lag in der obersten Schublade einer Kommode im Schlafzimmer, nahe bei seiner Taufkerze, Mutters geheimem Altar, ähnlich dem meinen in meinem Kleiderschrank, in dem ich meine Devotionalien aufgestellt habe. Ein altes Weihwassergefäß aus der elterlichen Wohnung, ein Kruzifix von der Großmutter. Die Fotos meiner Eltern. Still kniete sie immer davor und bedeckte ihr Gesicht mit einem Taschentuch.

Meine innere Einsamkeit hat sich einen imaginären Zuhörer erschaffen, den ich um Verständnis gebeten habe, mir die Erinnerungsknäuel entwirren zu helfen, um mich darin nicht noch mehr zu verfangen und gefesselt zu sein, als ich es ohnehin schon bin. Die eigene Haut war nicht imstande, mir noch Schutz zu bieten. Ich habe mich zu sehr selbst geliebt, mehr als andere, die meine Liebe notwendiger gebraucht hätten, und längst meine Zuneigung erbeten haben. Und es sind zwei Fliegen, ich werd verrückt! Und nichts davon habe ich bemerkt. Taub hab ich mich gestellt und mich aufgeführt wie ein kleines Kind, jedes Mal, wenn meine Wiesen um einen Baum beraubt, jedes Mal, wenn Teile jener Landschaft, die meine Erinnerungen am Leben erhalten haben, zuasphaltiert und -betoniert worden sind.
Es hätte Wichtigeres gegeben, sagst du immer. Ich müsste eben alles für schön befinden, das würde das Hässliche schon ersetzen können. Oder alles für gut befinden, um dadurch das Nichtgute zu ersetzen. Dass du immer so klug bist, hättest du jetzt gesagt. Ist nicht von mir, ist von Laotse. Tja. Aber so weit bin ich noch nicht. So weit bin ich noch nicht, dass ich in mir ruhe, ohne zu handeln. Dass ich belehre, ohne zu reden. Dass ich überzeuge, nicht zu besitzen. Irgendwann wollte man sein wie Jack Kerouac. Aber das hat heute keine Bedeutung. Die Vorbilder der Jugend sind verblasst, ebenso wie die Erinnerung daran.

Nach uns kräht kein Hahn mehr!, hat mir ein lieber Freund neulich geflüstert. Du hast gesagt, such dir andere Freunde. Wenn du wieder wach bist, werde ich dich daraufhin ansprechen.

Ich wundere mich immer wieder, worüber Schriftsteller so schreiben. Sind es wirklich die kleinen Aufmerksamkeiten, denen sich der begnadete Dichter widmet, den kleinen, alltäglichen Dingen des Lebens, so wie ich es hier liegend tue, in meiner Krisennotiz? Der Fleck an der Decke ist ein Wasserfleck. Gewiss. Über den täglichen Mord an einem Silberfischchen auf dem WC?

Die kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens! Ich habe nicht gewusst, was an denen so wichtig sein soll? Mir hat man immer eingebläut, dass es um die großen Dinge ginge, um Karriere, um Selbstverwirklichung und solche Sachen. Mir fällt da so ein Kerl ein, der nie bitte und danke sagt. Der auch gesagt hat, man muss aus allem etwas machen, auch wenn es im Grunde nichts ist. Und man muss die anderen glauben machen, dass es etwas ist, sonst haben sie keinen Respekt vor dir. Ich will ganz gegen meine Natur versuchen, das einmal zu verstehen, vom eigentlichen Versuch halte ich besser Abstand.

Wenn es also um die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens geht, dann auch um das Tropfen des Wasserhahnes aus der undichten Leitung im WC. Um den Gestank, der aus dem Auspuff der Dieselautos kommt. Um das Scheppern der Mülleimer, wenn sie von der Müllabfuhr um sechs Uhr morgens abgeholt werden. Dahinter verbergen sich die vielen kleinen Geschichten, die man lebendig erhalten soll? Ich weiß nicht.
Das ist die Aufgabe der Literatur? Jetzt sitzt eine auf meiner Hand, das gibt´s nicht! Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Das habe sogar ich bemerkt. Spektakulär wäre es nicht, was sie da erzählen, sagen manche über die Dichter. Keine hippen Dialoge, kein mitreißender Plot, doch verfüge manch ein Roman über das gewisse „Nichts“. Ein „Ich-Erzähler“ erlebt das Natürlichste auf der Welt, den Arbeitsprozess und – sein Scheitern daran. Beinah wie ich! Was heißt? Das bin ich!
Was auffällt, sei die präzise, unerhört dichte Prosa, die darüber berichtet, wie der arme Kerl im Laufe der Jahre an seinem Ehrgeiz, an seinem Engagement, seinem Idealismus langsam aber sicher zugrunde geht. An sich eine traurige, jedoch völlig alltägliche Geschichte. Schatz, du schnarchst! Niemand möchte meinen, dass so etwas thematisch was hergibt, und immer wieder wären die Leser darüber im höchsten Maße erstaunt, woher der junge Mann die Fähigkeit zur Darstellung dieser außergewöhnlich subjektiven Darstellung der Wirklichkeit nimmt, so jung, wie er ist. Warum werde ich nicht müde?, frag ich mich. Und da ist eines von den Ludern, ich sollte zuschlagen. Aber dann wachst du auf. Ich verscheuche das Biest mit der Hand.

Ganz im Gegenteil, denn voll Tagendrang überlege ich stattdessen, fieberhaft beinah, mein Krisenkonzept zu ergänzen und quasi einen Zusatz anzubringen, ob ich meinen Schuldgefühlen nicht vielleicht noch eins draufsetzen sollte, einen Mord gar?! Thema Nummer eins. Ich stelle mir vor, einen Mord verübt zu haben. Ja, vielleicht einen Mord verübt zu haben, mir anzumaßen, wie schon eben vorhin angedacht, in dem ich, auf dem WC in entspannt sitzender Position, völlig überlegen, rein physisch, dachte ich, einer wehrlosen Kreatur unter mir, einem kleinen Silberfischchen, mit dem rechten Daumenzeh auf einer der weißen Fliesen, auf denen es sich besonders gut vom Hintergrund abhebt, den Garaus gemacht zu haben, und ob ich diesem Umstand hernach literarische Bedeutung beimessen dürfte oder nicht?
Sie schnarcht ja schon wieder! Und ob ich, qualifiziert durch diese ruchlose Tat, diese als alltägliche erkannt zu haben und sie als solche überhaupt erwähnt und literarisch genutzt zu haben, schlicht und einfach bemerkt zu haben, ob ich also von nun an zu jenen sensiblen Menschen gezählt werden dürfte, wie all diese begnadeten Dichter? Das alles verwirrt mich.

Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Wo war ich stehen geblieben? Wenn? Wenn auch nur auf dem Gebiet der Krisenliteratur. Diesen Dichtern, denen die Weltöffentlichkeit daher, wegen ihrer genialen Darstellung solcher Banalitäten, die Fähigkeit zur totalen Innovation, endlich etwas Neues gefunden zu haben, äh, diesen Dichtern ihr Tun und Treiben andauernd und immer wieder so überschwänglich bestätigt würde?
Träum ich schon? Nein, da ist die andere Fliege! Schließlich wäre Innovation dringend vonnöten, in dieser liberalistischen Zeit. Wo ja doch jeder nur an sich selber denkt. Und ob ich eben durch diese Beschreibung des belanglosen Alltäglichen über die Maßen hinaus nun auch zur Kunst des Dichterischen befähigt wäre? Und nicht zuletzt durch das Formen barocker Satzgirlanden bewiesen hätte, so völlig aus dem Bauch heraus und eigenständig imstande zu sein, allerlei wirres Zeug und Spitzbübereien komponieren zu können, was in der Leserschaft gefragt wäre?
Langes Gähnen. Nämlich eigenständige Dichtkunst hervorbringen zu können, die in der Abbildung der Wirklichkeit wie auch in ihrer Darstellung eins zu eins dem entsprächen, was man landläufig so als Literatur bezeichnen könnte? Und die in ihrer Gestalt für den geübten Belletristen auch als solche nachvollziehbar sei und überhaupt? Was ist los?

Jetzt ist aber Schluss! Aufhören, bitte aufhören! Ich will ja schlafen. Bitte liebes Gehirn, lass mich auf der Stelle müde werden. Jetzt und gleich, ich flehe dich an. Nimm dir ein Beispiel an meinem alten Mädchen hier, das so unschuldig vor sich hin schlummert. Gnade! Und nimm mich in deine Arme, lieber Schlaf! Ich hab´s verdient! Das siehst du doch ein?

Norbert Johannes Prenner
(bearbeiteter) Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16046

 




Kapuzinergruft

Paul sank tiefer, immer tiefer in die Polsterung seines Lehnstuhles. Es bereitete ihm große Mühe, die Augen offen zu halten. Die letzte Zigarette hatte zarte Rauchschwaden hinterlassen, die sich feig in Richtung sichtundurchlässiger Gardine, zum halb geöffneten Fenster hin davonmachten, um sich von dort in trägen blauen Windungen den Weg nach draußen zu suchen, wo sie hoffen konnten, Anschluss an die sonntags eingetroffene Westströmung zu finden.

Er las den letzten Absatz der Zeitung immer und immer wieder. Vielleicht machte ihn gerade das so müde. Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Keiner könne eine Messerattacke verhindern! Was für Zeiten! So was hatte es immerhin zu Kaisers Zeiten auch schon gegeben, beruhigte er sich. Schöne Beruhigung! Was für eine Welt, dachte Paul. Die offene Zeitung glitt sanft seine Beine entlang zu Boden.
Als wandelte er wie im Traum seinen gewohnten Weg, die Josefsgasse hinunter, vorbei an dem Haus, wo Oskar Werner gewohnt hatte, an den er sich noch erinnerte, als wäre es gestern und auch an das Gasthaus an der Ecke zur Josefstädterstraße, in dem jener gerne verkehrte, jetzt Restaurant zur „Frommen Helene“. Von dort aus überquerte er die Auerspergstraße, davor der berüchtigte und vor hundert Jahren beliebteste Duellplatz der jungen Herren aus gutem Hause. Duelle gab es hier heutzutage keine mehr, zumindest nicht mit Degen, aber dafür andere, solche mit Autos.

Warum sollte ausgerechnet diese Stadt vielleicht jetzt auch noch Zielscheibe des Terrorismus werden? Pauls Stirne zeigte deutlich Falten. Erst viel später war hier die legendäre Vergnügungsmeile entstanden, eine zwei Kilometer lange Demarkationslinie zwischen Neubau und Josefstadt bildend, zwischen Musik und revolutionärem Geiste. Doch heute – heute donnerte der Verkehr an den ehrwürdigen Palais vorbei und färbte ihre ehemals blendend weißen Kalksteinfassaden grauschwarz. Das vielgerühmte Walzerviertel, in dem einst Strauß und Lanner gewohnt hatten, war mittlerweile alles andere als romantisch, aber – was sollte es, heute war trotzdem ein besonderer Tag, nämlich der Tag des hundertsechsundachtzigsten Geburtstags des Allerhöchsten, der heute gefeiert wurde, posthum quasi, wenn auch nur in kleinem Kreis, und bei weitem nicht so pompös wie damals.

Vom Burggarten her waren Trommeln und Blechmusik zu hören, sie kamen näher und näher, hin in Richtung Kapuzinerkirche am Neuen Markt. Paul schob sich unauffällig unter die Menge, die sich, bunt gemischt, aus Alt und Jung, mit Dirndl und Lederhose oder im T-Shirt, militärbemützt, mit und ohne Regimentsfahne durch die widerspenstige, immer wieder zufallen wollende Kirchentür drängte. Es gab noch freie Plätze. Paul setzte sich in eine Bank nahe dem rechten Seitenaltar. Neben ihm eine ältere Dame mit weißen Handschuhen und Gehstock.

Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Der Satz ließ ihn nicht los. Wer würde solche Menschen wie diese Frau hier und diese Menschen hier wegen ihres Glaubens zu Opfern machen wollen?, dachte Paul. Für wen würden solche Sinnlosigkeiten Sinn machen? Was stand wirklich hinter diesem Wahnsinn, der nun schon seit Jahren beinahe weltweit tobte? Paul sah sich um. Das Altarbild zeigte Jesus Christus, auf einer Wolke schwebend, mit der Linken ein mächtiges Holzkreuz umklammernd. Nie zuvor hatte ihn der Anblick dieses Bildes so sehr berührt wie eben. Die Schar der Begeisterten würde auch immer kleiner, raunte ein Besucher hinter ihm. Vor zwanzig Jahren hätte man hier keinen Platz mehr gekriegt um diese Zeit, meinte ein anderer.
Paul schaltete sein Handy ab und schob es in die Rocktasche. Die meisten der Anwesenden waren nicht besonders festlich gekleidet, und unter die Uniformierten und Trachtenbejoppten hatten sich zahlreiche neugierige Touristen gemischt, mit offenen Blusen, verschwitzt, mit allerlei Souvenirzeug beladen. Draußen – ein warmer Augusttag, wo sich Radfahrer auf Radwegen tummelten, drinnen – angenehme Kühle und leises Geflüster. Autolärm drang herein. Rechts von Paul, am Boden, eine von unten her beleuchtete Öffnung, in Stein eingelassen, die Gruft des Marco d´Aviano. Eine Dame links von ihm blätterte laut raschelnd im schwarz-gelb gehaltenen Festprogramm.
Paul rutschte unruhig auf der harten Holzbank hin und her und suchte nach einer bequemen Sitzposition, was ihm nicht so ganz gelingen wollte. Hinter ihm zischelte man sich alte Geschichten längst vergangener Tage zu, wohl um sich einzustimmen auf die Zeitreise für diese alljährliche Feier. Und ob man schon gehört hätte, es wäre wieder wo eine Bombe hochgegangen. Naja, im Ausland, sagte einer.
Nicht nur anderswo, auch bei uns wäre so ein Anschlag möglich, dachte Paul. Schrecklich der Gedanke! Er war neulich im Wiener Musikverein. Ein herrliches Konzert, aber schon in der Eingangshalle überlegte er, da befinden sich Hunderte Menschen völlig unkontrolliert in einem öffentlichen Gebäude. Wenn sich da ein paar Typen mit Sprengstoffgürteln daruntermischten, konnte Fürchterliches geschehen, und er hatte sich besorgt umgesehen. Ausschau halten, dachte er, nach Personen, die so aussehen wie…

Ein kahlköpfiger Pater in brauner Kutte entzündete bedächtig die mächtigen Kerzen am Hauptaltar. Dann strömten ordenbeladene, mit Umhängen ausgestattete, trotz allem Prunk sehr bürgerlich aussehende Würdenträger den Mittelgang entlang, hin zu den vordersten Reihen, um dort ihre Plätze einzunehmen. Mitglieder des Malteserordens wohl, durchfuhr es Paul. Das is´ ja der Präsident!, raunte jemand hinter ihm, do schau her! Was denn für ein Präsident, überlegte Paul fieberhaft und verrenkte sich beinahe den Hals. Zwölf rosarote Gladiolen zierten den Altarraum, in einer überdimensionalen Bodenvase steckend, links und rechts davon stand Grünes, in lehmgebrannten Töpfen. Ein Militärbemützter sank stöhnend auf die Sitzbank nieder, in der Paul saß, dass alles bebte.
Das Alter, dachte Paul. Wie würde er es erleben? Die Weißbemäntelten der ersten Reihen tuschelten untereinander und steckten die Köpfe zusammen. In schwarzem Tüll erschien eine offensichtliche Nachfahrin des Allerhöchsten, würdigen Schrittes, ganz nach vorne stelzend, sich ihrer Schirmfrauenschaft dieser Feier wohl bewusst und von allen begafft, setzte sie sich in die erste Reihe. Hinter ihr, Uniformierte eines Traditionsregimentes, mit Fahne, vorneweg tragend, ein dicker Hauptfeldwebel mit gezogenem Säbel, linke Hand abgewinkelt, Klinge auf seiner linken Schulter ruhend, Tschako schief am Kopfe sitzend, Gesicht hochrot.

Er selbst wäre zwar ein liberaler Mensch, dachte Paul, aber sollte man nicht jetzt überall Metalldetektoren aufstellen? Oder würde man die Leute damit bloß verunsichern? Noch mehr verunsichern als sie ohnehin schon waren? Dann kämen die mit den Säbeln hier erst gar nicht herein, musste Paul schmunzeln. Man muss sich bewusst werden, welch großartige Freiheiten man eigentlich hatte und dass man bislang relativ sicher gelebt hatte. Aber diese neuen Zeiten brachten einen völlig durcheinander.

Die Uniformierten verteilten sich im Kirchenschiff, sozusagen einzeln abfallend, jeder irgendwo, drei von ihnen etwas enger beisammen als der Rest. Der mit der blanken Klinge schritt bedächtig den Mittelgang entlang und musterte mit prüfendem Blick die Seinen und die Übrigen. Ein Säbel gegen Handgranaten oder Dynamit, dachte Paul. Was tun wohl die geheimen Nachrichtendienste vorausblickend, überlegte er? Ob die alle wirklich effizient zusammenarbeiten würden? So betrachtet wäre neun/elf mit hoher Wahrscheinlichkeit vielleicht zu verhindern gewesen, hatte einmal einer gemeint, die Geheimdienste hatten doch alle Informationen beisammen? Man hätte sie nur richtig zusammensetzen müssen.
Irgendwo fiel eine Münze zu Boden. Es gab ein klirrendes Echo. Vielleicht hatte man das große Ganze nicht gesehen, damals? Abgesehen davon hätte man denken müssen, wer heute dein Freund ist, kann schon morgen dein Feind sein. Ist doch lächerlich! Misstrauen wäre ein essenzieller Faktor. Und wenn schon, was könnte man selbst tun?
Paul zermarterte sich das Gehirn. Menschenansammlungen meiden, durchfuhr es ihn. Er betrachtete nochmals die Säbel, die da in die Luft ragten. Ein Ungleichgewicht. Und die Träger dieser archaischen Waffen wankten. Besonders glücklich sah keiner von ihnen drein. Ein alter Major, schief, mit Hohlkreuz, hielt die ihm anvertraute Fahnenstange mit beiden Händen fest umklammert. Seine Backenknochen mahlten hin und her. Die schmalen Lippen eng zusammengepresst, das graue Schnauzbärtchen hochgezogen, dann wieder gesenkt, hochgezogen, gesenkt. Was ging wohl in dem jetzt vor? Hatte er sich mental ins vorige Jahrhundert gebeamt? Oder war im bewusst, in welcher Zeit er eben lebte? Seine Augen lagen in faltenreiche Tränensäcke gebettet und glänzten etwas rot. Er stand Paul am nächsten von allen Militärs. Die Übrigen schienen gleichfalls einen äußerst müden Eindruck zu vermitteln, ja, einen beinahe hoffnungslosen, in ihren schlotternden Gewändern, und so krumm, wie sie alle dastanden.

Da plötzlich setzte die Orgel zu spielen ein, und die Leute begannen schleppend dazu zu singen, obwohl der Organist bemüht war, etwas Tempo in die ganze Sache zu bringen. Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Zwei Kapuzinerpater waren da vorne, der eine etwa Mitte fünfzig, mit langem, grauem Rauschebart, er las die Messe, der andere, wahrscheinlich siebzig oder älter, mit kürzerem Bartwuchs, ministrierte ihm. Paul gähnte. Er nahm erst wieder Anteil am Geschehen, als er die böhmakelnden Worte des Predigers vernahm, was dazwischen geschehen war, fehlte ihm plötzlich in seiner Wahrnehmung.

… und am zweiten Dezember achtzehnhundertundachtundvierzig wird er Kaiser von Esterreich gleichsam von Gottes Gnaden. Seine Arbeit war geprägt von großem Reformwerk und die Frichte seiner Arbeit hielten die Monarchie in ihrer Vielfalt zusammen, wodurch er zum Symbol der Esterreichisch-Ungarischen Monarchie geworden war. In fortgeschrittenem Alter zog er sich immer mehr und mehr aus den Amtsgeschäften zürick und wurde mehr und mehr zur Integrationsfigur dieser velkerverbindenden Konstellation. Er fiehlte sich als Soldat und Beamter, nicht zuletzt auch als toleranter, frommer – der Pater machte eine längere Pause – Katholik. So fiehrte ihn sein Weg vom Monarchen zum konstitutionellen Herrscher, der stets seine Pflicht als oberstes Ziel angesehen hatte.
Welche Botschaften aber, liebe Gleibige, soll uns sein Geburtstag ibermitteln? Er, der die Ideale der Monarchie bewusst gelebt hatte, ja, nämlich Pflichtbewusstsein, Unbestechlichkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Ordnungssinn, religiese Toleranz, Achtung gegen den Feind und gerechte Justiz. All diese Werte werden damals wie heite genauso von uns allen gefordert, wie Ehrehrbietung gegen die Gesetze, Vorgesetzte und Angeherige. Franz Josef hatte stets versucht, seine Ideale in die Praxis umzusetzen.
Der Mensch, liebe Gleibige, ist unvollkommen, auch ein Kaiser, und der Mensch bewegt sich ständig in dem Spannungsfeld zwischen Besem und Gutem, darum braucht er Gottes Kraft, als Basis fir sein Lebenswerk. Und in der heitigen Zeit umso mehr. Drum, seien wir wachsam, liebe Gleibige! Das beginnt schon im Baumarkt. Wenn ein Kunde von einer Chemikalie, etwa einem Lesungsmittel, so viel kauft wie iblicherweise zehn andere Kunden zusammen, dann muss man sich als aufmerksamer Verkeifer zumindest die Frage stellen dirfen, wofir braucht der das eigentlich? Wenn wir wollen, dass es bei uns auf Bahnhefen und in Konzertsälen oder in Kirchen keine rigorosen Eingangskontrollen gibt, dann missen wir die Augen viel offener halten, liebe Gleibige, als bisher!
Daher wird von uns verlangt, dass jeder seine Pflicht tut. Eiropa ist heite zu einem mehr oder weniger friedlichen Vielvelkerstaat zusammengewachsen wie damals die Monarchie. Aber, wie wir alle wissen, wir beheimaten heite auch Menschen mit einem extremistischen Weltbild und wir beobachten Zellen gewisser Briderschaften, die uns nix Gutes tun wollen. Iberall suchen diese verstärkt nach deitschsprachigen Kämpfern, sogar in unserem Esterreich, auf dass diese ausgebildet werden, um dann in Deitschland oder sogar bei uns in Esterreich operieren zu kennen. Wir alle missen befirchten, dass es friher oder später auch in Esterreich zu solch einem Anschlage wird kommen kennen. Was der allmächtige Gott verhindern mege!

Paul war der Kopf nach vorn gekippt, als er jäh erwachte. Was hatte der Pater da gesagt? Er hatte nicht ganz verstanden. Paul rieb sich die Augen und sah unauffällig um sich. Er musste wohl eingenickt sein. Der Pater hinterm Altartisch schickte sich bereits an, seine Predigt mit den Worten zu beenden: Das bedeitet, dass unsere Pflichten heite genauso aufrecht sind wie damals und wir uns umsehen und vorsehen missen, damit wir auf dem rechten Wege bleiben! Amen. Vergelt´s Gott, murmelte die Menge. Die Himmel rühmen … klang es an Pauls Ohr und er kramte nach seiner Brieftasche. Der Klingelbeutel wurde herumgereicht. Mit einem Male war auch die Kommunion vorbei, zu der sich alle, höchst umständlich, in ungeordneter Schlangenlinie angestellt und vorgedrängt hatten. Paul war gleichfalls aufgestanden, denn er konnte kaum noch sitzen vor Rückenschmerzen, hielt aber tapfer durch bis zum Schluss. Zum Segen hatte man sich erhoben und wartete die präludierende Paraphrase des Organisten ab, nachdem dieser gerade noch an einer wenig ans Ziel führenden, gefährlichen Modulation das Haydn´schen Themas vorbeigeschrammt war, um danach, gemeinsam mit der Menge, in die Melodie des Liedes „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze führ´ Er uns mit weiser Hand! Lasst uns Seiner Väter Krone schirmen wider jeden Feind: Innig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint“, einzustimmen.

Paul kratzte sich hinterm Ohr, er sah auf seinen Taschenkalender. Es war schon zweitausendsechzehn, aber ganz sicher war er sich nicht. Ein Blick auf den alten Major machte ihn unsicher. Ein Degen blitzte im Licht der Kronleuchter kurz auf. Die Menge sang mehr oder weniger intoniert. Er selbst wagte anfangs nicht mitzusingen, dann jedoch öffnete er seine Lippen, er wollte singen, aber kein Laut kam über seine Lippen – er selbst meinte, dass er sänge, konnte sich aber nicht hören, und plötzlich schreckte er jäh hoch – in seinem Lehnsessel, im ersten Moment unfähig zu lokalisieren, wo er überhaupt war. Unbewusst führte er seine rechte Hand zum schmerzenden Rücken, um sich durch Reiben ein wenig Linderung zu verschaffen, was völlig wirkungslos blieb. Er gähnte lange und stand schließlich widerwillig auf, um sich Kaffee zu kochen.
Währenddessen steckte er sich eine Zigarette an und überlegte angestrengt, wo war er denn nun eigentlich stehen geblieben? Ach ja, da war doch gleich – ah ja, es war ja nur ein Traum, ein Traum, ja. Wenn auch nicht alles. Manches daran war ja Wirklichkeit, dachte er, als er die Zeitung vom Boden aufhob, verdammte Wirklichkeit! Paul warf einen Blick aus dem Fenster. Der Sommer ging langsam seinem Ende zu, er spürte es, und – irgendetwas erinnerte ihn daran, dass man seine Pflicht zu erfüllen – hätte – seine – Pflicht erfüllen …. wie damals …. aber welche Pflicht?

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16041




On the Road Again

Einen Spaziergang machen. Zum Nachdenken, zum Runterkommen, zum Erholen, und um alles von sich abzuschütteln, was so an einem unangenehm haften geblieben war die letzten Tage. Alles loswerden, was einen so vereinnahmt. Die kleinen Histörchen, Skandale, die Familiengeschichten, Songtexte und und und. Wenn das so leicht wäre! Landschaft. Konzentrieren auf die Landschaft. Dort ein Baum, ein Strauch, ein Vogel am Himmel. Ein Vogel? Ein Flugzeug. Dahingehen auf einer Straße.

Wieder auf der Straße
Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, irre Sachen mit meinen Freunden zu machen…

Seine Schritte über die nahen parallel zum See liegenden hügeligen Weingärten lenken. Auf einem – Güterweg, immerhin asphaltiert, mitten im Grünland, wie überall hier. Beinah eine Straße. Das Wetter war gar nicht so mild wie anfangs erwartet. Ein ziemlich kalter Wind fegte von Westen her über die blattlosen Weinstöcke. Wo er auf Widerstand traf, pfiff er sein Lied unaufhörlich an den dünnen Drähten der Weinstöcke. Über den Himmel zogen, aufgefädelt wie Perlen an einer Kette, Flugzeuge im Dreiminutenabstand ziemlich tief ihre Anflugsrunden auf den nahen Flughafen. Kinder hätten vielleicht gewinkt oder ein Taschentuch geschwenkt, das die Passagiere hätten sehen sollen. Erwachsene unterlassen solchen Unsinn. Die Welt der Erwachsenen ist zumeist eine nüchterne. Es findet sich oftmals kein Platz für Träume und Fantastereien darin. Weit hinten am Horizont war der bewölkte Himmel etwas aufgebrochen und ließ den einen oder anderen Sonnenstrahl auf das schwache Grün darunter herniederblitzen. Tief Luft holen und nach oben blicken. An manchen Stellen klarte es etwas auf. Nachdenken. Ein Gefühl, als stünde man barfuß auf dem Rücken zweier Pferde im Galopp, die unaufhörlich weiterlaufen, während man die Zügel zwar in der Hand hält, es aber Mühe macht, die beiden Tiere beisammen zu halten, da sie jederzeit nach links oder rechts ausbrechen könnten. Und alles ist so unaufhaltsam – wie die Zeit, die nicht zu stoppen ist, die einem nicht sagt, wohin denn die eigene Reise geht. Einmal anhalten können. Verschnaufen können. Überlegen, ob der richtige Kurs vorliegt. Korrekturen anbringen.

Wieder ein Airbus über dem Kopf. Der Wind trug Fetzen eines Liedes vom Ortsfriedhof an die Ohren heran. Blasmusikkapelle. Ich hatt´ einen Kameraden! Der junge Mann, den sie begruben, war erst zweiundfünf-zig, wie zu erfahren war, und sie spielten ein Soldatenlied! Zweitau-sendundsechzehn! Nicht etwa Yesterday oder wenigstens Time To Say Goodbye. Weiter auf der Straße, die den Weg bedeutet.
Da kletterte irgendein Junge aus der Fantasie der Erinnerungen, der einmal in Los Angeles ein Kleinflugzeug entführt hatte und mit diesem über Death Valley geflogen war. Die Polizei suchte ihn wegen Mordes an einem Cop.

Sich in Fantasien er- und eine Straße entlanggehen. Sich in die Lage eines solchen Jungen versetzen. So eine Piper selbst starten und über die Rollbahn fegen. Abheben. Über den Wolken sein. Sonne putzen. Wieder bloß ein Lied. Oder doch Wirklichkeit? Seine Blicke dem Kreisen eines Bussards über dem Acker folgen lassen. Die Welt von oben betrachten. Die Sorgen unten lassen, auf der Erde. Alles Irdische der Erde überlassen. Eine Liebesgeschichte träumen.

Daria, ein junges Mädchen, fuhr im Wagen ihres Freundes in Richtung Denville, oder Glenville. Oder war´s Merryville? Egal. Irgendwo in Phoenix, irgendwo in der Wüste. Ein fantastischer Ort zum Meditieren, telefonierte sie ihrem Chef, der sie lieber in seinem Privatflugzeug mitgenommen hätte, als sie alleine durch die Wüste fahren zu lassen. Was sie denn dort mache? Meditieren, antwortete sie. Was sie damit meinte, fragte ihr Vorgesetzter. Über Dinge nachdenken, sagte sie, kurz angebunden, und hängte auf. In irgendeiner Bar in einem Wüstenkaff. Während die Sonne gnadenlos herunterbrennt, gerät die Geschichte in die Gegenwart. An der Bar hängt ein von Wind und Sonne gegerbter alter Mann herum, der sein Bier trinkt und in einem fort Zigaretten raucht. Wissen Sie, wo Merryville ist? Er schüttelt wortlos seinen Kopf. Aus der Musikbox ertönt Tennessee Waltz. I was dancin‘ with my darlin‘ to the Tennessee Waltz. When an old friend I happened to see. I introduced her to my loved one. And while they were dancin,‘ my friend stole my sweetheart from me. Daria setzt ihre Fahrt mit dem grauen alten Zwölfzylinder fort.

Ich kann es kaum erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.
Wieder auf der Straße…
Orte besuchen, an denen ich noch nie gewesen bin.
Dinge sehen, die ich danach vielleicht nie mehr wieder sehe.
Ich kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.

Daria fährt in dem alten Buick über eine endlose Landstraße. Vom Autoradio ist Hillbilly-Musik zu hören. Da plötzlich – das Flugzeug des Jungen über ihr! Daria steigt aufs Gas. Was will der Verrückte denn? Er wendet und kommt im Tiefflug direkt auf sie zu. Daria duckt sich hinter dem Volant und schüttelt ungläubig den Kopf. Der hat sie doch nicht alle! Der Junge zieht die Maschine abermals hoch, fliegt einen weiten Bogen und rast aufs Neue frontal auf sie zu. Daria flucht leise. Nun kippt er das kleine Seitenfenster des Flugzeugs auf und wirft ein T-Shirt über Daria ab. Dann beobachtet er, wie sie hinläuft und es aufhebt, es mit beiden Händen an ihren Körper anlegt und zu ihm herauflacht. Der Junge landet das kleine Flugzeug sicher auf dem Highway. Er steigt aus, sie sehen sich in die Augen. Ob sie ihn mitnehmen könne, in die nächste Siedlung. In zwanzig Meilen Entfernung wäre die nächste. Er braucht Benzin. Seine braunen Augen spiegeln sich in ihren blauen.

Wieder auf der Straße
Wie Landstreicher streunen wir den Highway hinunter.
Wir sind die besten Freunde, sagen wir, und toll, dass die Welt sich in unseren Wegen kreuzt.
Und unser Weg ist wieder die Straße.

Da wäre ein Polizist erschossen worden. Daria hätte es im Radio gehört. Der Junge sieht zu Boden. Und dass die Pflanzen hier im ewigen Sand nicht eingehen. Ein Wunder auch, bei der Hitze. Rauchst du?, fragt Daria. Nein, ich gehöre einer Gruppe an, die auf Wirklichkeitstour ist. Das heißt, sie können sich nichts vorstellen, lacht Daria und dreht einen Joint. Der Junge erzählt ihr über sein gescheitertes Uni-Leben und von den Studentenunruhen und er fügt an, ja, da sei ein Polizist erschossen worden.

Aber schon laufen sie schreiend und singend eine Geröllhalde hinunter und legen sich in den heißen Sand eines ausgetrockneten Flussbettes, wo sie im Schatten gemeinsam den Joint rauchen. Man muss sich entscheiden, auf welcher Seite man steht, sagt Daria und man könnte alles anders machen, wenn man nur wollte. Der Junge sieht sie ungläubig an. Es ist friedlich hier. Es ist alles tot hier, entgegnet der Junge. Tun wir so, als wären deine Gedanken Pflanzen, muntert sie ihn auf. Wie sehen deine aus?, fragt sie neugierig. Wie Unkraut? Oder Gänseblümchen? Sie lachen. Es wäre schön, wenn man eine glückliche Kindheit pflanzen könnte. Und liebevolle Eltern, sagt er. Dann beginnen sie, im Niemandsland um die Wette zu schreien.

Als sie die Steinrinne wieder emporgeklettert sind, steigen sie in den alten Buick und fahren weiter. Unterwegs halten sie an einer herunter-gekommenen Hütte. Ein alter Mann mit weißen Bartstoppeln hilft ihnen, das Flugzeug, das der Junge geklaut hat, bunt zu bemalen. Niemand versteht, wie die Piper plötzlich hierhergebracht worden war. Ich werde es zurückbringen, sagt der Junge. Du kannst es nicht einfach zurückbringen, versucht Daria ihm das Wagnis auszureden. Aber der Junge lässt sich nicht beirren. Er küsst Daria auf den Mund und steigt ins Flugzeug. Während es abhebt, winkt sie. Ihr Winken ist das eines Kindes. Danach setzt sie ihre Fahrt fort. Der Radiosender meldet, dass ein junger Mann auf dem Rollfeld in L.A. erschossen worden sei, als er ein gestohlenes Flugzeug gelandet habe.

Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, so Sachen mit meinen Freunden zu machen und so…

Daria folgt der Aufforderung ihres Chefs, sich bei ihm mitten in der Wüste in einer Luxusvilla einzufinden, in der eine wichtige Konferenz stattfindet. Aber Daria empfindet nur Leere und Einsamkeit. Es interessiert sie nicht, was hier gesprochen und verhandelt wird. Sie kann unbemerkt in ihr Auto zurückkehren. Sie setzt sich hinein und starrt auf das Gebäude. Ihre Gedanken sprengen ihr Bewusstsein. Ihre Gedanken sprengen dieses Gebäude. Heftige Explosionen erschüttern die karge Gegend. Sessel, Lampen, Tische, Bücher, Tassen, Teller Schränke, Einrichtungsgegenstände, zahllose Trümmer fliegen in Zeitlupe vor ihren Augen in die Luft, schweben eine Zeit lang im Raum und sinken lautlos zu Boden. Musik von Pink Floyd begleitet den irren Trümmertanz. Als es still wird um sie, ist ihr, als hörte sie eine Stimme in ihr:

I was dancin‘ with my darlin‘ to the Tennessee Waltz
When an old friend I happened to see
I introduced her to my loved one
And while they were dancin‘
My friend stole my sweetheart from me.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16038

 

 

 




Das Wespennest

Ein sonniger Frühsommernachmittag hatte sich auf den sanften Hügeln und grünen Wiesen des kleinen südburgenländischen Ortes niedergetan. Bienen summten, Vögel zwitscherten in den Geästen zahlloser Obstbäume und Schmetterlinge tanzten über bunte Wiesenblumen. Eben durch diese Idylle quälte sich Maurermeister Josef Lagler samt seinen einhundertzwei Kilo mühsam den steilen Weg zu seinem neuen Einsatzort hinauf. Eine Mauer sollte er aufstellen. Ein Mäuerchen, auf dem Dachboden eines weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannten Kunstmalers und Bildhauers. Eine Trennwand, kurzum Feuermauer genannt. Der Rauchfangkehrer hatte befundet, hier gehöre eine Feuermauer hin. Punktum! Kein Kunststück.

Und dennoch hatten es ein paar seiner Kollegen Monate davor nicht geschafft, gerade an diesem Haus eine solche stabil zu errichten. Eine simple Mauer als Anbau an eine bereits bestehende. Unter der Ägide eines umtriebigen Bauingenieurs hatten sie es fertiggebracht, auf die Verzapfung ihres Kunstwerkes zu vergessen. Eine ganz normale Ziegelwand, an eine glatte Mauer anzubauen, geriet somit außer Kontrolle, als sich der Kunstmaler voll Vertrauen in ihre Stabilität an sie lehnte, um gleich darauf samt ihr in den anschließenden Garten hinauszustürzen. Gott sei Dank hatte er sich dabei nicht verletzt. Die Betonkünstler konnten sich was anhören. Der Maler war außer sich. Er hatte nicht zuletzt ein Sprichwort zu diesem Vorfall bemüht: Wie der Herr, so das G’scherr! Denn der Bauingenieur war dafür bekannt, dass seine Werke nicht von langer Dauer waren. Er selbst erzählte einmal von einer Brücke, die er über einen Bach gebaut hätte. Sie wäre Jahre später eingestürzt, fügte er damals emotionslos hinzu.

Josef Lagler hatte das bescheidene Anwesen des Kunstmalers unter Keuchen und Stöhnen schwitzend erreicht. Er ließ seinen strapazierten Rucksack mit dem Werkzeug fallen, setzte sich auf die Gartenbank vorm Haus, zündete sich eine Zigarette an und öffnete eine Flasche eiskalten Bieres, welche ihm der Kunstmaler als Willkommensgruß schon bereitgestellt hatte. Vielleicht tat jener das auch nur aus Angst vor neuerlichen Schwierigkeiten mit Handwerkern und um ihn in richtige Stimmung zu bringen, sein Werk auch ordentlich zu vollenden. Lagler nahm mehrere tiefe Schlucke aus der Flasche und sah sich um. An den Außenwänden des kleinen Bauernhauses waren zahlreichen Kunstwerke angebracht. Wandmalereien zierten die Mauern auf der einen Seite, Steinplastiken auf der anderen. Ein fetter schwarzer Kater räkelte sich faul auf einer von der Sonne erwärmten Steinplatte und gähnte gelangweilt.

Als vor Jahren einmal ein Burgenlandamerikaner hier zu Besuch war, der all die Bilder ums und im Haus bemerkte, fragte dieser beeindruckt, oh, beautiful! Wer da streichen?, erzählte ihm der Maler. Aber Lagler hatte nicht verstanden, worum es ging.

Der Kunstmaler selber war bei den Ortsbewohnern nicht sonderlich beliebt. Ob es daran lag, dass er ein „Zuagraster“, also ein Zuwanderer war, oder an seiner Malerei, man wusste es nicht. Tatsache war, dass er die Dorfbewohner in seinen Bildern als auch in einem darüber gedrehten Amateurfilm ziemlich verrissen hatte, und sie ihm das sehr übel nahmen, als sie sich Wochen später im Regionalfernsehen wiedererkannten. Verglichen Kenner seine Malerei nicht zuletzt mit den skurrilen Werken eines Hieronymus Bosch. Dies aber hatte für den Maler schwerwiegende Folgen gehabt. Die Leute grüßten ihn von da an nicht mehr oder wechselten sogar den Gehsteig, wenn er ihnen begegnete. Auf einem seiner üblichen Spaziergänge über die nahen Wiesen wurde er sogar einmal von einem Jäger aus dem Ort mit angehaltener Doppelläufiger mit den Worten bedroht, schleich di, oder i blos di aus die Schuach!

Maurermeister Lagler hatte indes seinen Durst gelöscht. Also wurde es Zeit, an die Arbeit zu gehen. Wo er denn die Mauer aufstellen solle, fragte er. Oben, auf dem Dachboden, antwortete der Maler und wies mit seinem Kopf in die Richtung. Ein Dachboden wie jeder andere. Ein meist nur primitiv isolierter, kaum eingerichteter Raum, in dem allerlei Gerümpel gelagert war. Üblicherweise führten Treppen oder Leitern in solche Räume. So auch hier. Lagler stieg das schmale Stiegenhaus leise fluchend und laut ächzend hoch. Die Ziegel waren bereits herangeschafft worden. Mittels eines Autokranes über die Dachluke. Wenigstens etwas, stöhnte Lagler erleichtert. Das Meita, wie man hierzulande den Mörtel nannte, musste er selbst anrühren. Bei der Hitze unter dem Dach keine leichte Sache für einen älteren übergewichtigen Menschen. Krutze, zischte er leise. Aber da war noch was. Denn just an der Stelle, an der er die Mauer errichten sollte, hing ein gigantisches Wespennest vom Dachbalken und versperrte ihm den Weg.
Da ist ein Wespennest, rief der Maler von unten, haben Sie das Nest gesehen? Ja, hat er, er war ja nicht blind. Lagler kratzte sich am Hinterkopf. Zefix, fluchte er. Ein Nylonsackerl!, rief er nach unten. Ein was? I brauch a groß’ Nylonsackl!, rief Lagler jetzt lauter. Es dauerte. Er hatte mit Akademikern und so – Kunstg‘sindel, wie er es nannte, nicht viel am Hut. Einmal hatte er auch bei einem gearbeitet. Der wusste alles besser. Und einmal hatten sie ihm einen akademischen Restaurator beigestellt, damals, als die Arbeiten in der Kirche anfielen. Den Herrn Magister! Auch so einer, der nur g’scheit reden konnte und nichts weiterbrachte. Oaschloch, kaunst an Putz?, hatte Lagler ihn gleich zu Beginn der Arbeiten gefragt. Wenn er keinen Putz hätte können, hätte man gar nicht anfangen können. Und Lagler hatte einen Riecher für sowas. Der konnte tatsächlich keinen! Den brauchte man aber für die Erneuerung der Fresken, die nur im feuchten Verputz gemacht werden konnten. Also musste er alles allein machen.

Und der hier, dieser Künstler – schien auch ein solcher zu sein, so ein Siebeng’scheiter. Redete nur Unsinn und wirres Zeug und stellte unnötige dumme Fragen. Ein Besserer. Konnte nicht einmal ein Nylonsackerl organisieren. Na, immerhin. Wenigstens hatte er kaltes Bier zu Hause. Na endlich! Das Nylonsackerl. Da bitte, sagte der Maler und reichte ihm ein Billasackerl über die Bodentür. Was wollen Sie denn damit? Lagler schwieg. Ganz langsam und bedächtig nahm er die Plastiktasche, richtete sich auf und schritt gemessenen Schrittes hin zum Wespennest. Er trug nur ein kurzärmeliges Hemd und eine lange schmutzig-weiße Leinenhose, sonst nichts. Keine Handschuhe, nur sein Maurerkapperl, das schief auf seinem hochroten Kopf saß. Es war ein heißer Tag. Die Wespen, sehr geschäftig, schwirrten zornig brummend um ihn herum. Vorerst zündete sich der Meister eine neue Zigarette an. Rauch konnte nie schaden bei einem Unternehmen wie diesem.
Sie müssen sie von ihrem Aufenthaltsort weglocken, rief der Künstler von untern hinauf, was? Lenken Sie sie ab. Ich bringe Ihnen etwas Basilikum. Oder noch besser, Zitronen, mit Nelken drin, was? Das mögen die nicht. Lagler kümmerte sich nicht um das, was der Herr Künstler sagte und zog nur bedächtig an seiner Zigarette, die an seinem rechten Mundwinkel hing. Zefix, brummte er. Die Wespen umsurrten ihn neugierig. Ich hätte so ein Duftöl, Teebaumöl, nehmen Sie das. Der Maler ließ nicht locker. Und nach einer Weile: Knoblauch ist auch nicht schlecht, was? Ich schneide Ihnen welchen klein, nicht? Keine Antwort. Nur das Brummen der schwarzgelb Gestreiften. Salmiak!, rief der Maler, wissen Sie? Das ist es! Ich reiche Ihnen einen Lappen mit Salmiak hinauf, was? Oder warten Sie. Möchten Sie einen Kaffee? Ich stelle Ihnen einen Kaffee rauf, was? Den Geruch mögen sie auch nicht, die Wespen. Lagler reagierte nicht. Der Maler faselte etwas wie man müsste Kaffeepulver oder Kaffeebohnen irgendwie in einem feuerfesten Gefäß glühend machen oder so ähnlich, das würde die Wespen schon vertreiben. Alles vergebliche Mühe. Lagler tat, was er tun musste.
Ganz vorsichtig begann er, den Plastiksack von unten her über das Wespennest zu stülpen. Die Tiere umflogen ihn wie wild. Aber der Ziegelschupfer ließ sich in seiner Tätigkeit nicht von ihnen beirren. Wir hätten mehr Tomaten anbauen sollen, was?, rief der Maître von unten hinauf. Die mögen sie auch nicht. Lagler fiel die lange krumme Asche zu Boden. Meine Frau hat irgendwo Räucherstäbchen, brauchen Sie die?, fragte der Maler erneut. Früher haben wir immer Kupfermünzen auf den Tisch gelegt, beim Essen, mein’ ich. Das soll auch helfen, was? Lagler hörte alles genau, aber er kümmerte sich nicht darum. Vielleicht stellen Sie ein Glas Bier neben sich, was? Dann trinken sie und fallen dort rein? Lagler hatte eine Wespe mit Daumen und Zeigefinger unabsichtlich gequetscht und sie hatte ihn sofort gestochen. Zefix, murrte er und kratzte sich. Vielleicht ist ihre weiße Hose zu auffällig, was?, meinte der Maler nun besorgt. Da werden sie dann aggressiver, was?
Lagler kämpfte mit der Luft. Der Zigarettenrauch war ihm in die Augen gestiegen. Er kniff ein Auge zu. Aber blasen durfte er nicht, das wusste er, das mochten die Wespen schon gar nicht. Fast hatte er das Nylonsackerl schon um das gesamte Nest geschlungen. Fehlte nur noch der obere Teil. Der da unten ging im auf die Nerven mit seinen dauernden Vorschlägen. Da war die Königin, gut zwanzig Millimeter lang. Die kleineren Drohnen und noch kleineren Arbeiterinnen versuchten sie zu schützen, so gut es ging. Um diese Zeit ernährten sie sich von Weidenblüten. Und davon gab es genug in der Gegend. Ist alles in Ordnung bei Ihnen, was?, rief der Maler hinauf. Jojo, antwortete Lagler nun doch, wenn auch grantig, um seine Ruhe zu haben. Lagler schüttelte den Kopf.
Gleich würde er den Plastiksack oben schließen und das Nest mit der Hand vom Balken abnabeln. Die alte Königin würde im Spätherbst sterben. Danach löst sich ihr Wespenstaat völlig auf. Und wenn der Frost kommt, sterben die letzten heimatlosen Wespen auch. Lagler zog an seinem Zigarettenstummel. Alles würde einmal zu Ende gehen. Auch mit ihm. Zefix, murmelte er. Seine Hand wies dort, wo ihn die Wespe erwischt hatte, eine leichte Rötung auf. Lagler kratze erneut die juckende Stelle. So, jetzt war es so weit. Er schloss den Plastiksack mit der Faust und schickte sich an, die Treppen nach unten zu steigen. Im Nylonsack tobte und toste es bedrohlich. Als er mit seiner gefährlichen Beute unten angekommen war, standen der Maler und seine Frau mit offenem Mund da und kriegten kein Wort heraus. Wou is’ da Wossahaun?, fragte Lagler.
Äh – der – dort! Dort an der Wand, wo die Gießkanne…, stotterte der Künstler. Seine Frau wich vor Entsetzen zurück, als Lagler mit dem tosenden Beutel an ihr vorüberschritt. Er bewegte sich langsam auf die Wasserstelle zu, hob den Sack hinauf und öffnete ihn blitzartig gleich unter dem Wasserrohr. Rasch umschloss seine Faust Nylonsack und Wasserhahn. Besonnen und mit einer Gelassenheit, die das Künstlerehepaar an den Rand äußerster Spannung trieb, drehte er das Wasser auf. Der Beutel füllte sich nach und nach. Wurde dick wie ein Ballon. Das Tosen und Brausen im Sack wurde leiser. Schließlich verstummte es ganz. Nichts regte sich. Eine Schar Spatzen zwitscherten am Dachfirst. Ein paar versprengte Wespen flogen noch eine Zeit lang um Laglers Kopf, änderten aber bald ihre Route und flogen in Richtung Garten davon. Sixtas?, sagte Lagler siegessicher, und fügte ein „zefix“ an. Den Plastiksack verschnürte er mit den beiden Henkeln und meinte, den solle man ruhig hier bis zum Abend so stehen lassen. Erst dann ausleeren. Woraufhin er sich behäbig in Richtung Bodenstiege umwandte und diese ächzend zum Dachboden erklomm. Zefix, hörte man leise von oben.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: an Tagen wie diesen … | Inventarnummer: 16036

 




vom hocker

mein liebes Kind, komm nur herein
und lass die mami draußen
’s ist besser so, wir sind allein
schließt sie die Tür von außen

du weißt, wenn sie herinnen bleibt
dann fängst du an zu spinnen
was mich zumeist zum wahnsinn treibt
mit euch zu dritt hier drinnen

es macht mir nichts, wenn du nicht grüßt
is ohnehin nur maske
ich warte bis du dich vertschüsst
du supermulti-taske

den kautschi her statt guten tag
frech stehst du an die wand gelehnt
du weißt, wie sehr ich das schon mag
es scheint, ich habe dich verwöhnt

hast du dein heft nicht mitgebracht
aus dem wir immer spielen
hat mutti denn nicht dran gedacht
du musst nicht auf die wanduhr schielen

nun gut, ich schau im notenschrank
ob sich was andres findet
dein zappeln macht mich noch ganz krank
(wie sie sich streckt und windet)

bleib bitte auf dem sessel sitzen
und klimper nicht andauernd rum
gleich fang ich wieder an zu schwitzen
jetzt wirft sie noch den sessel um

da bitte, dieses heft geht auch
fang endlich an zu spielen
das ist, was ich von dir jetzt brauch
und etwas guten willen

ich bitte dich, nun lass den hocker
der hat genau die richt’ge höh
nach links den hebel, geht ganz locker
so tu’s, eh ich noch blutrot seh

der ton ist falsch, hörst du das nicht
das ist ein kleines g
ich wäre taub, ich arschgesicht
gespielt hätt’ sie das eh

dein rastlos ruhlos zappeln toben
das macht mich wahnsinnig nervös
ich bitt dich, lass die finger oben
was du heut treibst, ist schikanös

jetzt zieht sie auch die beine an
so lass sie, wo sie sind
weil man so nicht klavierspiel’n kann
so geht das nicht, mein kind

ich fürcht, neb’n dir da werd ich hin
dir sticht‘s und kribbelt‘s in der hose
ein mangel wohl an dopamin
ne ausgewachs’ne hyperthrose

da plötzlich tönt ein krach, ein schrei
es musste ja so kommen
sophie mein kind, eil ich herbei
sie hat von selbst den stuhl erklommen

und weiter geht das wilde treiben
auf dem gequälten instrument
das war kein fis, das ist mir wurscht
die hat das glatt verpennt

der war auch falsch, is mir egal
ich bitt dich, nimm die linke hand
dann spiel es eben noch einmal
die andre linke nimm verdammt

jetzt hast du grad den takt verloren
das hab ich nicht, doch du hast wohl
zwei ungewasch’ne Ohren
so das reicht, das maß ist voll

und was ist dort mit diesem ton
den hab ich längst, ganz sicher
derweil du grinst, sagst du voll hohn
du oida alzi, mit gekicher

zur übung spielst du nummro vier
denn üben sollst du nur zu haus
und ganz bestimmt nicht hier
jetzt spiel den schluss und dann hinaus

auf wiedersehn bis nächstes mal
tschüss dann bis nächste woche
du mein verhaltensoriginal
mach ich auf cool, auch wenn ich koche

als zeichen deiner sympathie            (dein abgang ist dramatisch)
schlägst du zum abschied mir im nu
so stark und heftig wie noch nie
die tür vor meiner nase zu                 (und ich bin höchst apathisch)

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 16035

 

 

 




Das Ende des Vogelsangs

In sechzehn Stollen und einem Abgesang

1 Da war immer schon viel Verständnis und Freude am Vogelsang. Da wurde das Verlangen nach mehr nicht nur in wissbegierigen Ornithologen geweckt. Da zogen Wesenszüge und Eigengesetze und der musikalische Aussagewert Neugierige schon durch Jahrhunderte in ihren Bann.

2 Nun waren singende Vögel schon immer ein beliebtes Unterhaltungsmittel. Nun wurde Vogelgesang schon immer als wohltönend und angenehm empfunden. Nun ging man oft davon aus, dass Vögel aus Lebensfreude oder zur Erbauung der Umwelt singen.

3 Zumal werden singende Vögel weltweit in mehr oder weniger ausgeprägten Freiräumen gehalten. Zumal singen manche Arten besonders in Isolation sehr stark. Zumal singen sie oft bis zur völligen Erschöpfung. Zumal ist der Vogelgesang eine verhaltensbiologisch bemerkenswerte Leistung. Zumal singen Vögel so, wie sie durch die verschiedensten Umstände beeinflusst werden.

4 Bekanntlich ist der Gesang vieler Singvögel oftmals nicht bloß lyrisch. Bekanntlich ist er meist sogar prosaisch. Bekanntlich verfügen Lyriker oder Prosaisten meist über mehr als einen Strophentyp. Bekanntlich ist der Gesang der Singvögel im Vergleich zu anderen Vogelarten nicht angeboren. Bekanntlich muss diese Kunst, wie jedes Hand- oder Mundwerk, erlernt werden. Bekanntlich gibt es auch versierte Autodidakten unter diesen Tierarten.

5 Derweil ist Vogelsang keine Ausschmückung von etwas, das man auch einfacher oder deutlicher sagen könnte. Derweil ist Vogelsang vielmehr ein Akt, der sich selbst als solcher wahrnimmt und reflektiert. Derweil zeigt sich Vogelsang in seiner Eigentümlichkeit. Derweil ist Vogelsang Vermittler von Welt und Leben. Derweil ist Vogelsang spezifische Ausdrucksform und sich seiner selbst bewusst. Derweil ist Vogelsang nicht kommunikativer Zierrat! Derweil ist Vogelsang nicht Teil von etwas! Derweil ist Vogelsang tiefster Ausdruck der Seele.

6 Aber über den Gipfeln ist keine Ruh. Aber über den Gipfeln kann nie Ruh sein. Aber immer schon lag über den Gipfeln die Unruh. Aber zu allen Zeiten herrschte immer irgendwann Unruh. Aber warum sollte es in einer neuen Zeit anders sein.

7 Ganz plötzlich schien die Vogelwelt erstarrt! Ganz plötzlich lähmte Bestürzung die Singenden. Ganz plötzlich lag Betroffenheit in trock‘nen Kehlen. Ganz plötzlich spie Entsetzen fassungslos sein lähmendes Gift in den Dunst des Spätherbsts.

8 Bewusst wurden schuldlose Leben in den Tod gerissen. Bewusst wurde der Kosmos für Sekunden von Verblendeten vereinnahmt. Bewusst erlaubte eine finstere Macht, ungeschützte Verwundbarkeit feig für mörderisches Spiel zu nutzen.

9 Dann plötzlich ergriff eine Ohnmacht die Hörenden. Dann herrschte die Angst vor koordiniert geistesgestörtem Wahn. Dann hockte man gelähmt von den gräulichen Taten Umnachteter zitternd im Geäst. Dann trat Stille ein, als sich der Pulverdampf verzogen hatte.

10 Danach wuchs stumm im Schatten der ruchlosen Tat tonlos und dornig eine Hecke aus Starre. Danach verstummten die Vögel zur Gänze. Danach schwieg die Natur als Folge der Schauder. Danach ward Grauen und Widerwillen unter den Sängern.

11 Das war das Ende zweckorientierten Gesangs. Das war das Ende belebenden Beitrags Gefiederter. Das war das Ende der Wahrnehmungen ihrer Natur. Das war das Ende der schönen Poesie. Das war der Abschied ihrer provokanten Eleganz.

12 Damit einher begann die Vertreibung des Vogelgesangs. Damit einher ward Vogelsang nie mehr Ruhekissen der Liebesnacht. Damit einher ging das Ende von Idealen ihrer Ziele und Methoden. Damit einher geriet Stummheit zum stillen Protest.

13 Zeitgleich begann ein Rückzug der Vögel in sich selbst. Zeitgleich verkrochen sie sich in ihren Nestern. Zeitgleich verdunkelten sie ihre Nistplätze. Zeitgleich lebten sie innerlich und äußerlich nur Nacht. Zeitgleich erstarrt, gewährten sie niemandem Zutritt zu ihrer Behausung.

14 Letztlich zogen sie die Flügel hoch. Letztlich sahen sie bloß zu Boden. Letztlich verdeckten sie mit ihren Federn die unruhigen Augen. Letztlich verharrten sie mit verschränkten Beinen bewegungslos. Letztlich vermieden sie jegliches Geräusch. Letztlich gebaren ihre Kehlen kein Krächzen und kein Krähen. Letztlich erstarrten sie in ihrem Gefängnis des Schweigens. Letztlich erschien dieses Schweigen als Trotz.

15 Am Anfang vom Ende blieb kein anderer Ausweg. Am Anfang vom Ende nur stille Beobachtung. Am Anfang vom Ende blieb allein schöne Erinnerung. Am Anfang vom Ende ward phonische Leistung für immer verweigert. Am Anfang vom Ende gab es kein Weinen, kein Husten, kein Lachen.

16 So waren weder Atemgeräusch noch Laute des Schmerzes. So waren weder Blickkontakt noch Berührung. So waren nur Schweigen und Stille. So wollten Flügel und Beine ohnehin nur schwach zappeln und schwanken. So blockierten Blockaden das Singen, das Trällern und Fiepen.

Ein Abgesang

Das Geschäft mit dem Vogelsang war zur Talfahrt verkommen. Nicht deswegen, weil die Gier der Verleger neuer Partituren grenzenlos war. Nicht wegen der Provinzialität der Händler, dass Vogelsang nicht mehr unter die Leute gelangte. Nicht deswegen, dass überall gespart werden musste. Nicht deswegen, dass Vogelsangsendungen abgesetzt wurden. Nicht deswegen, dass Vogelsanghäuser geschlossen wurden. Nicht deswegen, dass Vogelsangmagazine, die das Ende des Vogelsangs ankündigten, nicht mehr gedruckt wurden. Nicht deswegen, allein wegen der Verunsicherung des Vogelliedmarktes. Nicht deswegen, dass einige wenige mit Sangesmüll renommierten. Nicht deswegen, weil selbst der vernichtende Cocktail aus Vogelsangwettbewerbskampf und schrumpfendem Markt der Branche nichts hätte anhaben können. Nicht deswegen, weil weder die sich minimierende Liste jämmerlicher Vorsänger noch die Rückläufigkeit der Umsätze bis zum Nullpunkt oder die Aushöhlung durch die Preisbindung dem Vogelsang den Garaus hätten machen können. Nicht deswegen, auch wenn man Parallelausgaben verboten hätte.

Sondern vielmehr lag die Ursache darin, dass aus Protest gegen das Unrecht immer weniger Partituren gekauft wurden. Sondern vielmehr lag es einzig und allein daran, dass aus Schmerz über die ruchlose Tat überhaupt nicht mehr gesungen wurde. Sondern vielmehr lag es daran, dass Vogelsang als Unterhaltung oder Sprachrohr einer bestimmten Geisteshaltung seit dem Tage der Katastrophe seinen Stellenwert verloren hatte. Sondern vielmehr hatte die aktuelle Krise die Konsumenten in Katastrophenstimmung versetzt. Sondern vielmehr verlangten sie nunmehr das Seichte, das Unterhaltsame, das Ablenkende. Sondern vielmehr hatte Vogelsang für den Einzelnen und für die Gemeinschaft das Verbindende geleistet. Sondern vielmehr ist sein Wert durch die ruchlose Tat zur Bedeutung eines Gutenachtliedes verkommen. Sondern vielmehr bedeutet der Verlust der Sangeslust jedoch nicht den Verlust seiner geistigen Fähigkeiten. Sondern vielmehr erlaubte das Entsetzen über das Geschehen nur seine Wiederaufnahme nicht.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16033




Nicht ohne dich

Noch täuschen meine Augen mich mit Bildern der Erinnerung. Jetzt, wo ich dich lang genug gekannt – jetzt kann ich erst ermessen, wie einzigartig alles du mir warst. Ohne dich, so ohne dich, beginn ich langsam alles zu vergessen. Wo war ich bloß? Von purer Blindheit derb geschlagen? War’s Ignoranz? Ach, wenn ich an dich, mein Liebes, denke, du bist für mich so unbewölkt, so sonnig und so klar. Und ich hingegen? Pechrabenschwarz die Seele, ein Griesgram wohl. Es ist noch kaum ein Jahr vorbei. Schon schwindet beinah alles, wie das mit dir so war.
Gewiss, du konntest kühl sein, wenn du wolltest. Das wusstest du. Genau wie ich, und schattig. Jedoch – dein Schatten spendete begehrten Trost, den ich an heißen Tagen oft entbehrte. Noch fühl ich deine Haut, so blühend hell wie eine Rose. Als wär’s erst gestern. Wie oft war ich dein warmer Frühlingstag, dein Berg im Süden. Und totes Grau fiel oft von mir auf dich und tauchte dich geheimnisvoll ins Dunkel. Ich dachte stets, die Ruhe brächte Glück und Eintracht. Nicht immer, sagtest du. Ich weiß. Denkst du daran, was ich dir oftmals vorgeworfen? Heut lach ich drüber. Es ist vorbei. Ich sehe ein, dass ich kein Recht gehabt, was vorzuhalten. Jedoch, ich tat es nur aus Angst davor dich zu verlieren! Im Ernst! Es klingt grotesk. Verzeih, wenn du noch kannst.

Mag sein, dass ich die Worte, die du sprachst, nur aus Gewohnheit nicht gehört. Verstünd mich heute besser drauf zu hören. Noch klingt in meinen Ohren, ich sei dein Sonnenlicht und stünde für das Hell, die Quelle deines Lebens. Was ist das für ein Deal gewesen? Die Sache mit uns beiden? Du, und ich?
Und dennoch ist – was war, das waren wir gemeinsam. Wir beide, ja, ganz offensichtlich. Und was wird von uns bleiben? Nichts? Du warst mein Licht. Und ich? Ach ich – ich fühl mit Wonne den belebend schöpfend kühlen, feuchten Tau, den dein Füße sanft berührten, wenn du auf Erden schwebtest.

Bist du mir böse, weil ich, dein dunkler Schatten, dir manchmal deinen Atem nahm? Gewiss, ich war nicht aufmerksam genug. Ich flüchtete zu dir aus Kummer und Enttäuschung. Wirfst du mir vielleicht vor, dass es nicht bloß aus Liebe war? Dann bitt ich dich, sei wieder für mich da. Sei mir der Tag, sei mir der Sommer meines Lebens. Entfach mit deinem Sturm in mir das Feuer. Sonst bleibt es Nacht in meinen öden Wangentälern, die die Tränen gruben.
Doch, ach, ich weiß nur allzu gut. Einmal ist immer – irgendwann. Bei uns ist’s jetzt. Ich suchte nach Geborgenheit und dachte nur an mich dabei. Du sagtest, füg dich drein, ohne zu fragen. Das hab ich nicht verstanden. Zwar bin ich heute klüger, doch trotzdem dümmer als zuvor. Zu spät! Oh wärme mich an deinen sonn’gen Hängen die nach Süden steh’n, die ich so brauchte wie der Weinstock selbst.

In deiner Nähe schrieb ich ungeles’ne, Briefe nur an dich, ich schwör’s! Du kannst es mir ruhig glauben. Und willst du wissen, was drin stand? In meinen Zeilen stand die Angst, es käm der Tag, an dem wir nicht mehr zweisam wären. Du würdest mich an Alter überholen. Ein Unsinn sicherlich. Ich sah den Berg als Ganzes. Und fühlte kühles Wetter. Wenn nicht gleich gar die Winternacht. Nun steh ich vor verschloss’nen Türen, wo deine stets geöffnet waren.

Du Himmlisches! Was bin ich müd’ und du bist fort. In welche ausgebreitet’ Arme soll ich sinken, wenn nicht in deine? Wer wird mich jetzt in Tätigkeit versetzen? In Lethargie, als wär ich wie gelähmt! Nach einer halben Ewigkeit der gleichen Atmung und desselben Rhythmus! Du und ich – war alles zwischen Haupt und Gliedern. Das ist vorbei.
Weißt du noch, den Baum, den wir gepflanzt? Heut ist er größer als ein Haus. Du hattest ihn umarmt, nicht mich. Als Ausgleich zwischen unt’ und oben sagtest du. Versteh kein Wort. Auch muss man alles nicht versteh’n. Er ist wie wir, hast du gesagt. Blüht auf, belebend schöpferisch, ich kann mich gut erinnern. Und glänzend war sein schlankes Antlitz. Ich stand dabei, verborgen – mich zusammenziehend. Mein mattes Inneres nach außen. Ganz einfach passiv. Ich hab dich stets dafür bewundert, dass du so anders warst.

Wir waren sehr verschieden, das sei nicht bös gemeint, ich weiß. Das Harte und das Weiche – hast du einmal gesagt. Das eine kann nicht ohne andrem sein. Und doch – es ist nicht wichtig. Und rein moralisch gibt es keinen Überleg’nen. Schau unsre Liebe an, da ist der Anfang und das Ende. Dazwischen da sind wir. Ich weiß, wir waren’s! Doch welchem misst du mehr Bedeutung? Das eine ist ohne das andre nichts. Die Liebe selbst, ist es. Die war uns wichtig.

Vergieß doch deine heißen Tränen, wenn’s dir hilft!, ich hör dich diese Worte flüstern. Ich kann mich an den ew’gen Kreislauf schwer gewöhnen. In diesen Dingen warst du geübter, mehr als ich. Das Leben kommt, das Leben geht, so wie die Hoffnung. Mal steigt sie, doch dann sinkt sie wieder. Das eine folgt dem anderen und umgekehrt. Mich in mein Schicksal fügen – darin war ich schon immer ungeschickt. Vergeblich wart ich auf die Stille, der meist Bewegung folgt. Ganz ohne dich hab ich’s verlernt zu fühlen.

Mein Gott, wie schön das war, mit dir so Hand in Hand zu gehen. Sind jetzt die schlechten Zeiten angebrochen? Mir bleibt nicht mal die Hoffnung mehr auf bess’re. Ich weiß, dass du nicht wiederkehrst. Sonst war es immer so gewesen, wenn sich die Not vermehrt, verringert sie sich wieder durch die Hoffnung. Doch diesmal bleibt sie aus. Der einst’gen Fülle durch dein blühend Leben folgt nichts als Leere. Und du, mein Sonnenlicht, bist ganz verhüllt durch meine dunkle Wolke.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16029