Spruchkarten

Mein Mann hat einen Termin in Linz und ich werde ihn begleiten. Ein Paarkurzausflug sozusagen, in die Landeshauptstadt. Ich muss bedauerlicherweise zugeben, dass ich Linz nicht sehr gut kenne, deshalb planen wir unseren Ausflug so, dass mir mein Mann noch vor seinem Termin den Hauptplatz, die „Landstraße“ (Fußgängerzone) und Umgebung in groben Zügen zeigen kann, damit frau sich nicht verläuft. Nicht lachen! Das könnte bei mir durchaus möglich sein, ich bin eine geographische Wildsau. Mein Handy lade ich im Auto auch noch gleich voll auf, damit ich wenigstens jemanden anrufen kann, wenn ich mich verirrt habe. Oder Google Maps mir weiterhelfen kann. Als ich mit meinen Töchtern voriges Jahr in Prag war, hat sich unsere Jüngere meist um die Orientierung via App gekümmert und wir haben problemlos überall hingefunden – wenn ich an meine Jugend denke, saßen wir bei unseren Urlauben und Ausflügen immer mitten unter riesengroßen Stadtplänen und dicken Reiseführern. Ich hab immer ans Ziel gefunden und auch wieder heim. Muss auch mal gesagt werden.

Natürlich brauche ich all das in einer kleinen Stadt wie Linz nicht. Ganz sicher nicht, versichert mir mein Mann. Er muss es wissen, immerhin ist er in der Landeshauptstadt fünf Jahre in die HTL gegangen und sein Weg vom Internat in die Schule und zurück bzw. zum Bahnhof führte hauptsächlich über die Landstraße und deren Seitengassen.

So marschieren wir eingehakt los und schlendern über den Hauptplatz, vorbei an der Pestsäule und rein in die Landstraße. Der Wind weht uns um die Ohren, es ist März und die Sonne steht zwar am Himmel, aber hat noch zu wenig wärmende Kraft. Vor etlichen Kaffeehäusern sind schon die Schanigärten aufgebaut mit Decken auf den Stühlen, aufgespannten Sonnenschirmen und Eiskarten auf den Tischen. Die Menschen mit Daunenjacke, Haube und Schal und die sommerlich anmutenden Kaffeehäuser, ein eigenartiger Kontrast.

Langsam schlendern wir entlang der Geschäfte über die Fußgängerzone, wie ein altes Ehepaar. In diesem Fall ist das keine Floskel, es ist Tatsache. Ich liebäugle mit einigen Schuh-, Kleider- und Schmuckgeschäften, denen ich insgeheim verspreche, ihnen einen Besuch abzustatten, sobald mein Mann in seinem Termin ist und ich in Ruhe shoppen gehen kann. Immerhin ist morgen „Weltfrauentag“ und wieso soll frau sich nicht selber was schenken? Vor einigen Gebäuden bleibt mein Mann stehen, hauptsächlich vor Gasthäusern, wie mir scheint.

„Hier haben wir nach der Matura noch ein paar Bier getrunken, bevor ich in den Zug gestiegen und heimgefahren bin.“ Nach einigen Metern weiter: „Und hier war unsere Maturafeier! Wahnsinn, das Lokal gibt es noch immer.“ Nach wieder einigen Metern, am Ende der Landstraße, bleibt er vor einem Eckhaus stehen, in dem ein türkischer Einkaufsladen eingemietet ist.
„Hier war früher das Goethekaffee, da waren sehr viele Schulschwänzer anzutreffen.“ „Und du warst dabei?“ „Nein, ich war da nie!“ „Woher weißt du es dann?“ „So was weiß man doch!“
Nicht, dass ich meinem Mann nicht glaube, aber ich weiß zum Beispiel auch, in welchem Kaffeehaus man früher in meiner Heimatstadt Schulschwänzer angetroffen hat, und warum weiß ich das? Eben!

Wir haben noch etwas Zeit und mein Mann möchte nun die Goethestraße runtermarschieren und schauen, ob „seine“ Schule da noch immer zu finden ist. Die war scheinbar früher schon uralt und er kann sich kaum vorstellen, dass da noch immer unterrichtet wird.
„Das ist die HTL für Hoch- und Tiefbau und das Gebäude ist baufällig?“, frage ich ihn. „Nein, baufällig nicht, aber es war vor fünfunddreißig Jahren schon altbacken.“
„Vor wie vielen Jahren?“ Mein Mann kann sehr gut Kopfrechnen, viel besser als ich, aber nun ist er stutzig geworden und bleibt stehen.
„Ohjeee, das war ja schon vor vierundvierzig Jahren!“ Mir scheint, es ist ein wenig Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Ja, wir werden eben nicht jünger.

Mittlerweile ist mir angenehm warm von unserem Fußmarsch, meine Füße schmerzen und der Wind pfeift uns noch immer um die Ohren. Daheim liegen unsere Pulsmessuhren, verstaubt in einem Schrank und nicht aufgeladen, weil wir sie so selten tragen. Heute hätte mir meine Uhr sicher einen Pokal aufs Display gemalt, so viele Schritte sind wir schon gelaufen.
„Jetzt sind wir hier, schau mal, das gelbe große Gebäude da unten!“ Ich bin schwer beeindruckt, es ist immer noch da. Es ist nicht verloren gegangen und auch nicht abgehauen.
„Sieh mal, das war unser Haupteingang.“ Ehrfurchtsvoll bleibt mein Mann vor der großen Eingangstür stehen, die von zwei stattlichen alten Säulen umrahmt ist. Er blickt die Fensterfront empor und lehnt sich etwas zurück. Ich kann seine Gedanken förmlich lesen. Da hängen halt schon Erinnerungen dran, kann ich verstehen.
„Fünf lange Jahre, unglaublich viele Stunden am Büffeln und Lernen.“ Mein Mann schwelgt in Erinnerungen.

An der Hausmauer hinter einem Strauch steht ein älterer Herr und tippt in sein Handy. Aus dieser kurzen Distanz kann er unserer Unterhaltung sicher folgen. Nach fünf Minuten kommt er an uns vorbei und fragt:
„Kann ich irgendwie behilflich sein?“ Das ist sicher ein Professor oder Ingenieur, bestimmt kein Schüler, für einen Schüler ist er definitiv zu alt.
„Nein, danke, ich bin nur hier vor … vor vierundvierzig Jahren in die Schule gegangen“, entgegnet mein Mann. Erst jetzt bemerke ich den Bart und die Frisur unseres Gegenübers, ein grauer Fünf-Tage-Bart und grau melierte Haare, ähnlich wie bei George Clooney – entfernt ähnlich! Und ähnlich wie bei meinem Mann. Tragen alle älteren Bauingenieure graue George-Clooney-Bärte? Ich muss schmunzeln.

Nachdem wir dann noch den Weg über den Mariendom – mein Mann hat ja nicht nur berufsbedingt ein Faible für Architektur – und in die Seitengasse, wo früher „sein“ Internat untergebracht war, zurückgelegt haben, biegen wir in die Herrenstraße ein. Mir kommt diese Gasse so bekannt vor. Ich grüble und überlege und sehe nebenbei in die Schaufenster der Antiquitätengeschäfte, Kunstgalerien und der noblen Kleidergeschäfte. Vor einem herrlich bunten Sommerkleid, dekoriert mit Hut, bleibe ich stehen und betrachte das Preisschild. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen – ja klar, die Herrenstraße ist auch auf dem Spielbrett von Monopoly drauf und jetzt weiß ich auch, wieso. Wenn man sich dort ein Haus oder ein Hotel kauft – bei Monopoly – braucht man schon wirklich dick Scheine.

Nach einem sehr guten österreichischen Mittagessen in der Rathausgasse muss mein Mann zu seinem Termin. Die Frau wird sich selber überlassen, weil sein Termin in der anderen Richtung ist. Aber Hauptplatz, Landstraße, Graben und Herrenstraße (gut, da werde ich wahrscheinlich eher nicht einkaufen gehen), sind jetzt mein Reich! Ganz alleine shoppen gehen hatte ich schon ewig nicht mehr. Das erste Schuhgeschäft erscheint in meinem Blickwinkel. Wenn ich an meine schmerzenden Füße denke, und daran, dass sie sicher angeschwollen sind in meinen Turnschuhen nach dem langen Fußmarsch, verzichte ich auf eine Schuhanprobe. Vermutlich gibt es eh keine italienischen Schönheiten in meiner Größe zu kaufen. Ich habe zwar die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgegeben, nachdem ich seit über neunundzwanzig Jahren keine High Heels mehr (ver)trage, dass ich doch noch einmal an ansehnliche Schuhe komme, aber heute muss es nicht unbedingt sein.

Das Kleidergeschäft betrete ich zwar, aber nach anstrengenden, heißen, stickigen zehn Minuten flüchte ich. Eine plötzliche Hitzewallung hatte meinen Körper erfasst und die Verkäuferin hat mit mitleidigen Blicken von mir Maß, ähm, mich unter die Lupe genommen. Wahrscheinlich stand ich auch noch aus Versehen am Kleiderregal mit den kleinen Größen.

Nun ja. Ich schlendere weiter an der frischen Luft und biege in ein Seitengässchen ein. Dekowaren aus dem Orient und schöne Spruchkarten. Der nette Verkäufer lässt mich in Ruhe schmökern und ich sehe wunderschöne filigrane Armbänder. Bei der Anprobe dieser scheitere ich exorbitant. Für welche Frauenarme sind die wohl gemacht? Für Kinder? Um nicht unhöflich zu sein, kaufe ich dem Herrn an der Theke etwas ab. Spruchkarten. Große Liebe: Spruchkarten.

Wieder auf dem Bürgersteig zieht es mich in die Herrenstraße. Kein Mensch weiß, warum, aber ich hab da irgendwas in einem Schaufenster entdeckt, das mich sehr angesprochen hat. Nein, keine Spruchkarten – aber Sprüche! Sprüche in der Schaufensterdeko. Ich habe vergessen, sie zu fotografieren. Und mein Mann ist ja noch in seinem Termin.
Ein wenig stolz bin ich schon auf mich, ich habe auf Anhieb diese Herrenstraße gefunden. Frau hat gut aufgepasst bei der Stadtführung.
Nachdem ich mit meinem Handy die Sprüche im Schaufenster festgehalten habe (ohne die Preise zu beachten), ruft mein Mann an. Wir vereinbaren ein Treffen in einem Kaffeehaus am Hauptplatz. Ich weiß auch gleich, wie ich da jetzt wieder hinkomme und marschiere los. Kurz bevor ich dieses Café erreiche, erspähe ich einen kleinen feinen Buchladen. Gibt es was Schöneres als einen Buchladen? Ich meine nicht die großen Buchläden von großen Handelsketten, nein, ich meine kleine Buchläden, wo der Buchhändler die Leute mit Namen anspricht und ein Schwätzchen mit den Kunden hält.

Schon beim Betreten des Geschäftes überkommt mich ein angenehm wohliges Gefühl. Das ist fast wie Heimkommen, nur anders. Der Duft in solchen Läden ist unbeschreiblich. Ich kann es mir auch nicht verkneifen, über die Buchrücken zu streichen, als würde ich so die Seele des Buches ertasten können. Gelingt natürlich nicht, aber das ist ein wenig zwanghaft bei mir.
Um den netten Buchhändler, der sich gerade an der Theke mit zwei Kundinnen unterhält, nicht zu enttäuschen, kaufe ich was ein.
Spruchkarten. Er verabschiedet sich äußerst freundlich von mir, als hätte ich ein zehnbändiges Lexikon eingekauft, und wenn ich aus Linz wäre, würde er sicher meinen Namen kennen. Denn ich wäre garantiert Stammkunde.

Mit einer kleinen Einkaufstasche voller Spruchkarten laufe ich meinem Mann über den Weg. Glücklich über meine Shoppingtour, die ich alleine bewältigt habe, ohne mich zu verirren, bestellen wir Eiskaffee. Wir sitzen im Wind am Linzer Hauptplatz und ich freue mich, dass ich mich zum Weltfrauentag selbst beschenkt habe.

Wer braucht schon Schuhe?

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

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Bausündengedicht #1

Das Dach nach immer gleicher Art
Nicht spitz, nicht stumpf, nur schlau verlogen
hat sich nach einer Seite hart
Bis an die Hecke langgezogen

Fast bis zum Boden

Der Grund für diese bauliche Blamage:
Die Garage!

Dem Auto also gilt der Bau
Nachträglich folgen Mann, Kind, Frau

Man möchte diesen Bauherrn hängen
Doch besser wär’s sein Haus zu sprengen!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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BOOMER

Nun hast du jeden Feind besiegt
Deinen Anteil abgekriegt
Deine Frau sitzt neben dir
Und nippt an ihrem warmen Bier

Die Band da vorne lässt dich kalt
Die Nummern sind auch richtig alt
Grade fast so alt wie du
Und man spielt sie immerzu

Du hast noch zehn bis zwanzig Jahr
Wenn dein Entzug erfolgreich war
Es geht dir langsam an den Kragen
Man sollte jeden Arzt verklagen

So hebst du langsam deinen Krug
„Alles Leben ein Betrug!

Nieder mit dem scheiß System!“
Und ich denk: „Ach, wie bequem!“

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Was jetzt ist

Anfangs als Frage gestellt
Dann durch den Ort spaziert
Zum Frühstück Sterbehilfe für den Specht
Dann doch Kaffee.
Varianten im Kopf
Debütanten beim Schopf
Gegen die Scheibe der Terrassentür
Geflogen, gestoppt und blutig im
Schnee. Was jetzt ist.

Dann geh ich nun durch den Ort
Da ist ein Hof des Friedens
Unterm Schneehäubchen sind sie
Alle gleich – kalt, oben wie unten.
Varianten im Kopf
Debütanten beim Schopf
Was jetzt ist.

Von tausend Rückwegen gepackt
Spechtbegräbnis im eignen Garten
Dort drüben, dass er seine Unfallstelle
Nicht sehen muss.
Und jetzt der Kinderspielplatz
Neben „Unseren toten Helden“.
Weitergehen heißt es
Und weiter irgendwie heißen
So geht es. Obwohl die Boote
Beim Strandbad ruhend gestellt und
Mit aufgeriss’nen Mäulern durch
Den Winter hungern und gähnen
Was jetzt ist.

Stephan Tikatsch
blindkohlekopie | Gedichte | S.Tikatsch_2019

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Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 5 – Exit unter dem Seidenbaum

Die Hitzewelle, die uns heimsucht, bis zu 40 Grad Celsius sind angedroht, hat inzwischen sogar die Aufmerksamkeit der Nachrichtensender errungen: Der Sender euronews zeigte Bilder aus verschiedenen Städten am Balkan, aus Sarajewo, Pristina und Belgrad. Überall bot sich das gleiche Szenario, Menschen, die sich gegen die Hitze zu behaupten suchten, Eis schleckten, durch Springbrunnen wateten, sich zufächelten mit allem, was sich auf irgendeine Weise als Fächer benutzen ließ. Die Aufnahmen hätten sie genausogut in Novi Sad drehen können, hier war es nicht anders.

***

Mein Aufenthalt geht langsam zu Ende. Fühlte ich anfangs dieses beständige Unbehagen – eigentlich wollte ich die Reise gar nicht haben –, so mischt sich nun trotzdem das übliche sentimentale Abschiedsweh hinein, das Gefühl, das mich angesichts einer bevorstehenden Abreise zuverlässig beschleicht. Längst hat mich die Stadt wieder in ihren Bann gezogen, was – um ehrlich zu sein – auch zu erwarten war. Dabei bin ich gar nicht so viel herumgekommen dieses Mal, weil man es draußen kaum aushält! Keine stundenlangen Streifzüge durch unbekannte Viertel und Gassen, kein Besuch von alten liebgewonnenen Plätzen. Ich war noch nicht einmal auf der Festung, das war einfach nicht zu packen in dieser Gluthitze. Die fühlt sich an wie Griechenland im Hochsommer, jedoch ohne das Meer. Dafür habe ich viel fotografiert, weitaus mehr als bei früheren Gelegenheiten. Ich bannte die spannenden Gebäude aus den 1930er Jahren auf Bild, die futuristischen Kolosse der Tito-Moderne, die kleinen ebenerdigen Vorstadthäuser mit dem zierlichen, allerdings oft schon arg herabbröckelnden Biedermeierputz, die immer noch ganze Straßenzüge prägen.

***

Zu den Terminen, die noch anstehen, gehört ein Treffen mit der Vojvodine-Wassergesellschaft. Es geht um ein neues Ausstellungsprojekt in Serbien, um die Idee, Skulpturen entlang der Schiffskanäle in der Landschaft aufzustellen, wofür es allerdings die Erlaubnis der Betreiber-Gesellschaft braucht. Eine mögliche  Realisierung ist noch in weiter Ferne, aber wir begeben uns an die genannte Adresse, in ein Hochhaus an der Varadin-Brücke. Was für ein Bau! Man müsste ihn, so wie er ist, unverzüglich unter Denkmalschutz stellen. Nachkriegsmoderne, authentisch Stück für Stück, angefangen im Foyer mit den Bodenfliesen aus Stein, dem großzügigen Treppenhaus, den schweren holzgetäfelten Türen entlang der Korridore, den Beschlägen, Griffen und Klinken. Alles ist auf Hochglanz poliert, gepflegt und konserviert, als wäre die Zeit spurlos am ganzen Gebäude vorbeigegangen.

Wir werden in einen Konferenzraum im vierten Stock gebeten und fühlen uns mit einem Schlag in eine andere Welt versetzt. Was für ein Bild: Der Sitzungssaal ist braun in braun: Holz, Leder, Tapeten und muffige Gardinen. Ein Podest nimmt die Stirnseite ein, daran schließt ein massiver, rundum laufender Konferenztisch. Die Stühle mit der hochaufragenden Lehne sind braun bespannt, dem Podest gegenüber stehen weitere Stuhlreihen, auf der Rückwand hängt eine Landkarte, die genauso alt sein dürfte wie der Raum. Old Yugoslavia, sagt bass erstaunt die junge serbische Kollegin, sie kommt aus einer Generation, die diese Zeit auch nur mehr aus den Filmen kennt. Man erwartet buchstäblich jeden Augenblick den Einzug der Funktionäre, auf dass sie an der Frontseite Platz nehmen und die Tagung irgendeines Zentral-Komitees eröffnen … Stattdessen treffen wir auf eine freundliche Mitarbeiterin und zwei leitenden Angestellte der Wassergesellschaft, es wird ein gutes Gespräch. Aber die Atmosphäre des Raumes hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Später, auf der Straße, werden wir uns darüber ausschütten vor Lachen.

***

Heute ein frischer Wind, das tut gut. Gestern am Nachmittag zog der Himmel zu wie vor dem Regen. Eine ganz eigene Stimmung lag über der Stadt unter dem dunklen bleischweren Himmel. Sogar ein Donnergrollen erhob sich aus der Ferne. Nachts ab und zu ein schwaches Wetterleuchten. Das Gewitter ist indes ausgeblieben. Die Hitze hat ein klein wenig nachgelassen.

Am vorletzten Abend waren wir eingeladen zu einem serbischen Barbecue bei D. So sah ich zum ersten Mal einen Innenhof in einem jener typischen Vorstadthäuser, die vor allem nordöstlich des Zentrums noch sehr häufig sind. Der Hof war geräumig und mit einer Mauer zum Nachbargrundstück abgegrenzt. D.s Nachbarn waren zugegen und mit der Aufstellung ihres neugekauften Pools beschäftigt, während der Gastgeber den Grill anwarf. Es wurde ein gemütlicher Abend. Ein hiesiges Künstlerpaar war eingeladen: Sie erzählte von ihrem Aufenthalt in China, wo sie vor dem Ausbruch der Pandemie Kunst an einer Universität unterrichtet hatte. Aufgetischt wurden Würste, Cevapcici, Koteletts, Gurken und geröstetes Brot. Dazu gab es Bier, Wein und natürlich jede Menge Schnaps, den sie hier Raki nennen. Der ist nicht mit dem türkischen zu verwechseln. Raki bedeutet kein bestimmtes Getränk, sondern ist die Bezeichnung für alles, was sich an Hochprozentigem gerade eignet. Man trinkt ihn vor dem Essen, während des Essens und danach. Die berühmte serbische Gastfreundschaft! Der Gastgeber hat uns angeboten, bei ihm zu übernachten. Wir schafften es, uns von ihm loszueisen. Die Uhr auf dem großen Kirchturm zeigte halb zwei, als ich den Hauptplatz in Richtung meiner Bleibe querte: Für serbische Verhältnisse war das ein angebrochener Abend.

***

Endlich! Ich habe es doch auf die Festung geschafft, unternahm einen rund dreistündigen Spaziergang bei Postkarten-Wetter. Da ich den vorderen Teil der Anlage mittlerweile ganz gut kenne, nahm ich diesmal den rückwärtigen Bereich in Angriff, er wird das Hornwerk genannt. Zwischen den Wällen und Gräben wurde bereits emsig am Aufbau für das berühmte exit-Festival gearbeitet. Von Staunen erfüllt stand ich eine geraume Weile vor einem prachtvollen Mimosen- oder Seidenbaum, der in voller Blüte stand. Was ich da sah, hatte so gar keine Ähnlichkeit mit jenem kümmerlichen kleinen Gewächs zuhause bei mir am Fensterbrett, das zwar den gleichen Namen trägt, aber nur recht bescheiden vor sich hin vegetiert und immer knapp vor dem Verdorren steht. – Ich hatte keine Ahnung! Wusste nichts davon, wie wunderschön solch eine Mimose sein kann.

***

Vormittags war ich am Markt und gegen Abend zum letzten Mal im Supermarkt, wo ich meine sämtlichen Barschaften an Dinaren verschleuderte. Ich hatte noch überraschend viel Geld übrig, mit dem Betrag hätte ich noch mindestens drei „normale Tage“ finanziert. Jetzt heißt es nur noch, das Obst, die Paradeiser und den Schafskäse heil nach Hause bringen. Bald werde ich anfangen zu packen. Ich bin nervös, wie vor jeder Abreise, und dieses Reisefieber ist eine Attitüde, die sich im steigenden Alter nicht mildert, sondern eher zunimmt. Ich werde es langsam angehen. Nach dem ersten Teil will ich mich noch gemütlich für eine Weile auf den Balkon setzten, irgendwann packe ich weiter, ganz wie ich Lust habe. Morgen soll esin aller Frühe losgehen. Ich freue mich auf zuhause.

Ulla Puntschart
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Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 4 – Geschichten vom Montagskind

21. Juni, der längste Tag im Jahr. Hitze und ein leichter Wolkendunst, der keine Abkühlung bringt.

Ich möchte meine Mails checken auf dem Rechner in der Lobby des Hostels, doch das ist ein mühseliges Geschäft. Ich bräuchte einen Moment der Ruhe! Es will nicht sein. Die Gruppe der Jugendlichen vom Wochenende ist abgereist und die nächsten sind schon da, Touristen aus Fernost auf der Durchreise. Ich gebe mir selbst noch Zeit und kehre gegen ein Uhr wieder. Inzwischen ist ein neuer Trubel ausgebrochen und die Chefin des Hostels, eine sehr liebenswerte und immer hilfsbereite Dame, wie ich betonen möchte, hat den Schreibtisch inne, um etwas mit höchster Priorität zu erledigen. Dafür unterhält mich der Typ, der in der Lobby den Aushilfs-Rezeptionisten macht – er ist selbst ein Herbergsgast, jedoch schon seit Monaten im Land, wie er mir gleich erklären wird. Er hat gerade sein Mittagsbier, und wo er sonst immer recht einsilbig und wortkarg ist, sprudelt es auf einmal nur so aus ihm heraus, er redet und redet, während ich darauf warte, dass der Rechner endlich frei wird …

***

Ich habe ein Mail an meinen Mann geschrieben, nachdem ich ihn gestern angerufen, aber am Telefon nicht erwischt habe. Ich möchte einfach nur fragen, wie es zuhause so geht. Wie es steht um D., der musste ins Spital und das ist keine Kleinigkeit. Ich möchte mir nicht ständig den Kopf zerbrechen wegen der Dinge, die während meiner Abwesenheit passieren könnten. Das hilft niemand etwas, nicht meinen Lieben daheim und mir auch nicht. In ein paar Tagen geht es ohnehin wieder auf die Heimreise.

***

Heute ist ein Montag. Habe mir ein T-Shirt zerrissen – und dabei bin ich eh so knapp mit dem G’wand! Wollte ja sparsam sein beim Packen. An Tagen wie diesen passieren seltsame Dinge am laufenden Band. So am Zigarettenkiosk, wo der Kunde vor mir nicht aufhören will, auf die Verkäuferin einzureden, er erzählt ihr etwas, das anscheinend von ungeheurer Wichtigkeit ist, was immer dies sein mag. Sie möchte mich eigentlich schon längst bedienen und den redseligen Senior diskret verabschieden, also winkt sie mich heran, aber ich komme ja nicht nach vorne, weil der Zugang zum Kiosk eben nur auf eine Person zugeschnitten ist. Aus der Distanz funktioniert es nicht, da ich ja auf Englisch mit ihr sprechen muss, um genauer zu erklären, was ich haben will. Dann ist es endlich soweit, ich stehe vor ihr. Nun hebt ein wahres Kreuzverhör an: die Zigarettenmarke, schön und gut. Nun kurz oder lang? Stark, medium oder light? Blau, dunkelblau, hellblau oder weiß? Normalerweise entgehe ich diesen heimtückischen Fragen, indem ich eine leere oder halbleere Schachtel bei mir trage und der Einfachheit halber dasselbe verlange. Nur habe ich heute darauf vergessen, weil eben Montag ist.

Von solcher Natur sind die Dinge, die zuverlässig am ersten Tag der Woche geschehen, nicht erst seit jetzt, sondern ständig, das war immer schon so.

Später wollte ich ein Foto machen. Es ging um das Motiv in einem Schaukasten, in einer der kleinen Fußgängerpassagen, deren von außen verborgenes, jedoch weitverzweigtes Netz im Herzen der Altstadt einen besonderen Reiz auf mich ausübt. In diesem bezaubernden Labyrinth voller winziger Läden, Galerien und bizarrer Winkel bin ich vor einigen Tagen auf ein Sujet gestoßen, das ich unbedingt festhalten wollte. Da hatte ich jedoch die Kamera nicht dabei. Nun aber finde ich den Durchlass nicht mehr, es ist wie verhext! Alle Passageneingänge habe ich schon probiert, der, den ich suchte, war nicht dabei. Ich werde wohl zufällig darüber stolpern müssen.

Solcherart sind meine Montagsgeschichten. Ich möchte nicht sagen, dass größere Pannen oder Katastrophen mit diesem Tag verquickt wären, es geschieht eben nur eine ganze Menge verdrehtes Zeug. Dies wiederum, so meine feste Überzeugung, liegt daran, dass ich ein Montagskind bin. Das Letztere ist eine Tatsache. Ich bin an einem Montag zur Welt gekommen, genau zweieinhalb Stunden nach Mitternacht. Nur knapp habe ich die Gelegenheit zum Sonntagskind verpasst und das zieht sich nun so durch mein ganzes Leben. Die Montage liegen mir einfach nicht! Obwohl, objektiv betrachtet, haben sich auch durchaus gute Dinge ereignet, eine ganze Menge sogar. Meine Matura bestand ich erfolgreich eines Montags, weitere Prüfungen und Abschlüsse an der Universität folgten, ich habe wichtige Termine anstandslos wahr- und Projekte in Angriff genommen, alles an Montagen. Die echten Herausforderungen, so scheint mir, sind nicht berührt vom obligaten Montagskind-Pech. Die Misere ist von einer anderen Natur, sie lauert in den kleinen Alltagsgeschichten. Dinge, die im Grunde genommen recht einfach wären, gestalten sich plötzlich verflixt und vertrackt. So etwa wie das Buch, das in der Bibliothek schon ausgeliehen war, der Bus, der vor der Nase davonfuhr, der Besuch am Amt, der sich als vergeblich erwies, das Telefonat, das ergebnislos verlief. Das sind die Montagsmalheurs, die mich zuverlässig begleiten. Ich habe indes gelernt, sie mit einer gewissen Gelassenheit zu ertragen, denn dienstags sieht die Welt wieder anders aus!

So ist es auch dieses Mal. Mein Mail ist geschrieben, auf die Antwort warte ich noch. Inzwischen geht alles seinen gemächlichen Gang. Ich werde in den folgenden Tagen den amerikanischen Dauergast im Hostel ein Stück besser kennenlernen und wir werden plaudern, unsere Eindrücke austauschen über die Stadt und ihre Eigentümlichkeiten. Fast eine ganze Woche erwartet mich noch, mit viel Freizeit und nur wenigen Terminen, was sich anfühlt wie Urlaub. Ich werde auf dem Weg zum Markt, in den Tiefen der Passagen, schließlich auf den Schaukasten stoßen, nach dem ich so lange vergeblich Ausschau gehalten habe. Und – ach ja, es war der Dienstag, als meine Hose zerriss! Da befand ich mich gerade im Museum und wanderte durch die glücklicherweise fast menschenleeren Ausstellungssäle. Vor einer historischen Landkarte legte ich in Betrachterpose die Arme auf den Rücken, da bemerkte ich die Katastrophe knapp unter dem Hosenboden … Ratsch, fatsch, ein fetter Riss! Nichts mehr zu machen – und wieder ein Kleidungsstück weniger. So viel zu meiner Montagstheorie.

Ulla Puntschart
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Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 3 – Vom Fluss der Zeit

Und ich habe dich wieder, geliebter Balkon! Nachmittags bin ich wieder eingezogen. Der Park ist wunderbar, aber hier ist es besser. Auch das Bett in der Schiffskoje, in der ich für zwei Nächte untergebracht war, war nicht bequem. Als ich heute Morgen aufwachte, tat mir der ganze Rücken weh, denn die Matratze war viel zu weich. Aus den Federn bei Tagesanbruch, irgendwann zwischen vier und fünf, beschloss ich, die Gunst der Stunde zu nutzen und machte mich auf einen Spaziergang. Das war gut so!
Die Frische des unberührten Morgens, sie hielt nicht lange, aber die Zeit reichte aus für einen Besuch von Petrovaradin am anderen Donauufer. Ich inspizierte den Kai, den ich mir bislang immer nur von der gegenüberliegenden Seite aus angesehen hatte. Er war menschenleer, mit Ausnahme der Angler natürlich.

Ich wanderte über eine gepflasterte Promenade und gelangte auf die Höhe der dritten Donaubrücke, die ein kühnes Ingenieurswerk ist in zwei Bögen. Nur ein kleines Stück weiter mündet der Donau-Theiß-Donau-Kanal in den großen Strom. Gegenüber am rechten Ufer wäre flussabwärts noch ein stiller Donau-Arm gelegen.
Was soll ich sagen zur Varadin-Seite? Es wird trist, je weiter man aus dem Zentrum sich hinausbewegt, und die Tristesse liegt daran, dass es wunderschön sein könnte in den Auen, würden sich die Menschen nur etwas mehr um ihre Landschaft kümmern. Dazu muss man wissen: Serbien ist ein Land mit zwei Gesichtern, wo Glanz und Elend, Licht und Schatten, allzeit nah aneinanderliegen.

Am Ende der Kaimauer lag eine kleine Bucht mit einem sandigen Streifen von Badestrand. Dahinter türmten sich eine Menge abenteuerlicher Verschläge und provisorisch gezimmerter Buden. Von irgendwoher spielte laute Musik, das waren wohl Nachtschwärmer, für die der neue Tag noch gar nicht begonnen hatte. Jenseits der Buden erstreckte sich ein Stück Wald, wo sich große uralte Baumstämme aus dem Sandboden recken. Idyllisch, aber mutmaßlich mit derselben Gleichgültigkeit vermüllt und malträtiert wie der vor mir liegende Strandabschnitt.

Ich zog es vor, die mutmaßliche Spätzecher-Lokalität nicht zu passieren. Der weitere Weg um das Unterstadt-Bollwerk erwies sich ebenfalls als Sackgasse. Zuerst querte ich noch einen modernen, sehr schick angelegten Kreisverkehr am Fuße der Brücke. Die nagelneue Schnellstraße war flankiert von Radwegen und einer gepflasterten Fußgängerbahn, eine Tafel am Straßenrand verkündete die Unterstützung des Verkehrsprojekts durch Fördergelder der EU. Das Ganze endete schließlich nach einigen hunderten Metern auf verblüffende Weise im Nichts, ein abrupter Abbruch der Wege wie mit dem Lineal gezogen. Nur mehr die alte holprige Straße blieb übrig und schlängelte sich in die Pampa.

Zurück in der Unterstadt von Petrovaradin hat sich eine Weile ein Hündchen an meine Fersen geheftet, das vermutlich nach ein wenig Unterhaltung begehrte. Schließlich hat es jedoch beschlossen, wieder eigene Wege zu gehen, und von sich aus auf die weitere Begleitung verzichtet.

***

Es tropft von den Hauswänden, das kommt von den Klimaanlagen. Das Kondenswasser bildet Pfützen auf dem Straßenpflaster. Anfangs konnte ich mir die Nässe nicht erklären und dachte an Blumenfreunde, die es mit der Sorgfalt für ihre grünen Schützlinge etwas zu gut gemeint, beim Gießen ein wenig über die Stränge geschlagen hätten. Doch da waren gar keine Blumenkisten an den Hausfassaden! Nach einer Weile habe ich begriffen, es liegt an den Kästen mit den eingebauten Ventilatoren, die den ganzen Tag monoton vor sich hin dröhnen. Aus ihren Schlünden trieft das Wasser heraus. Ich kann mir nicht helfen, mir graust ein wenig davor, mache immer einen Bogen herum und bilde mir ein, dass es müffelt.

Vielleicht liegt es daran, dass auch mein Hostel-Balkon von Zeit zu Zeit von Wassergüssen betroffen ist. Vor einigen Tagen tropfte es aus dem darüber gelegenen Stockwerk herab auf das eiserne Balkon-Geländer, ein Geräusch, das mich schon irrtümlich auf Regen hoffen ließ, als ich es erstmalig aus der dunklen Höhle meines Zimmers heraus vernahm. War aber nur der Tropf. Dann aber wurde das Problem auf eine unerwartete Weise gelöst. Ich beobachtete, wie in der Etage über mir eine Handauftauchte mit einer Plastikflasche, die augenscheinlich gut gefüllt war. Sie schüttete mit einem lauten Platsch das Wasser über die Brüstung, zum Glück jedoch so gekonnt, dass weder die darunterliegende Terrasse von diesem unerwarteten Guss getroffen wurde noch die Wäschestücke auf der Leine. Zwei Mal wurde ich mittlerweile Zeugin solcher Schwälle, die mutmaßlich vom Leeren eines Auffanggefäßes für Kondenswasser herrühren. Immerhin, die Prozedur scheint zu nutzen. Das stete Tropfen hat seitdem aufgehört.

***

Von der Gegenwart lässt sich sagen, sie ist gewärtig.

Die Hingabe der Menschen, sich für ihre Fotos auf den Handys zu inszenieren. Hier in Novi Sad sind sie wahre Meister darin, jeder Schnappschuss besitzt eine vollendete Dramaturgie. Ob ein Grüppchen, das vor den Kulissen der Festungsmauern die perfekte Familie darstellt. Oder die jungen Frauen, die wie professionelle Mannequins vor Brunnen und Denkmälern posieren, als ginge es um die neueste Ausgabe der Vogue. Mit sichtlichem Vergnügen am Knipsen entstehen hier Serien von privaten Fotoshootings. Das Selfie, das Bild. Geschnappt und gepackt ist der Moment, und so wird er stehen für den Rest deiner Zeit! Oder wenigstens so lange du dir die Fotos ansiehst. Du selbst wirst dich freilich von deinem Bild entfremden, Tag für Tag ein kleines Stück. Irgendwann wirst du dich verwundert fragen, ob du das gewesen bist auf diesem Foto, und wer du eigentlich damals warst.

Vielleicht ist es das, was mich gelegentlich schaudern lässt: der Fluss der Zeit. Eben noch da wie selbstverständlich, lässt sich nichts auf Dauer festhalten, wird schon im nächsten Augenblick von dir fortgerissen, driftet ab, und kein Weg führt mehr zurück außer den Bildern aus der Erinnerung, die vage sind und trügerisch. Eine Bootsfahrt, die kein stromauf mehr kennt. Genau so geht es mit unserer Epoche, die bald eine vergangene sein wird. Die Menschen spüren es, sie sagen, die Zeit vergeht so schnell. Sie sagen, das sei der Lauf der Dinge, und so ist es auch. Sie sagen, die Welt ändere sich so rasant.

Wir leben am Sprung einer Zeitenwende und wissen nicht, wohin die Reise geht. – Doch im Moment ist es einfach schön. Das Wasser fließt die Donau hinab, ich kann mich nicht losreißen vom Schauspiel der Fluten. Über mir die Postkartenidylle der Festung im Sonnenuntergang, unter mir die Angler am Kai. Draußen am Strom ziehen die Boote vorbei. Auf den warmen Hafenmauern machen es sich die Leute bequem, sie rauchen und schwatzen. Rundum die heitere Gelassenheit eines lauen Sommerabends.

Ulla Puntschart
https://ulla-puntschart.jimdo.com/

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Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 2 – Parkgeschichten und Promenaden-Mischungen

Dunavski Park liegt zwischen einem breiten, mehrspurigen Boulevard, der gesäumt ist von Kolossalbauten aus der kommunistischen Ära, und einem gemütlichen Altstadtviertel im Norden. Der obere Ausgang mündet in eine kleine Straße mit Cafés und Konditoreien, die Fassaden aus der Zeit der Donaumonarchie sind frisch geputzt und sehen ein wenig aus, als wären sie selbst aus Schlagobers. Zur rechten Hand liegt ein öffentliches Gebäude, vor dem man diverses altes Kriegsgerät zur Schau gestellt hat, und im Anschluss daran befinden sich zwei Museen. Auf einer nahegelegenen Baustelle arbeitet man mit Hochdruck – im Jahr der Kulturhauptstadt, das bereits von 2021 auf 2022 verschoben wurde, will Novi Sad auf Hochglanz poliert sein! Wenigstens dort, wo es die Touristen sehen.

Die Parkanlagen sind wie ausgeschnitten aus einem Bilderbuch des vorvergangenen Jahrhunderts mit großen, gepflegten Blumenrabatten, massiven Holzbänken und schmiedeeisernen Laternenmasten. Vor mir liegt ein Band mit Erzählungen von Thomas Mann, den ich mir als Lektüre von zuhause mitgebracht habe. Ich dachte, der Lesestoff passt zu diesem Ort, vielleicht sogar in die seltsame Zeit, die wir gerade erleben: der leise nachhallende Charme einer vergangenen Welt, die Seuche, Verfall – vielleicht auch der Verweis auf etwas Kommendes, dessen Nahen man spürt, dessen Namen man jedoch noch nicht kennt? Ich vertiefe mich in eine Erzählung und das Wetter an diesem Vormittag beliebt genau so zu sein wie im Text der Geschichte: blauer Himmel mit Wollwattebällchen von Wolken!

Nach einer Weile gleitet mein Blick vom Buch wieder ab und wendet sich der Stadtkulisse vor meinen Augen zu. Es ist ein Ort der Flaneure. Manche kommen mit schweren Taschen beladen vom Markt und gönnen sich einen ruhigen Augenblick in einem Winkel des Parks, ehe sie ihren Weg fortsetzen. Andere machen Halt an einem der kleinen Kioske, die an der Parkecke Eis und gekühlte Getränke verkaufen. Ich sehe Mütter und Omas mit kleinen Kindern. Alte Herren mit sauber gebügelten Hemden setzen sich bedächtig auf eine Bank im Schatten, lesen ihre Zeitung oder verfolgen so wie ich das Schauspiel der Passanten. Die jungen Leute sind natürlich immer am Smartphone und eingewickelt in Kabel und Ohrstecker. Ich meinerseits genieße es, mir die Welt analog anzusehen. Ich lasse mich gerne ein wenig aus der Zeit herausfallen, in jüngster Zeit immer öfter. Bin es allmählich überdrüssig, immerzu den allerneuesten technischen Innovationen hinterherzuhecheln, ich klinke mich aus. Zum Glück komme ich allmählich in ein Alter, wo ich es mir leisten kann, ein wenig vorgestrig zu erscheinen.

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In der Donau
Holst dir kein Corona

Am linken Donauufer, auf der Krone eines gemächlich den Flusslauf begleitenden Damms, verläuft eine breite Promenade mitten im Grün. Sie ist weitläufig und großzügig ausgestattet mit Platz für drei Bahnen, wovon die mittlere gepflastert und mit Bänken möbliert ist, sie gehört den Spaziergängern. Eine schmälere Spur ist für die Läufer reserviert und der dritte Streifen dient als Fahrradweg. Landeinwärts liegen Parks, ein Kinderspielplatz und ein öffentlicher Sportplatz, der mit Trainingsgerät und Fitnessmaschinen bestückt ist. Die Promenade reicht von der Varadin-Brücke bis zum berühmten Strand, der genauso heißt hierzulande und ebenso ausgesprochen wird: der Strand. Die öffentliche städtische Badeanstalt läge mit etwa 45 Gehminuten durchaus in Reichweite. Aber nicht einmal das schaffe ich momentan in der Hitze. Ob ich es vielleicht einmal frühmorgens versuche? Tagsüber dürfte der Badeplatz ohnehin ziemlich überfüllt sein.

Trotzdem bin ich gestern kurz in die Donau gestiegen! Einfach nur, um das Gefühl des Wassers um die Beine zu spüren und den weichen Schlamm unter den Zehen. Eine Illusion von weiter See. Dabei, mehr als ein wenig Plantschen am grünlich-braunen Wasserrand ist ohnehin nicht, denn die Strömung ist sehr stark. Auch die Einheimischen staken nur wenige Schritte in die Fluten hinein. Eine Dame spricht mich an und ich muss ihr gestehen, dass ich der Landessprache nicht mächtig bin. Von wo? Austria. Oh! Sie lacht mir zu und antwortet in der deutschen Redewendung, die hier offenbar durchwegs geläufig ist: Schöne blaue Donau! Es tut gut, die baumbewachsenen Ufer zu sehen. Jenseits der Hafenzone darf es an den Böschungen wuchern, als wäre das Grün sich selbst überlassen, hier wurde nicht zugepflastert und betoniert, wie es bei uns zu Hause so gerne der Fall ist. Der einzige Hinweis auf die regulierende Hand des Menschen sind die pilzartigen Bauwerke aus Beton, die in regenmäßigen Abstanden am Ufer stehen. Über eine Art Zugbrücke vom Damm aus erschlossen, jedoch abgesperrt und verbarrikadiert, schmiegen sich die Türmchen in den Schatten der Bäume. Sie sind von oben bis unten knallbunt bemalt und mit Graffitis besprüht.

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Ein brütend heißer Tag geht in den Abend über. Heute weht ein Wind, das ist besser als in den vergangenen zwei Tagen. Man kann tagsüber kaum etwas unternehmen und nur wenige Minuten nach der Dusche ist man bereits wieder zum Opfer der prallen Hitze geworden. Erst in den Stunden vor Sonnenuntergang wird es wieder erträglicher. Mich hat es wieder in den Dunavski Park verschlagen, zu den lauschigen Bänken im Schatten. Aus meinem schönen Zimmer mit Balkon bin ich vorübergehend ausquartiert worden, zum Glück nur bis morgen. Der Grund ist eine größere Schülergruppe, die übers Wochenende Einzug gehalten hat. Fröhliche Teenager, die dem bevorstehenden Schulschluss entgegenfeiern, haben alles im Hostel in Beschlag genommen.

Mein Ausweichquartier sieht aus wie eine Schiffskoje. Ein enger Schlauch, links und rechts vom Mittelgang je ein schmales, dafür turmhohes Bett, eine Kochnische, ein Schrank und das Bad. Dazu gibt es einen Klapptisch am Fenster, der eingezwängt ist zwischen Kleiderschrank- und Badezimmertür. Abgesehen von der Enge gibt es zwar nichts zu beanstanden. Das Appartement ist nagelneu, blitzsauber und blütenweiß. Es verfügt über Aircondition. Doch das ist nur ein schwacher Ersatz für meinen Balkon, ich vermisse ihn. Im Fernsehen habe ich als einzigen deutschsprachigen Sender RTL erwischt, inklusive Nachrichten im dortigen Teletext. Später spürte ich CNN und BBC News im Wust der Senderlandschaften auf. Ich habe nun erfahren, dass die Hitzewelle nicht nur über den Balkan, sondern über ganz Europa schwappt. An die Gemüsepflänzchen im Garten zuhause versuche ich gar nicht zu denken.

Sei es wie es sei, im Park lässt sich’s aushalten. Ich verschweige es nicht, der Zauber der Stadt verfehlt auch dieses Mal nicht seine Wirkung auf mich! Fühle mich auf eine angenehme Weise in der Fremde heimelig. Der Abend ist die Zeit der Spaziergänger, die ihre Hunde ausführen. Die Leute mögen vor allem die kleinen bis mittelgroßen Tiere, und man sieht ihnen an, dass ein jeder Vierbeiner jemandes Liebling ist. Die Hunde von Novi Sad sind durchwegs hübsche und liebenswürdige Wesen mit großen treuherzigen Augen und seidig gepflegtem Fell. Der Duft, von dem ich sprach, übrigens – er kommt tatsächlich von den Bäumen. Er ist jetzt überall in der Stadt.

Ulla Puntschart
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Mein kleines serbisches Tagebuch: Teil 1 – Kirschen aus Novi Sad

Novi Sad, im Frühsommer 2021

Es ist die Kirschenzeit! Überall in der Stadt wird das Obst zum Verkauf angeboten. Auf der Herfahrt hat man die Bäume gesehen, sie bogen sich schwer und schwarz unter ihrer Last. Außerdem gibt es Erdbeeren, Paradeiser und Paprika. Der Verkäufer auf dem Markt wollte, dass ich einen Bund Knoblauch mitnehme, und vielleicht tue ich das, wenn es wieder zurück nach Hause geht. Aber jetzt bin ich erst einmal angekommen. Der Balkon meines Zimmers geht zum Hinterhof hinaus und ist groß und geräumig. Zwei Eisenstühle und ein Cafétischchen ranken sich verschnörkelt und verspielt im nachgebauten Dekor des Fin de Siècle. Die Bäume vom Nachbargrund spenden angenehmen Schatten und über die Mauern wächst der Efeu. So etwas Feines hatte ich noch nie in meinem Reisequartier!

Nur abends wird es laut, denn die Innenstadtlokale in der Umgebung tun, was sie können: entweder schmalzige Musik oder Fußball. Gestern spielte Frankreich gegen Deutschland. Die Teilnehmer waren unschwer zu erraten an ihren Nationalhymnen. Irgendwann wurden hinter dem Hauptplatz Feuerwerkskörper gezündet, ohne dass ich, immer noch am Balkon sitzend, wusste, wem der Jubel galt. Sehen konnte man die Knaller ebenfalls nicht am bedeckten Nachthimmel. In einem gegenüberliegenden Wohnblock hob ein aufgeschreckter Hund zu bellen an und kläffte sich verzweifelt die Seele aus dem Leib, dann fiel ein Artgenosse ein, irgendwann hatten sich die armen Tiere wieder beruhigt. Im Nachbarhaus läuft ständig ein Generator, der sich anhört wie mein Staubsauger zuhause auf Höchststufe.

Zum Glück sind das Fenster und die Balkontüre lärmdicht. Ich gehe früh zu Bett, stehe früh auf und genieße die Ruhe am Morgen. Aber heute Nacht schlief ich schlecht, ich habe geträumt. Dies ist nicht mein erster Aufenthalt in Novi Sad. Vor fast sieben Jahren kam ich zum ersten Mal in diese schöne Stadt an der Donau, die so in jeglicher Hinsicht an der Donau gelegen ist, und habe mich in diesen Platz verliebt. Inzwischen ist es mein vierter Besuch, aber diesmal ist es anders als sonst. Ich habe einen kleinen Rucksack an Sorgen mit im Gepäck. Nichts worüber ich mich lange ausbreiten möchte, ganz im Gegenteil, ich würde die schweren Gedanken am liebsten verdrängen, möchte sie aus meinem Bewusstsein schieben, so gut es geht. Aber sie sind eben da. Das Nagen und Bohren hat sich eingenistet in meinem Hinterkopf, vor allem nachts, wenn die Gelsen auf Angriffsmodus schalten. Dann ist da noch die Pandemie, die hier scheinbar niemanden kümmert, alle sind recht sorglos auf den ersten Blick, auf den zweiten allerdings sind die Straßen etwas leerer als sonst und die Abende nicht so quirlig. Vorerst einmal.

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Stich, Moskito, Stich!
Brennt und beißt so fürchterlich
Bei-ßen, juk-ken
Kratzen mit den Tatzen
Und wieder so ein neuer Stich!
Ah esbrennt so fürchterlich
Nimm an Spray, sag’n die Leut
Tust ihn rauf
Is a Ruh
San die Muck’n weg wie fix
…nutzt a nix…

***

Ich habe zur Ausstellungseröffnung Geschenke von serbischen Künstlerinnen und Künstlern bekommen. Genauer gesagt, der Ehemann der Malerin O., der perfektes Deutsch spricht, stellte sich mir vor als Marketing-Profi in eigener Sache. Er verkauft selbst gemachte Produkte aus Weihrauch, die er auch in Österreich vertreibt. Ich erhielt ein Stück Seife und eine Dose mit Balsam, beide sind verpackt in hübsche runde Kartonschächtelchen und auf der Packung klebt allerlei Heiliges, denn ein Hauptabnehmer der Produkte ist die serbisch-orthodoxe Kirche. Das macht nichts. Ich mag den aromatischen Duft, wünschte mir nur, der Weihrauch würde ein wenig helfen, die Gelsen zu vertreiben. Was er nicht tut, trotz der vielen erwiesenen therapeutischen Qualitäten des Stoffes. Der zweite Künstler, S. überreichte mir ein kleines Bild, eine Collage mit Ölmalerei kombiniert. Will mir dafür einen schönen Platz ausdenken.

Es ist Abend geworden und Zeit für ein neues Platzkonzert. Die Musik hat sich deutlich verbessert gegenüber dem letzten Mal. Eine Brass-Band spielt populäre Hits und Evergreens im Balkan-Sound, sie spielen gut! Der Anlass des Konzerts ist mir unbekannt. Doch heute Nachmittag war die Haustüre zur Unterkunft abgesperrt, was bisher noch nie der Fall war. Meine kleine Herberge ist nämlich in einem gewöhnlichen Mehrparteienhaus untergebracht. Als ich nun heimkehre vom Einkauf meines ersten serbischen Sendvics, tritt gleichzeitig eine ältere Dame durch die Tür, sie mustert mich misstrauisch und fragt mich etwas, das wohl heißen sollte: Was machen Sie hier? Worauf ich ihr meinen Schlüssel zeige und den Namen des Hostels nenne. Sie entgegnet nichts, steigt langsam und wie mir scheint schon etwas beschwerlich die Treppe hinauf und ich kann ihr ohne Worte ansehen, dass sie sich ärgert über die unzähligen fremden Leute, die hier beständig im Haus ein- und ausgehen. Möglicherweise, so meine Überlegung, besteht ein Zusammenhang zwischen dem abgesperrten Haustor, der argwöhnischen Hausbewohnerin und dem abendlichen Hauptplatz-Event. Ich kann es den Anrainern, die hier tagtäglich leben müssen, nicht verdenken, wenn es ihnen manchmal zu viel wird. Vielleicht gab es schon schlechte Erfahrungen mit unerwünschten Hausbesuchern, wer weiß. Es ist gut möglich.

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Heute Morgen leuchtete in den Bäumen kurz ein Bild auf, eine Eule mit einem altklugen Gesicht. Eine Laune des Zufalls, die Eule ist das Logo meines Hostels. Es war nur ein Spiel der Sonnenstrahlen auf den Blättern, flüchtig und gleich wieder vergangen. Trotzdem, ein schöner Morgengruß! Die Luft ist schwer. Es duftet, seit gestern Abend schon und die ganze Nacht hindurch. Erst dachte ich, jemand aus dem Haus hätte eine Ladung Raumdeo in seine Lüftung gekippt, doch inzwischen frage ich mich, ob da etwas im Baumgürtel aufgeblüht ist, zum Beispiel Jasmin. Ich denke, es könnte Jasmin sein.

 

Ulla Puntschart
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Connected

Der Regen wurde schwächer. Ich nahm meine Kapuze ab und blinzelte zum Himmel. Die Bäume um mich herum boten mir Schutz, nahmen mir aber auch die Sicht nach oben. Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden und ging eine paar Schritte vor auf die Wiese. Die Donau breitete sich vor mir aus. Hier in der Wachau schlängelte sie sich durch die Wein- und Obstbauterrassen der Gegend. Ich befand mich gerade an einer Donaubiegung und überblickte die glitzernde Wasseroberfläche. Die letzten Regentropfen gaben gemeinsam mit der wieder hervortretenden Sonne einen Regenbogen preis, der den Anblick unwirklich erscheinen ließ.

Saftige Grüntöne, wohin das Auge blickte. Das Wasser schimmerte blau-grau, kleine Wellen plätscherten gegen das Flussufer, das sich nur wenige Meter vor mir befand. Alle paar Minuten veränderte sich die Lichtstimmung, während die Sonne stückchenweise hinter dem Horizont verschwand. Diese Farben waren unbeschreiblich! Die Variationen aus Gelb, Orange, Rot, Lila – warme Farben, beruhigend. Diese Erde hat so viele schöne Plätze und Momente zu bieten und ich hatte noch viel zu wenige davon gesehen und erlebt. Ich machte ein Foto, atmete tief ein und genoss den Moment. Der Geruch der Luft, wenn es gerade geregnet hatte, erzeugte eine wohlige Wärme in mir und ließ meine Muskeln entspannen. Mein Blick wanderte über das gegenüberliegende Ufer. Ab und zu ein Häuschen, keine Menschen. Auch auf dieser Seite des Ufers war es ruhig. Ich befand mich in einer Art Waldinsel, recht klein, abseits der Wanderwege und Straßen. Allein. Perfekt.

Seit rund einer Woche war ich zu Fuß von Wien unterwegs Richtung Passau. Die meiste Zeit hielt ich mich an den Donauradweg, aber wenn es mich wegzog, ging ich einfach abseits der Wege und erkundete die Naturlandschaft. Der Plan war grob gesteckt. Ich hatte vier Wochen Zeit, was sehr großzügig kalkuliert war. Die reine Gehzeit hatte ich mit 17 Tagen berechnet, die restlichen Tage wurden eingeschoben, wenn ich ein Plätzchen genauer erkunden oder auch durch eine nahe gelegene Stadt oder Sehenswürdigkeit flanieren wollte. Für die Nacht suchte ich mir Privatzimmer oder schlief unter freiem Himmel, wenn es das Wetter zuließ. Jetzt war ich hier – und jeden Tag aufs Neue fasziniert. Ich, ein eingefleischtes Stadtkind, hatte mich doch wirklich zu Fuß auf den Weg gemacht. Kein Rad, kein Bus, kein Auto. Per pedes. Ein Grinsen machte sich auf meinen Lippen breit, weil ich wieder mal über mich selbst schmunzeln musste. Keine Ahnung, was da in mich gefahren war, aber ich musste einfach raus. Raus aus der Stadt. Raus aus dem Alltag. Allein. Perfekt.

Ich holte meinen Rucksack vom Waldrand. Den Schlafsack warf ich auf die Wiese, mein Reisetagebuch und ein Schokoriegel flogen hinterher. Ich entledigte mich meiner Regenjacke und schlüpfte in den Schlafsack. Die Luft war warm, der Wind blies sachte über das Wasser und die Wiesen. Einen Baumstumpf, der aus dem Boden ragte, benutzte ich als Rückenlehne. Ich nahm mein Reisetagebuch und knabberte an dem Schokoriegel. Langsam fuhr ich mit meinem Zeigefinger die Buchstaben am Buchdeckel nach: Carpe diem! Nutze den Tag! Ich dachte an meine beste Freundin, die mir das Buch vor meiner Abreise geschenkt und sich mit einer Widmung auf der Innenseite verewigt hatte: „Hey Süße! Schreib, was du denkst, was du fühlst und erlebst! Und mach viele Fotos! Hab Spaß und pass auf dich auf – ich hab dich lieb!“ Sie hatte zwar nicht verstanden, warum ich unbedingt solo durch Österreich laufen musste, aber sie akzeptierte es. Ich hatte es auch nicht gut erklären können. Ich musste einfach allein sein. Perfekt.

Ein Geräusch dicht über meinem Kopf ließ mich zusammenzucken. Ich duckte mich, und im nächsten Moment platschte ein großes weißes Etwas auf das Fußende meines Schlafsacks. Der schuldige Vogel flog knapp über mir hinaus auf das Wasser und hatte sich über mir seines verdauten Mittagessens entledigt. „Oh no! Du bist ja ein nettes Kerlchen, hast du keine Manieren?!“, rief ich dem Vogel lachend nach und ließ meine Arme zur Seite fallen. In Wien hätte ich mich fürchterlich geärgert, geekelt und gestresst. Aber jetzt, hier, inmitten der Natur, deren Ruhe ich mit jedem Atemzug mehr und mehr einsog, entkam mir nur ein phlegmatischer Seufzer. Es war ja nichts dabei, warum sollte man sich darüber aufregen? Natur pur, würde man in der Werbung sagen. Gott sei Dank war kein Stadtmensch dabei. Der hätte mir sicher die Ruhe genommen, die ich schon gewonnen hatte. Allein sein. Perfekt.

Ich schälte mich aus dem Schlafsack und ging damit zum Wasser, um den Dreck abzuwaschen. In meinem Rucksack fand ich noch ein paar Taschentücher, die den Rest erledigten. Dann kuschelte ich mich wieder hinein und suchte die nächste leere Seite. Ich überlegte kurz und begann dann zu schreiben: „Es ist kurz nach acht Uhr abends und ich habe es mir hier im Freien am Donauufer gemütlich gemacht. Es ist so wunderschön hier – siehe Beweisfoto mit Regenbogen … Mir glaubt doch sonst keiner, dass es hier wirklich so aussieht! Ich bin jeden Tag mehr überzeugt davon, dass es das Richtige war, diese Tour zu machen. Daran kann nicht mal der inkontinente Vogel was ändern, der mir gerade auf den Schlafsack gekackt hat. Morgen wird brav weiter marschiert, bis mittags sollte es sich schön ausgehen, dass ich zur Burgruine komme. Den restlichen Tag werde ich dann dort die Gegend etwas unsicher machen. Allein. Perfekt.

Ich legte Buch und Stift beiseite und ließ meinen Blick umherwandern. Hinter mir knackte und raschelte es im Geäst, aber das beunruhigte mich überhaupt nicht. Im Gegenteil. Meine Augen erspähten im dämmrigen Abendlicht eine Smaragdeidechse, die aus einem Freiraum zwischen ein paar größeren Steinen hervorkrabbelte und kurz die Lage checkte, bevor sie in der nächsten Lücke wieder verschwand. Ein kurzer, hoher Pfiff ließ mich den Blick auf eine kleine Böschung lenken, die sich ebenfalls nahe am Ufer befand. Nach ein paar Sekunden sah ich Mama Ziesel, die besorgt am Eingang ihres Baus nach ihrem Nachwuchs Ausschau hielt. Ein erneuter Pfiff, und zwei Jung-Ziesel zischten von den Bäumen hinter mir kommend vorbei zur Böschung und verschwanden gemeinsam mit ihrer Mutter im Bau. Betthupferl war angesagt.

Solche Augenblicke genoss ich mit jeder Faser meines Körpers. Das bewusste Wahrnehmen meiner Umgebung, der Natur, von all der Kleinigkeiten, die laufend geschahen, aber nicht gesehen wurden. Ich sah sie jetzt wieder. Oder vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben so richtig. Und es war wunderschön. Eins zu sein mit der Umgebung. Durch den Schlafsack spürte ich die Unebenheiten des Erdbodens, der mir trotz seiner Unregelmäßigkeit die Stabilität gab, die ich brauchte. Ich roch das nasse Holz des Baumstumpfes hinter mir, der mich trotz seiner eigenen Endlichkeit stützte. Ich hörte den Wind, der sanft durch die Blätter der Bäume und über das Wasser glitt und mir trotz seiner Unberechenbarkeit ein Gefühl der Freiheit vermittelte. Rundherum machte das Licht den nächtlichen Schatten Platz und ich starrte auf die Sterne über mir, die immer mehr wurden. Einfach so. Bis ich irgendwann einschlief. Allein. Und doch verbunden. Perfekt.

Verfasst im Juli 2020

Petra Hechenberger

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