Marlboro

Mit meiner Wells’schen Zeitmaschine, mit Hebeln und alles analog, bin ich ins Jahr 1961 zurückgereist. Entschleunigt und idyllisch, wenn man das so sagen kann, zumindest am Land. Da ist nur eine Sache: Jeder raucht. Ich bin Nichtraucher, Exraucher, und ich weiß, wenn ich nicht sofort in Richtung Zukunft reise, werde auch ich wieder rauchen.

Nun bietet mir ein netter Mann eine Marlboro an. Ist gut für die Gesundheit, sagt er, wie auch die damalige Werbung. Wer kann da Nein sagen? Ich jedenfalls nicht.

Der volle Aschenbecher und die zerknüllte Marlboro-Schachtel

Der volle Aschenbecher und die zerknüllte Marlboro-Schachtel

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25036




Wind

Der Wind weht mir ins Gesicht. Er mag warm oder kalt sein, das variiert, aber was besonders ist, ist, dass er mich stets bremst und niemals antreibt. Natürlich könnte ich etwas ganz Einfaches dagegen tun: Ich könnte mich umdrehen. Dann würde der Gegenwind zum Rückenwind werden. Aber das ist keine praktikable Lösung, denn dann läge mein Ziel in der Gegenrichtung und wäre gegenteilig zu meinem jetzigen. Das ist es doch auch, was der Mann, der den Wind schickt, beabsichtigt: mich von meinem Weg abzubringen. „Nein“, rufe ich da, „so leicht mache ich es dir nicht!“ Ich höre den Wind links und rechts, und ich spüre ihn. Ich stemme mich ihm entgegen, gehen kann ich nicht mehr. Ich stehe da und warte, dass er abklingt. „Wir werden sehen, wer den längeren Atem hat“, sage ich zu dem Mann, der den Wind schickt, „du oder ich. Und was ist eigentlich, wenn ich bloß stehenbleibe, ist es dann ein Unentschieden?“ „Nein“, gibt der Mann, der den Wind schickt, zurück. Seine Stimme ist wie der Wind selbst, sie scheint zu fließen. „Dann habe ich gewonnen. Du gewinnst, wenn du das definierte Ende deines Weges erreichst. Aber sieh dich vor, junge Frau, ich bin ein äußerst starker Gegner.“

Es ist doch eine seltsame Gegend hier, überlege ich. Nur der Weg bedeckt mit weißen Kieselsteinen und links und rechts davon Gras und einige Bäume sind vorhanden. Es gibt keine Menschen, keine Menschen, keine Häuser, keine Autos, nur den Mann, der den Wind schickt, mich selbst und eben den Wind. Die Szenerie wirkt, als sei sie nur für mich gemacht, unwirklich, doch für mich ist sie die Realität. Rechts oben sehe ich eine Zeitanzeige, 14:49 Uhr. Eigenartigerweise sehe ich nur die Zeit, aber kein Medium, das sie angibt. Dennoch weiß ich daher, dass ich nicht träume, denn in meinen Träumen gibt es keine Zeit.

Vier Minuten später hat der Wind an Geschwindigkeit zugenommen. Der Mann, der den Wind schickt, hat also noch genug Kraft. Ich dachte, er müsse sich unter den vielen Menschen, die er behelligt, aufteilen, doch wahrscheinlich läuft es derart, dass jeder Mensch sich in seiner eigenen Landschaft befindet, und ebenso ist es nicht nur Wind, der ihn behindert oder antreibt, sondern wahlweise Regen, Schnee, Hagel, Sonnenschein oder Nebel. Der Mann, der den Wind schickt, kann sich daher jeder Person in ihrer Gegend mit voller Aufmerksamkeit und maximaler Kraft widmen, ebenso die Frauen des Regens und des Hagels, die Schneefrau, die Sonnenfrau und die Nebelfrau.

Mittlerweile bläst der Wind so stark, dass ich mich auf den Bauch lege. Nun ist die Angriffsfläche des Windes bei mir gering. So kann ich einige Zeit warten. Aber was ist, wenn ich etwas essen oder trinken muss, Wasser lassen oder meine Notdurft verrichten? Wann habe ich eigentlich das letzte Mal gegessen, getrunken oder war auf dem WC? Es fällt mir nicht ein, ich habe keine Ahnung. Kann es sein, dass in dieser meiner speziellen Landschaft alle meine Körperfunktionen ausgeschaltet sind? Durchaus, antworte ich mir im Geist.

Ich presse meinen Körper also gegen den Boden aus weißen Kieselsteinen und darunter Erde. Ich kann nichts anderes tun, als zu warten. Die Zeit kommt mir lang vor, was sie nicht ist, sie ist nur die Zeit. Mittlerweile ist es 18:32 Uhr. Der Wind hat nichts an seiner Stärke verloren. Bald wird die Nacht hereinbrechen. Ich habe das Gefühl, dass es auch morgen nicht besser sein wird, auch übermorgen nicht, dass ich dem Mann, der den Wind schickt, ausgeliefert bin.

Habe ich etwas zu verlieren? Nein. Deshalb spreche ich ihn an: „Mann, der du den Wind schickst, kannst du nicht in meinen Rücken wehen?“ Sehr bald höre ich seine Stimme, die in den Wind eingebettet ist, in wechselnder Lautstärke: „Liebe Marlene, diesmal bin ich es, der sagt: ,Nein, so leicht mache ich es dir nicht!´ Das Leben ist doch keine Rutsche, die einen ohne Anstrengung ans Ziel führt. Man muss sich sein Glück oder was auch immer verdienen. Das findest du doch sicherlich auch, liebe Marlene, nicht?“ Was soll ich antworten? Ich kann entweder gar nichts sagen oder Ja. Ich sage „Ja.“

„Gut, du bist ja ein verständiges Mädchen“, erwidert nun der Mann, der den Wind schickt. „deshalb will ich dir auch entgegenkommen. Eine Möglichkeit existiert, wie dein Vorankommen viel weniger mühsam sein kann. Kannst du dir vorstellen, welche das ist?“ „Nein, keine Ahnung“, gebe ich zurück. „Indem es mich nicht gibt“, sagt der Mann, der den Wind schickt. „Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich auch die Szenerie ändert, in der du dich befindest. Woraus sich ergibt, dass dein Vorankommen nur theoretisch leichter sein kann. Verstehst du das, Marlene?“ Ich bin doch nicht blöd. „Natürlich verstehe ich das“, sage ich.

„Schön, liebe Marlene, willst du, dass ich mich zurückziehe? Soll ich verschwinden? Überlege deine Antwort gut“, sagt der Mann, der den Wind schickt. „Ja, auf jeden Fall“, entgegne ich schnell, „ich will, dass es dich nicht mehr gibt.“

„Dein Wunsch sei dir erfüllt“, sagt der Mann, der den Wind schickt, und danach nichts mehr.

Jetzt befinde ich mich auf einem Einhandsegelboot mitten im Pazifik. Ich bin auf einer Solotour. Es herrscht absolute Flaute.

Der Mann, der den Wind schickt, hat mich reingelegt.

Viele Heliumballons im Wind beim roten RENAULT dCi 150, von der Seite

Viele Heliumballons im Wind beim roten RENAULT dCi 150, von der Seite

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24187




Welle

Bin eine Welle.
Bin ihr Kamm,
bin ihr Tal.
Ich gleite dahin.
Ich wachse,
ich bäume mich auf.
Ich schlage an den Strand,
verliere mich an Land.

Das Fenster mit dem Plan und der orangen Welle an 20. Januar 2024

Das Fenster mit dem Plan und der orangen Welle an 20. Januar 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24170




Aquarell

Mein Boot legt ab in die Ferne.
Das volle Segel treibt den Rumpf.
Das Ruder bestimmt die Richtung.
Die Küste entfernt sich, verschwindet.
Nur Wasser sehe ich und Luft,
zwei Schattierungen von Blau.
Der nächste Hafen gibt mir Proviant
und vielleicht eine Frau,
aber ich werde nicht bleiben.
Mein Bett liegt über dem Meer.

Die linke Meerjungfrau am gelb-weißen Haus am St. Veiter Ring

Die linke Meerjungfrau am gelb-weißen Haus am St. Veiter Ring

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24161




Juniorchef

Im Sommer 1989 absolvierte ich ein Praktikum in einer kleinen Feuerfestfirma in Gijón, in der Provinz Asturien, an der nordspanischen Atlantikküste. Ich arbeitete meistens im Labor. Am Anfang machte der Juniorchef mit mir eine Führung durch die Werkhalle. Die Firma war wirklich sehr klein, nur eine Handvoll Leute arbeiteten an den Maschinen, nicht mehr als fünfzehn. Zwischendurch sagte der Juniorchef, der Anfang dreißig war und ganz nett, zumindest zu mir: „They hate me.“ Er meinte die Beschäftigten. Üblicherweise sprachen wir spanisch, aber er sagte den Satz auf Englisch, da er annahm, keiner der, „seiner“ Arbeiter würde ihn verstehen.

Nachdem er das gesagt hatte, achtete ich natürlich auf die Leute. Sie sahen wirklich sehr missmutig drein, niemand grüßte, nicht einmal durch ein Kopfnicken. Andererseits stellte der Juniorchef auch keinen Arbeiter vor, sagte zum Beispiel nicht: „Das ist Miguel, er bedient die kleine Doppeldruckpresse.“ Er sprach nur über die Presse. Es kann durchaus sein, dass er manche Namen der Beschäftigten gar nicht kannte.

Drei Jahre später war diese Feuerfestfirma pleite, weil sie viel zu klein war, um kostengünstig produzieren zu können. Der Juniorchef war dann kein Juniorchef mehr, sondern jemand, der durch Beziehungen einen schlechtbezahlten Job als kleiner Angestellter ergattern konnte.

Chefpathologe Bill

Chefpathologe Bill

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24153




kassiopeia.

kassiopeia. ein vogel dessen flügel ich bewohn.
sei mir ein schiff durch den himmel.
küsse die gipfel [schneebenäht] von oben.
ein gleiten durch wolkenköpfe.
der wind umgreift meinen körper im ganzen.
luft schmeckt nach sommer und berührt mir die haut.
bildgeschenke im herzen und seelen auf reisen.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24152




Wahrscheinlichkeiten

7 ist die Zahl, die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit von zwei Würfeln geworfen wird. Sie beträgt 1/6. Dann kommen 6 und 8 mit einer Wahrscheinlichkeit von 5/36. Dann folgen 5 und 9 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/9. Danach kommen 4 und 10 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/12. Danach folgen 3 und 11 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/18. Und schließlich kommen 2 und 12 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/36.

Diese Wahrscheinlichkeiten sollte man im Auge behalten, wenn man um Geld Würfel spielt.

Ein oranger Würfel und zwei pinke Würfel

Ein oranger Würfel und zwei pinke Würfel

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24145




Die Straßenbahn

Du warst so müde, und es ging nimmer fort. Der Tag war noch hell, doch dein Kopf war ganz schwer, und jeder Gedanke drin bewegte sich zäh wie in Gelee. Du legtest dich aufs Bett, und so wie du warst, schliefst du gleich ein.

Du fuhrst in einer Straßenbahn, vor dir Freunde, hinter dir Freunde, du kanntest sie gar nicht im Leben, aber sie mochten dich im Traum, und du sie. Viele Häuser, es ging abwärts, so eng war es, dass Metall kratzte an Wänden. Nicht die Hand aus dem Fenster strecken, dachtest du dir, sonst ist sie ab. Aufwärts wieder, die Straßenbahn fuhr verkehrt, hinten war vorn. War etwas interessant für deine Augen, legtest du Schienen, indem du dir wünschtest, ich wär gern dort, und die Straßenbahn nahm ihre Richtung.

Als du aufwachtest, wolltest du nicht aufstehen, sondern in die Straßenbahn zurück. Doch sie war ohne dich weitergefahren.

Die Straßenbahn der Linie 71 - Börse - nähert sich am Abend des 18. Februar 2023

Die Straßenbahn der Linie 71 – Börse – nähert sich am Abend des 18. Februar 2023

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24125




Die Pollenwolke

Spürst du die Pollenwolke,
die kleine, die feine,
wenn sie sich auf deinem Arm niederlässt?
Kaum gibt es etwas Leichteres.
Dann bist du noch am Leben.

Der Kleine See mit Fichtenpollen im Wasser am 25. April 2020

Der Kleine See mit Fichtenpollen im Wasser am 25. April 2020

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24117




Mein Lanzarote

Feuerberge, Meeresrauschen, Farbenspiele
Kunst und Natur – das ist Lanzarote pur

Krater, Lavafelder, Schlote und Kakteen
Sind allgegenwärtig, schön anzusehn

Wo Vulkanasche auf den Wegen liegt
Der Blick in fabelhaften Wolken verfliegt
Die Fantasie dem Zauber der Natur erliegt

Die Sonne küsst der schwarzen Lavafelder Band
Meereswellen umarmen sanft das Land
In der Ferne schmiegen sich weiße Häuser an des  Vulkanes Rand
Ein Paradies so still und charmant

Von den Montañas del Fuego bis zu César Manriques Kunst
Der ewige Frühling und kristallklares Meer erweisen dem Kleinod ihre Gunst

Vom tanzenden Feuerteufel, der fröhlich ist und lacht
Bis zur Idee von LagOmar – ebenso von Manrique erdacht
Jeder Winkel erzählt eine Geschichte, voller Inbrunst
Von Menschen, Natur und vulkanischer Pracht

Lanzarote, du hast mir viel Freude und Frieden gebracht.

Copyright: Wilfried Ledolter

Copyright: Wilfried Ledolter

Wilfried Ledolter

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24079