Cirrus

Über den Tisch verstreut liegen Fotos. Ich nehme eines nach dem anderen in die Hand und betrachte sie. Schließlich entscheide ich mich für einen Schnappschuss, den meine Tochter wenige Tage bevor sie nach Berlin umgesiedelt ist, gemacht hat. Auf dem Foto sitzt Cirrus, mein wunderschöner Kater, aufrecht auf seinem Lieblingsplatz, der Fensterbank. Er blickt aus smaragdgrüntiefen Augen direkt in die Kamera. Die Abendsonne hinter ihm lässt sein weißes Fell schimmern und glänzen. Ich klebe das Foto auf ein großes Blatt Papier und schreibe darunter sorgfältig seine Vermisstenanzeige, lasse es dann später im Kopierladen vervielfältigen und verbringe den ganzen restlichen Tag damit, die Plakate auf sämtliche Litfaßsäulen, Baumstämme und Mauern meiner Umgebung zu kleben.

­– Zutraulicher weißer Maine-Coon-Kater namens Cirrus seit 5.5. vermisst. Freigänger, sieben Jahre alt, gechipt. Bitte melden Sie sich, wenn Sie ihn gesehen haben! Finderlohn! –

Diese Wortfolge samt meinem Vornamen und meiner Handynummer habe ich nicht nur auf das Papier geschrieben, ich habe sie verinnerlicht, da ich sie an diesem Tag wie ein Mantra ständig lautlos wiederholt habe.

Cirrus’ Verschwinden ist ein zusätzliches Glied meiner Unglückskette, die sich, chronologisch aufgezählt, aus Folgendem zusammensetzt: meine Scheidung nach beinahe drei Jahrzehnten Ehe. Meine Pensionierung nach über vierzig Jahren Büro. Der Tod meiner Eltern, die kurz hintereinander an Krebs starben. Der Auszug meiner Tochter in ihre Berliner WG. Der Abschied von meiner einzigen Freundin, die nun mit ihrem neuen Lebensgefährten in Neuseeland lebt. – Dies alles geschieht innerhalb von elf Monaten, eine Zeitstrecke, in der mich zunehmend das Gefühl beschleicht, dass dicht über mir eine dunkle, bedrohliche Wolke hängt, eine düstere Wolke, die mich überallhin begleitet, eine Wolke, die immer tiefer zu mir sinkt, immer schwerer auf mir lastet.

Es melden sich fünf Menschen, die Cirrus gesehen haben wollen. Vier der Anrufe stellen sich als Fehlanzeige heraus. Der fünfte Anruf aber bringt Gewissheit. Cirrus, mein wundervoller, geliebter Kater, ist überfahren worden. Wie versteinert stehe ich vor dem reglosen, kleinen Körper, der im Straßengraben neben der Landstraße liegt. Das junge Mädchen, das mich angerufen hat, meint mitleidig: „Da hilft nur eines, glauben Sie mir, eine neue Katze …“, und verstummt, als ich den Kopf schüttle.

Nein, das kommt für mich nicht in Frage. Cirrus, der mir seit sieben Jahren jeden einzelnen Tag durch seine sanfte, weiche Anwesenheit verschönt hat, ist nicht ersetzbar. Die schwere Wolke über mir senkt sich mehr und mehr, droht mich zu erdrücken. Es gibt nun Tage, da schaffe ich es nicht, unter ihrer Last aufzustehen. In dem Zustand, in dem ich mich nun befinde und aus dem ich nicht herausfinde, ergibt nichts mehr Sinn für mich. Ich isoliere mich, gehe kaum mehr außer Haus.

Es ist ein Sonntagvormittag, als mein Handy klingelt. Abgesehen von den Freitagabenden, an denen meine Tochter anzurufen pflegt, ist das Klingeln des Handys inzwischen ein äußerst seltenes Geräusch geworden. Unbekannte Nummer, blinkt es am Display. Ich habe nicht vor, den Anruf anzunehmen. Es läutet jedoch dreimal hintereinander, sodass ich schließlich doch widerwillig annehme. Eine freundliche Frauenstimme antwortet auf mein etwas Schroffes:
„Ja, Anja spricht. Wer ist denn da?“

„Guten Tag, mein Name ist Carmen. Ich rufe wegen des Plakates an.“

„Das ist längst hinfällig, danke, mein Kater ist gefunden worden“, will ich mich rasch verabschieden.

„Nein, nein, bitte warten Sie, Anja“, sagt sie. „Es geht um etwas anderes. Eine Frage, ist das Ihre Schrift auf dem Plakat?“

„Ja“, antworte ich irritiert. „Aber ich verstehe nicht, warum wollen Sie das wissen?“
„Ich bin Grafologin. Und, kurz gesagt, ich finde Ihr Schriftbild sehr interessant. Darum habe ich gedacht, ich rufe Sie einfach mal an und frage Sie, ob Sie vielleicht Zeit für ein Treffen haben. Ich würde nämlich zu gerne persönlich mit Ihnen besprechen, was an Ihrer Schrift so bemerkenswert ist.“

Überrumpelt schweige ich einen Moment und überlege. Die Stimme der Anruferin ist freundlich und angenehm, sie ist mühelos durch die dunkle Wolke zu mir durchgedrungen.
„Zeit hätte ich schon“, sage ich zögernd. „Und neugierig haben Sie mich auch gemacht. Es ist nur so, ich befinde mich derzeit in keiner guten Verfassung.“

„Ja, das kann ich verstehen“, sagt sie ruhig. „Ich würde mich dennoch sehr über ein Treffen freuen.“

Ich hole tief Atem und sage – mich damit selbst überraschend – einem Treffen zu.
Zwei Tage später sitzen wir uns tatsächlich in einem Gastgarten gegenüber. Wir trinken Weißwein. Carmen ist so, wie ihre Stimme am Telefon auf mich gewirkt hat: ein zugewandter, freundlicher Mensch. Sie bemüht sich, mir mein Schriftbild zu erklären, und ich höre zu und versuche, zu verstehen. Ich höre grafologische Ausdrücke wie Girlanden, Schlingen, Arkaden, finde diese komplexe Welt der Schrift interessant, fühle mich aber etwas überfordert. Auch erschließt sich mir nicht wirklich, was denn nun der eigentliche Grund von Carmens Anruf war.

Carmen meint, dass meine Girlanden den ihren ähneln, und dass sie eine Übereinstimmung in unserer Lebensanschauung vermute. Sie legt ein von ihr vollgeschriebenes A4-Blatt neben mein Cirrus-Plakat, das sie von einem Baumstamm genommen hatte. Ich entdecke allerdings keine Spur von Ähnlichkeit unserer Handschriften und schüttle ratlos den Kopf, was Carmen zum Lachen bringt. Sie lacht so herzlich, dass ich mitlachen muss.

Den wesentlichen Punkt für Carmens Anruf erfahre ich nicht bei diesem ersten, sondern bei einem unserer nächsten Treffen: Als sie meine Vermisstenanzeige beim Spazierengehen gesehen hat, ist sie erschrocken über die großen, die viel zu großen Abstände zwischen meinen Wörtern, sie erkannte in diesen mich gefährdende Abgründe der Isolation.

Als mir klar wird, dass sie mich angerufen hat, weil sie sich um mich sorgte, bin ich berührt von der Tatsache, dass sich ein Mensch über eine ihm völlig fremde Person Gedanken macht.
Bei diesem ersten Treffen aber streift Carmen dieses Thema nur kurz. Sie bemerkt natürlich, wie schlecht es mir geht, sieht meine Hände zittern, spürt meine Anspannung.

„Wie kam es eigentlich zu dem Namen Cirrus?“, fragt sie bei einem zweiten Glas Weißwein. „Das hatte doch bestimmt seinen Grund.“

„Ja“, antworte ich nach kurzem Zögern, „mein Kater kam zu seinem Namen, weil mich sein Fell, sein seidiges, weißes Fell, an Federwolken, an Cirrus-Wolken eben, denken ließ.“

„Cirrus-Wolken“, wiederholt Carmen. „Federwolken. Schön klingt das.“

Sie lächelt mich ermutigend an, berührt mich kurz am Oberarm, und sagt dann leise:
„Erzähle mir bitte, erzähle mir von dir.“

Und während mir noch die Frage auf der Zunge liegt: ‚Aber, was denn – was soll ich denn von mir erzählen?‘, steigen plötzlich Erinnerungen in mir hoch, Bilder von früher, an die ich lange Zeit nicht gedacht habe, und ich beginne tatsächlich zu erzählen.

„Ich denke gerade daran“, sage ich, „dass ich als Kind am liebsten stundenlang auf der Wiese lag und in den Himmel zu den Wolken sah. Wolken faszinierten mich. Irgendwann sah ich zufällig in einer Ausstellung Ölbilder und Aquarelle eines Wolkenmalers. Es waren beeindruckende Werke. Ich war derart begeistert davon, dass ich ebenfalls Wolken malen wollte. Tatsächlich bin ich in meiner Jugendzeit sehr oft mit meiner Staffelei auf einer Anhöhe, im Garten, auf einer Wiese gesessen und habe unzählige Wolkenbilder gemalt …“
„Das ist es“, nickt Carmen zufrieden. „Ich wusste es. Es ist in deiner Schrift sichtbar: Du trägst eine starke Leidenschaft in dir, so wie auch ich, du für das Wolkenmalen, ich für die Grafologie.“

„Na ja, ehrlich gesagt, war das wohl früher bei mir der Fall, aber das liegt lange zurück. Das letzte Bild, das ich gemalt habe – ich weiß nicht mehr, wann das war, bestimmt vor der Geburt meiner Tochter.“

„Oh, wie schade!“ Carmen schaut mich betroffen an. „Das muss dir doch schrecklich fehlen. Was ist passiert, dass du damit aufgehört hast?“

Ich zucke die Schultern, denke nach. „So genau kann ich das nicht sagen, es gab keinen bestimmten Auslöser. Ich hatte wohl keine Zeit mehr dafür, hatte anderes, hatte viel zu tun. Meine Familie, die Arbeit. Vielleicht war ein weiterer Grund, dass das Wolkenmalen schon vor Jahrzehnten etwas Veraltetes war, nichts, was andere interessierte. Es fand keine sonderliche Beachtung. Tja, niemand malte Wolken. Niemand außer mir.“

„So ähnlich ist es auch mit der Grafologie. Früher bekam ich viele Aufträge, doch das hat sich mit den Jahren geändert. Ich hoffe, dass die Schriftenkunde nicht völlig ausstirbt. Das wäre traurig, ist sie doch ein Spiegelbild unseres Selbst. Mich persönlich wird sie immer beschäftigen. Das macht mir unglaublich viel Freude.“

Carmen sieht mich an.

„Denkst du daran, wieder mit dem Malen zu beginnen?“

„Ach, das habe ich bestimmt verlernt, befürchte ich“, weiche ich aus.

„Dann erlerne es doch wieder. Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig. Mache dir doch dieses Geschenk.“

Ich schweige.

„Jeder Mensch, der das Glück hat, seine Passion gefunden zu haben, sollte diese ausüben, wenn es möglich ist. Findest du nicht auch, Anja? Was man liebt, das soll man tun.“

Sie sieht mich an, sieht meine Betroffenheit, wechselt feinfühlig das Thema.

Als ich eine Stunde später nach Hause gehe, spüre ich so etwas wie Zuversicht in mir, und ich freue mich darüber, dass Carmen und ich bereits ein weiteres Treffen vereinbart haben. Die dunkle Wolke über mir erscheint mir weniger düster, weniger schwer. Die nächsten Tage fühle ich mich unruhig, ich gehe viel spazieren. An einem sonnigen Nachmittag lege ich mich auf eine Decke in eine Wiese, sehe nach oben in den Himmel zu den Wolken.

Am Morgen darauf stelle ich meine Staffelei im Wohnzimmer auf. Ich öffne sperrangelweit das große Fenster, rücke die Staffelei davor, mische die Farben, hole tief Atem und sehe hinaus, zum Himmel empor. Ich konzentriere mich und beginne damit, den Himmelsausschnitt, den ich sehe, auf die Leinwand zu malen. Schon bei den ersten Pinselstrichen fühle ich mich wunderbar lebendig – und ich bin bestürzt darüber, so lange Zeit auf das Malen verzichtet zu haben. Nicht alles gelingt mir so, wie ich es gerne haben will, aber ich denke an Carmens Worte: ‚Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig.‘

Ich strenge mich an, bin mal unzufrieden, dann wieder einverstanden mit dem, was entsteht: ein Wolkenbild, das ich Carmen schenken werde, mein erstes Wolkenbild seit Jahrzehnten.
Ich schließe kurz die Augen, und spüre, dass eindeutig keine schwere, dunkle Wolke mehr über mir ist. Und als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich weiße Wölkchen, Cirrus-Wolken, auf meiner Leinwand und am Himmel dahinter schweben.

Claudia Dvoracek-Iby

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Es fühlt sich richtig an

Plötzlich ist es still im Zimmer. Ich sehe von meiner Zeichnung auf, sehe dich ruhig in deinem Lieblingseck des Sofas sitzen, dein Oberkörper aufrecht, die Beine angezogen, in der Hand die Fernbedienung. Du hast den Fernseher auf lautlos geschaltet. Auf dem Bildschirm bewegen sich die Schauspieler in ihren Rollen, öffnen und schließen ihre Münder, fischähnlich.

„Ich möchte dich etwas fragen“, sagst du leise, „etwas Wichtiges.“

Du siehst mich nun an, deine Augen glänzen, du streichst eine Haarsträhne aus der Stirn. Ein heller Schimmer liegt auf deinem Gesicht, deinem Haar. Du strahlst eine derartige Intensität aus, dass ich nicht anders kann, als in das Fach unter dem Couchtisch und zu jenem Zeichenblock zu greifen, in welchem sich ausschließlich Skizzen von dir befinden, schiebe den anderen Block beiseite, schlage rasch deinen, den Lena-Block, auf und beginne dich zu skizzieren. Augenbrauen, Nase, Augenlider …

„Nein, nicht jetzt, bitte, lege es weg“, sagst du, und verwundert lasse ich den Bleistift sinken. Noch nie hat dich gestört, dass ich zeichne, während wir miteinander reden. So hast du mich kennengelernt, vor gut einem Jahr, in der Bibliothek: zeichnend, hast dich unter anderem auch deswegen in mich verliebt, so sagtest du mir Wochen später. Ja, es gehört zu mir, ich zeichne, wenn möglich, immer und überall, ob zuhause oder unterwegs, immer.

„Was ist, Lena? Nun sag doch, was willst du mich fragen?“

„Ja, also, wen hast du vorhin im Park gesehen?“

„Vorhin im Park? Ich verstehe nicht, wir haben doch die selbe Person gesehen, die alte Frau unter der Straßenlampe. Hier!“

Ich halte dir den Skizzenblock hin, nicht den Lena-Block, sondern den anderen, in welchen ich sogleich, nachdem wir nach Hause gekommen waren, das im Park Gesehene zu übertragen begonnen habe.

Auf dem ersten Blatt die Skizzierung einer alten Frau, unter dem Licht einer Straßenlampe stehend, und von uns beiden, die wir vom Parkeingang aus auf die Frau zukommen, diskutierend, beinahe streitend.

Wir debattierten über Jasmin und Ben, bei denen wir zuvor zu Besuch gewesen sind, und die sich in letzter Zeit, insbesondere seit der Geburt ihres Babys, so sehr verändert haben. Konservativ, klein-denkend sind sie geworden, Ben sowieso, aber auch Jasmin, meine Schwester, die ich doch von Kindheit an als Freigeist kenne. Aber diese Jasmin ist nicht mehr vorhanden, kreative Arbeit kein Thema mehr für sie, sie geht nun voll und ganz in ihrer Mutterrolle auf. Von Kinderpädagogik spricht sie nun, von Mutter-Kind-Gruppen, kein Wort mehr von ihren künstlerischen Projekten.

Mein Bleistift flog in ihrer überheizten Wohnung über gut dutzend Blätter, ich zeichnete und zeichnete: das Dauerlächeln, mit dem Ben und Jasmin ihr Kind bedachten, die Plüschtiere, die Spielsachen, die stillende Jasmin, Bens Doppelkinn, das lächelnde, das schreiende, das schlafende Baby. Und dich, wie du dies alles wohlwollend betrachtest. „Ich freue mich sehr für euch“, hast du mehrmals beteuert.

„Sie ist glücklich, sie liebt ihr neues Leben“, hast du Jasmin auf dem Nachhauseweg verteidigt und den Kopf geschüttelt, als ich meinte, wie unecht, wie gespielt alles auf mich gewirkt hat.

„Nur, weil Jasmin sich verändert hat, nur, weil du einen anderen Lebensentwurf, eine andere Einstellung hast, gibt dir das nicht das Recht, andere Lebensweisen geringer zu schätzen“, hast du gesagt.

Als wir dann die alte Frau unter der Straßenlaterne sahen, hörten wir zu diskutieren auf. Zu unwirklich wirkte die Szene. Die Frau stand unter dem Lichtkegel wie unter einem Spotlight, weißes leuchtendes Haar, gut gekleidet, charismatisch. Die Arme hochgeworfen, deklamierte sie mit lauter, melodischer Stimme Shakespeare. Doch etwas war irritierend an ihrer Haltung, an ihren Bewegungen, und dieser Eindruck verstärkte sich beim Näherkommen.

Du blätterst um, und du und ich betrachten meine zweite Skizze. Sie zeigt deutlich ein Flackern im Blick der Frau, etwas Unstetes, Verwirrtes. Ihr seltsam abwesender, beinahe versteinerter Gesichtsausdruck passt nicht zu ihrer theatralischen Gestik.

Die nächsten Skizzen zeigen eine desorientierte alte Frau, fern jeder Realität, eine, die ein Straßenlicht mit einem Scheinwerfer verwechselt, die einen Gehsteig zu ihrer Bühne erklärt. Um ihre gesamte Erscheinung ein Schleier von Verlorenheit.

Du siehst dir alle Skizzen an.

„Und ihren Begleiter?“, fragst du dann leise. „Ihn hast du nicht gezeichnet?“

„Ihren Begleiter?“

Ich denke nach. Ja, da war noch jemand. Ein alter Mann. Ich habe seine leise Stimme hinter mir gehört. Du hast mit ihm geredet, minutenlang oder auch länger, ich weiß es nicht, war ausschließlich damit beschäftigt, mir jedes Detail dieser faszinierenden alten Frau einzuprägen, sie innerlich zu fotografieren, wie du es nennst.

„Du hast ihn gar nicht wahrgenommen. Du hast ihn gar nicht angesehen“, sagst du, deine Stimme klingt traurig.

Du stehst abrupt auf, gehst unruhig im Zimmer auf und ab, barfuß.

„Ihr Mann, er hat mir viel erzählt. In der Art und Weise, wie alte Menschen mit einem reden, so, als ob sie dich schon ewig kennen würden. Er hat erzählt, dass sie seit Jahrzehnten ein Paar seien, dass sie früher tatsächlich Schauspielerin gewesen sei und nichts auf der Welt ihr so wichtig wäre wie die Schauspielerei, auch jetzt noch, trotz ihrer Demenz. Und für ihn, so hat er gesagt, gäbe es nichts Wichtigeres als sie. Er höre und sehe ihr so gerne zu. Früher, als sie auf der Bühne spielte, und heute, wenn sie eben manchmal unter Straßenlampen deklamiere.“

Du klatschst plötzlich in die Hände.

„Ach“, rufst du laut, „was er nicht alles gesagt hat! Er sagte: Es gibt Menschen, die haben sich einer Sache verschrieben, mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, und das darf man ihnen nie nehmen. Er sagte: Mit manchen dieser Menschen kann man unbeschadet leben, aber es gibt welche, von denen sollte man lieber lassen, wenn man sich selbst, wenn man sein eigenes Leben liebt.“

Ich habe längst wieder einen Bleistift in der Hand, um dich auf Papier einzufangen, deine Art, auch mit den Händen zu sprechen, die Schultern ein wenig hochzuziehen, den lebhaften, dann wieder nachdenklichen Ausdruck in deinem Gesicht, das Leuchten in deinen Augen.

„Er sagte: Ich liebe sie. Es fühlt sich richtig an, mit ihr, auch jetzt, in ihrem Zustand. Denselben Satz hat auch deine Schwester gesagt, als sie ihr Baby hielt: Es fühlt sich richtig an.“

Du bleibst vor mir stehen, wirfst einen kurzen Blick auf meine Zeichnung, siehst dann mich an. Du lächelst.

Ich zeichne dein Lächeln.

„Ach du“, sagst du zärtlich, „wie lange wartest du schon insgeheim darauf, dass ich aufhöre zu reden, dass ich dich allein lasse, damit du beginnen kannst, deine Skizzen auf die Leinwand zu übertragen?“

„Lena, du kennst mich doch. Du weißt ja, dass ich nur malen kann, wenn ich ungestört, wenn ich allein bin.“

„Ja, natürlich“, sagst du. „Ich kenne dich.“

Du küsst mich, gehst aus dem Zimmer, schließt leise die Tür.

Ich nehme meinen Skizzenblock, den mit der alten Frau im Park, gehe damit auf die Mansarde, zu meiner Staffelei, zu meinen Farben, in meine Welt.

Am nächsten Morgen bist du nicht mehr da.

Als ich spätabends von der Galerie nach Hause komme, sind alle deine Sachen weg, Kleidung, Laptop, Bücher. Auf dem Holztisch in der Küche liegt ein neuer Skizzenblock. Daneben eine weiße Leinwand, im für mich passenden Format, und, liebevoll arrangiert, Acrylfarben, Kohlestifte, Bleistifte, jene, die ich am liebsten verwende. Du kennst mich.

Du hast mir keinen Brief, keine Nachricht hinterlassen.

Ich schlage den neuen Block auf und beginne zu zeichnen. Ich skizziere deine Abwesenheit. Dein unbenutztes Lieblingssofaeck, das Bücherregal, in dem deine Bücher fehlen, die Wand ohne deine Fotocollagen, das leere Schuhregal. Ich zeichne dein Gesicht, den Glanz in deinen Augen, deine Hand, die eine Haarsträhne aus der Stirn streicht, zeichne dich, barfüßig durch das Zimmer schreitend.

Später, im Mansardenzimmer, male ich dich auf dem Sofa sitzend, deine angewinkelten Beine, deinen aufrechten Oberkörper. Es gelingt mir, den Schimmer deiner Haut, deines Haars wiederzugeben. Von der Leinwand aus siehst du mir direkt in die Augen.

Es fühlt sich richtig an.

Claudia Dvoracek-Iby

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Majestät

„Hier sollen meine Kinder stehen, ich meine ihre Bilder“, sagt König Charles III. zum Chefdekorateur des Buckingham Palace. „Da meine Mutter und dahinter mein Vater, dort meine Enkel, dann natürlich meine liebe Camilla, und hier stehe ich, wo ich meinen Besuch begrüße. Verstehen Sie?“ „Ja, Majestät, natürlich“, sagt der Chefdekorateur des Buckingham Palace. „Wie Sie es wollen, wird es gemacht werden.“

Die Nonne, das Paar in viel Gold gewandet und der verrückte König im Hof des Palais Ehrfeld am 6. Juli 2022

Die Nonne, das Paar in viel Gold gewandet und der verrückte König im Hof des Palais Ehrfeld am 6. Juli 2022

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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Malermeister Herbst

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle, mein Name ist Herbst,
Malermeister Herbst!
Die Natur hat mir die Aufgabe zugeteilt, die Blätter der Bäume und
Sträucher zu färben.
Meine Gehilfin ist die Sonne, die mir mit ihren schwächer werdenden
Strahlen hilft, die einzigartigsten Farben in einem wahren Farbenrausch
auf die Blätter zu bringen.

Von hellem Braun über zahlreiche Schattierungen und Tönungen bis zum
Rotgold und Blutrot – um das mich die Ahornblätter immer anbetteln –
reicht meine Farbpalette.
Nicht nur Laubbäume sind meine zufriedenen Kunden, sondern auch einem
Nadelbaum – der Lärche – färbe ich die Nadeln von Hellgelb bis zu einem
glänzenden satten Goldgelb.
Menschen zu erfreuen, die in der Lage sind, mir bei dem langsamen
Schauspiel des Färbens zuzusehen, zählt zu meinen Aufgaben und bereitet
mir große Freude!

Sie genießen es, wie ich meine Farben mit viel Erfahrung auf der Palette
zusammenmische und meine Pinsel von Tag zu Tag anders schwinge, um neue
Farbraffinessen zu schaffen.
Ich beobachte sie auch, wie sie von Erstaunen ergriffen durch die Wälder
wandern, um die bunte Blätterpracht, die teilweise schon am Boden liegt,
zu bewundern und zu fotografieren.

Die einzigartigen Ergebnisse meiner unermüdlichen Arbeit sind in meinen
Galerien – den Wäldern – noch eine Zeit lang zu bewundern, bevor meine
Freunde – der Wind und der Regen – sie von den Bäumen holen werden.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie in Scharen meine Galerien besuchen,
um meine Kunstwerke zu bestaunen.
Es gibt keine geregelten Öffnungszeiten und der Eintritt ist frei!

Ihr Malermeister Buntherbst

Copyright: Wilfried Ledolter

Copyright: Wilfried Ledolter

Wilfried Ledolter (Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 23154




Augenblick

Öffne deine Augen, meine Liebe,
und schenk mir einen Augenblick.

Das Graffitoauge

Das Graffitoauge

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 23163




Die Spiegelfrau

Über die Schneiderpuppe aus Spiegelfolie von Friedrich J. Tragauer.

Die Spiegelfrau, die zerschnittene und mit roten Faden wieder vernähte. Die sich dir nicht zeigt, doch du sieht dich selbst in ihr.

Sie kann dir nichts erzählen, weil sie keinen Mund hat. Sie kann dich nicht angreifen, weil sie keine Hände hat. Aber du kannst ihr alles erzählen, was du willst. Sie lauscht deinen Worten wie die Gläubige dem Priester. Zumindest könnte es so sein.

Spiegelfrau

Spiegelfrau

Johannes Tosin
(Text und Foto)

anlässlich: Literaturfrühstück des Kärntner SchriftstellerInnenverbandes
am 15. Juli 2023 im Künstlerhaus Klagenfurt
zur Ausstellung „Schwarz-Weiß – Dialoge zwischen Linie und Raum“,
moderiert von Gabriele Russwurm-Biro

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 24023




Allen-esk

Vor Jahren sah ich in einer Studierendenkneipe eine Ausstellung eines Hobbymalers. Die durch und durch wenig gelungenen Bilder sollten Anarchist*innen abbilden. Ich blieb vor einem Bild, das einen Mann mit einer großen Brille zeigte, stehen und fragte: „Ist das Woody Allen?“ Der danebenstehende Maler rümpfte pikiert die Nase.

Nach längerer Betrachtung komme ich zu dem Schluss, dass eine solche Situation im Sinne des genannten Schauspielers gewesen wäre und ganz gut in einen seiner Filme passte.

 

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n| Inventarnummer: 23094




Ins Lichtspieltheater

„Ins Lichtspieltheater,
ich mit Ihnen, heute,
tja, warum eigentlich nicht?

Hab ich denn etwas zu verlieren außer meinen guten Ruf?
Nein, nein, ich denke doch nicht.
Soll ein Mädchen bei Ihnen nicht den Fuß von der Bremse nehmen
und stattdessen das Gaspedal voll durchdrücken?“

Der Film Genesis

Der Film Genesis

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 22041

 




Bioskop

„Hast du eine lieblingsschauspielerin?“, fragte ich und damals hätte ich noch nicht wissen können, dass alles, was ich bisher über zwischenmenschliches wusste, aus ebenjenen filmen entstammte, die ich spätabends nach meiner arbeit im kino angesehen habe. Und die traumfabrik. Wo träume hergestellt wurden  (träume sind schäume) und doch: als sechzehnjähriger hat das alles noch ein versprechen. Und du wolltest genauso leben, mit diesen lockeren sprüchen, mit diesen kameraeinstellungen und schnitten. Und du wolltest etwas erleben, im auto entlang an der costa del sol oder so ähnlich, in der hand eine zigarette. Und du wolltest lieben, so leidenschaftlich (woher wusstest du eigentlich, was das war …?) und erfahren, wie das geht, das schöne leben, oder das schönere, vielleicht. Und als du diese filme zuerst sahst, warst du ergriffen und erst jahre später, als du sie wieder sahst, wurde dir klar, worum es überhaupt ging. Und als dein späteres ich in diesen roten klappsesseln versank (kannst du mal die klappe halten …?) mit getränk und snacks und diese hundertundnochwas minuten, die alleine dir gehörten. (warum gab es im theater, in der oper kein popcorn …?). Versunken im abendhimmel danach, mit sich allein …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n| Inventarnummer: 22017




Seerosenfrau

Wie ist dein Himmel,
Seerosenfrau,
wie ist dein Gras, wie ist dein Wasser?

Ich bin die Wolke,
aus der Regen fällt, der dich trifft.
Ich ziehe weiter, doch du bleibst am selben Ort.

Der Ausschnitt des Gemäldes EINE ROSE IST EINE ROSE von Brigitte Kranz auf dem Smartphone, fotografiert von Johannes Tosin

Der Ausschnitt des Gemäldes EINE ROSE IST EINE ROSE von Brigitte Kranz auf dem Smartphone, fotografiert von Johannes Tosin

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 22001